Unter Der Sommersonne. Manu Bodin

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Unter Der Sommersonne - Manu Bodin


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sehr vertrauenserweckend aus, aber im Inneren war es sehr edel. Sogar etwas zu edel… Franck war klar, dass die Rechnung gesalzen sein würde. Egal! Die Frau in seiner Begleitung war jede Ausgabe wert. Er hatte nicht vor, sie sofort nach einem kurzen Abend zu bespringen. Nein! Er hatte sich vorgenommen, sie zu erobern und sie zu seiner nächsten Freundin zu machen.

      Eine Kellnerin hatte sie in einer ruhigen und gemütlichen Ecke untergebracht. Um den Tisch standen zwei Lederbänke. Sie hatten sich unterhalten, bestellt, gegessen und getrunken. Das Verführungsspiel erreichte seinen Höhepunkt: Finger, die einander suchten, freudiges Lächeln, das auf strahlende Blicke folgte, klopfende Herzen, fesselnde Gespräche. Der Zauber entfaltete sich nach allen Regeln der Kunst.

      Nachdem sie die horrende Rechnung bezahlt hatten, hatten sie sich auf die Suche nach einer Metro-Station gemacht. Svetlana wohnte in Montparnasse. Deswegen hatten sie die gleiche Linie genommen. Dadurch hatte Franck die Gelegenheit bekommen, sie bis nach Hause begleiten zu können.

      Svetlana lebte in einem Wohnheim für junge Arbeitnehmerinnen. Das Zimmer war winzig. Die Miete war zwar für ein einzelnes Zimmer hoch, man konnte sich aber der Illusion hingeben, dass sie für diese Stadt akzeptabel war. Vor dem Tor des Gebäudes ergriff Franck als erster das Wort: „Ich habe einen sehr schönen Tag verbracht und ich…“

      Er hatte keine Zeit den Satz zu beenden da streiften sich schon ihre Lippen, stießen aufeinander, drückten sich ein. Sie hatten sich gegenseitig angezogen. Genau in diesem Augenblick war eine Situation entstanden, die die kommenden Tage auf den Kopf stellen würde.

      Ihre Zungen hatten Gefallen aneinander gefunden. Speichel wechselte den Besitzer. Ihre Körper waren miteinander verschmolzen. Mit diesem Kuss wurde sanft und genussvoll jede Menge Zärtlichkeit ausgetauscht, die sich in Feingefühl mit einer herben Note verwandelte. Nachdem sie sich so sehr begehrt hatten, war dieser Moment wie eine Erlösung für sie gewesen.

      Svetlana hatte ihm mehrfach gesagt, dass sie reingehen müsste. Unter der Wochen wurden die Türen um ein Uhr morgens vom Hausmeister abgeschlossen. Am Wochenende blieben sie bis zwei Uhr geöffnet und sie näherten sich dieser Uhrzeit. Franck wollte sie nicht loslassen. Svetlana wollte nicht zu sich raufgehen. Der Augenblick des Glücks zog sich in die Länge.

      Bevor sich ihre Arme endgültig entknoteten und ihre Lippen sich endgültig voneinander lösten, hatte Svetlana Franck gefragt, wann sie sich wiedersehen könnten.

      Am nächsten Tag wollte sie abreisen, um sich Brüssel anzusehen. Sie würde erst am Dienstagabend wiederkommen. Da ihr Zug erst ziemlich spät abfahren würde, hatte Franck ihr vorgeschlagen, sie zum Bahnhof zu begleiten. Er würde sie hier abholen, sobald er mit seinem Tagwerk fertig wäre. Svetlanas Augen hatten an Stelle ihres Mundes geantwortet und sie hatte gelächelt, bevor sie das Treffen am nächsten Tag mit Worten bestätigte. Sie hatten sich ein letztes Mal geküsst.

      Franck würde seinerseits für die Dauer von drei Wochen einen Gelegenheitsjob als Concierge und Wachmann in einem Wohnhaus antreten. Es handelte sich hierbei um eine Arbeit, die ihm keinerlei Befriedigung verschaffte. Dreck wegmachen und Mülltonnen rausstellen ermöglichte ihm nicht, sich so zu entfalten, wie er das wollte. Nur die Bezahlung erschien, dank einer zusätzlichen Prämienzahlung zum Vertragsende einigermaßen anständig. Diese wog den Vorteil, den ein festangestellter Hausmeister hatte auf, der darin bestand, dass er bei seiner Tätigkeit über eine vergünstigte, ja beinahe kostenlose Dienstwohnung verfügte. Dieses Privileg konnte sich im Herzen von Paris und bei einigen Wohnhäusern als Luxus herausstellen; eine Gunst, die anständige Arbeitgeber ihren Angestellten erwiesen, angesichts der astronomischen Höhe der Mieten in dieser gentrifizierten Stadt. Ein nicht zu leugnender Anreiz für manch einen festangestellten Concierge.

