Begegnung in der Weihnachtsnacht. Birgit Ebbert
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Birgit Ebbert
Begegnung in der Weihnachtsnacht
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Inhaltsverzeichnis
Leseprobe aus "Die 50 besten Morde oder Frauen rächen anders"
Kapitel 1
Jetzt ist sie verrückt geworden, haben meine Freunde gesagt.
Aber vielleicht muss der Mensch sich von Zeit zu Zeit ver-rücken, um Mensch zu bleiben.
Ich habe mich auf einen Berg ver-rückt. In diese kleine Hütte unter hohen Bäumen, deren Größe mir zeigt, wie klein und unwichtig ich bin.
Träumerin, haben mich die Freunde genannt.
Ein Traum hat mich hierher gelockt.
Nein, es waren zwei Träume.
Vor Wochen sind sie mir beim Aufräumen in Kindheitstagebüchern begegnet.
Sie sprangen mir entgegen, froh über die Befreiung.
Zwanzig Jahre vergessen. Zwanzig Jahre eingesperrt.
Sätze können nicht alleine gehen. Sie benötigen menschliche Krücken.
Worten verhalf ich zum Leben.
Sie verwandelten sich in Schlüssel zur Gedächtniskommode.
Vergessene Träume quollen aus den übervollen Schubladen. Sammelten sich zu einer Einheit. Diskutierten mit Gegengedanken. Siegten. Führten mich hierher.
Ereignisse, von denen ich lange geträumt habe, umgibt immer ein geheimnisvoller Rauch.
Wie die düstere Moorluft verbirgt er die Zukunft.
Es ist, als wagte ich im letzten Moment nicht, den Schleier zu lüften.
Wer weiß denn, ob die Realität so traumhaft, fabelhaft, wunderbar ist wie das Leben im Traum.
Das Risiko, einen Traum wahr werden zu lassen ist viel größer als das einer Gebirgstour.
Viel leichter lassen sich die Umstände des Traumlebens herbeiführen.
Um wie viel wahrscheinlicher ist der Absturz, der nicht das Leben, sondern die Hoffnung nimmt.
Und was ist das Leben ohne eine Sehnsucht?
Meine Gedanken gehen ängstlich eigene Wege, weichen vom Pfad der Erfüllung ab, verscheuchen die Erinnerung, um die Sorge zu verbergen.
Doch heute gibt es kein Zurück. Dicke Schneeflocken versperren mir das Tor zur Gegenwart.
Eingeschlossen in diesem kleinen Haus bleiben mir nur die Gesellschaft der ungewissen Zukunft der nächsten Stunden, die Freundschaft vergangener Gedanken und - seine Kraft. Obwohl er die Angst auslöst, verspricht er die Unterstützung vieler vergessener Jahre. Größeres Leid hat Spuren in seinem Fell, an seinen Armen und Beinen hinterlassen. Das Ohr, das früher ein goldener Knopf zierte, gibt es nicht mehr. Es wurde Opfer einer heute unbekannten Wut und Tat. Die Schneeflocken klopfen leise an das Fenster, sie begehren Einlass in ihre Todeskammer. Hat schon jemand über das Lemming-Phänomen dieser Kristalle nachgedacht? Wieder und wieder pochen sie an die Glasscheibe. Ließe ich sie ein, straften sie mich mit Kälte für einen Mord, den sie selbst angezettelt hätten. Also widerstehe ich ihrem Drängen, verweigere die Gastfreundschaft und sehe ihnen zu bei dem Kampf um ihr Leben. Die ersten werden die letzten sein. Auch hier. Doch die ersten sind nicht die, die oben liegen. Die Sieger im Kampf um die Spitze werden die ersten sein, die die Wärme den Freunden entreißt. Sie werden sich wundern über die Ungerechtigkeit. Da streiten sie sich um einen Aussichtsplatz, ohne zu ahnen, dass dieser Sitz der unsicherste ist. Dort beginnt die Schmelze. Nur kurze Zeit währt also die Freude, der Stolz, oben zu stehen, Sieger zu sein. Die Kälte jenseits der Glasscheibe breitet sich nun auch in mir aus. Ich sehe mich in der kleinen Hütte um und entdecke den Kamin, dessen Prasseln ich bisher nicht beachtet habe. Vielleicht ruft das Feuer nach Nahrung. Holz finde ich neben der Stelle genügend, doch keine leichte Speise, kein Zeitungspapier, keine kleinen Ästchen, die nicht sättigen, sondern nur unterhalten. So suche ich in meinem Rucksack nach überflüssigem Papier. Da hat mich die Vergangenheit mit einer List in ihr Netz gezogen. Die Tagebücher des Kindes finde ich in meinen Händen. Schon taucht die Erinnerung auf. Ich bin hier, um zwei Kindheitsträume zu erfüllen.
Kapitel 2
Geheim, in der krakeligen Schrift des achtjährigen Kindes warnt das Wort unbefugte Leser.
Ich schlage die nächste Seite auf.
Ein misstrauisches Kind war ich.
Hier steht: Wenn du weiterliest, spreche ich nie mehr mit dir.
Die größte Strafe, die ich kannte.
Wie oft hatte meine Mutter gedroht, wenn du jetzt nicht still bist, rede ich kein Wort mehr mit dir.
Ein einziges Mal musste sie den Worten Taten folgen lassen.
Eine kindische Ungezogenheit, die in der Erinnerung verblasst ist vor dem Angstbild jenes Tages, an dem jede Frage, jede Schmeichelei, jede Bitte mit einer Bewegung des Kopfes beantwortet wurde.
Dieses Gesicht, dessen Lippen sich nicht öffneten, erschien von dem Tag an, sobald die Mutter mahnte.
Kinder sind Abbilder ihrer Eltern, in Taten und Worten.
Ich war es die ganze Kindheit hindurch.
Erst als Jugendliche erlaubte ich der Elterntempelfassade zu brechen, um Blicke ins Heiligtum zu wagen.
Meine Augen lösen sich von den drohenden Worten.
Die Hand blättert die Seite um.
Da springen mir die gegenwartsbestimmenden Sätze der Vergangenheit noch einmal entgegen.
24.12.1973