      Ab jetzt gab es diesen Bonus aber nicht mehr. Er war von einer Regierung abgeschafft worden, die neue Gesetzestexte verabschiedet hatte und die meinte, dass diese Menschen – diese Aushilfskräfte, diese Gelegenheitsarbeiter – zu viel Geld verdienten, was sie erst recht in eine wirtschaftliche Unsicherheit stürzte. Seither gab es keine finanzielle Motivation mehr. Was fortbestand, war eine Art von Ekel: einerseits gegenüber der Regierung, die das Proletariat unterdrückte und nur im Interesse der höchsten Finanzwelt handelte, von der sie selber vollständig abhängig war – fast wie freiwillige Sklaven – und andererseits gegenüber der Arbeit, sobald diese im Widerspruch zur Erfüllung unserer wichtigsten Wünsche stand. Mit ihrer exzessiven Sparpolitik haben unsere Politiker eine Denkweise legitimiert und verankert, die dazu führt, dass sich ungesunde Praktiken entwickeln können. Ganz zu schweigen von der Entmutigung eines Arbeitslosen angesichts einer Arbeit, deren Bezahlung sich auf bedauerliche Weise dem Mindestlohn annähert. Wer konnte in Paris mit einem so niedrigen Lohn von ungefähr tausend Euro netto im Monat auskommen? Die Monatsmiete für ein anständiges 1-Zimmer-Appartement beträgt mindestens 700 Euro. Meistens liegt sie um die 800 Euro. Die Rechnung ist einfach und schnell gemacht. Ein erbärmliches Einkommen kann kein ehrliches Dasein ermöglichen. So ein Einkommen sichert gerade mal das Überleben.

      Das Leben eines Menschen bedeutet nicht viel. Das einzige was zählt, ist die Anhäufung von Reichtümern, von Privilegien… Wenn der kleine Mann auf der Straße landet oder verhungert, hat das keine große Bedeutung… Wenn man ein Nichts ist, tut man gut daran schnell wieder zu Nichts zu werden… Politiker sind die Freunde der Reichen. Hand in Hand verteidigen sie nicht die Interessen des Volkes. Sie sind gerade einmal in der Lage lange und schöne Vorträge zu halten, um die Massen noch mehr einzulullen, die anfangen könnte sich zu rühren, sich zu empören oder sogar den Wunsch haben könnte zu revoltieren. Im besten Fall schaffen sie es, ein wenig Verachtung für den Pöbel aufzubringen. Selten mehr. Sie sind viel zu sehr damit beschäftigt neue Waffenverträge auszuhandeln oder sich an neuen Kriegen zu beteiligen. Die Bürger schreien vielstimmig „Stopp!“ Sie hören nicht hin und ignorieren das aufgebrachte Volk. Die Kluft zwischen der Regierung, die den Kontakt zur sozialen Realität verloren hat und der Bevölkerung ist unverzeihlich. Diese Politiker und Wirtschaftsbosse sind unser Ruin. Sie sind für all das Elend in einem Land verantwortlich.

      Franck hatte die junge Frau dabei beobachtet, wie sie das Gebäude betrat. Sie war jetzt offiziell seine neue Freundin. Danach hatte er sich auf den Weg nach Hause gemacht, 30 Minuten Fußmarsch bis zur Metro-Station Denfert-Rochereau. Unterwegs hatte er ein Lächeln auf den Lippen, seine Augen blitzten und im Kopf ging er den gemeinsamen Abend noch einmal durch. Am nächsten Morgen erwartete Franck etwas ganz anderes. Er musste früh aufstehen, die Ärmel hochkrempeln und ohne Überzeugung, Leidenschaft und Freude ackern, wie ein Roboter, ein lebender Toter.

      Svetlana hatte soeben einen so außergewöhnlichen Tag erlebt, wie sie bis dahin noch nicht viele erlebt hatte. Sie hatte noch nicht viele Männer gekannt. Ihre Erfahrungen waren alle nur von kurzer Dauer gewesen. Sie setzte eine zarte Hoffnung in dieses Treffen. Was gab es romantischeres als zwei Menschen, die in zwei sehr unterschiedlichen Universen aufgewachsen waren und die es schafften, sich zu finden? Franck war es gelungen sie mit seiner Natürlichkeit, seiner Freundlichkeit und seiner Fähigkeit zuzuhören zu verführen. Er hatte sich aufrichtig für sie interessiert. Bevor sie sich auch nur zum ersten Mal geküsst hatten, hatte Svetlana gemerkt, dass sie ihm bereits etwas bedeutete. Außerdem hatte sie seine künstlerischen Seite bezaubert. Ein Künstler, der ein wenig gefangen war in seinen Träumen und seinem Leben, aber ein Original, auf das sie nicht jeden Tag treffen würde.

      Svetlana lag in ihrem Bett, führte eine Hand über ihre Lippen spazieren und ließ die Ereignisse des Tages, der sie überwältigt hatte, noch einmal vor ihrem inneren Auge Revue passieren. Sie fragte sich, warum ihre vorherigen Begegnungen kein so heftiges Verlangen hervorgerufen hatten. Was war anders an diesem Franzose, der doch auf den ersten Blick so normal wirkte? Franck war die Art von großem, schlanken und braunhaarigen jungem Mann mit einem Allerweltsgesicht und kurzen Haaren, dem man in allen Städten begegnen konnte. Ein drei-Tages-Bart versteckte die etwas eingefallenen Wangen und verlieh ihm, je nachdem wie lange die letzte Rasur zurücklag, dieses etwas schlampige oder verwegenen Aussehen, weit entfernt von den engelsgleichen Normen eines glatthäutigen Bürokraten. Franck hatte sich ihr gegenüber so zuvorkommend und aufmerksam gezeigt, dass sie gar nicht anders gekonnt hatte, als ihm zu verfallen. Hatte sie gerade jemanden kennengelernt, der sie wunschlos glücklich machen, und der sie neue und schöne


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