Die Kostenvermeidungsdirektive. Jens Wahl
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Vorwort
Das zentrale Ereignis dieses Romans ereignete sich wirklich, das Drumherum entsprang meiner Fantasie. Dazu gehören alle Namen, die Charaktere und Lebensläufe aller Personen sowie ihr Verhalten. Eventuelle Übereinstimmungen mit real lebenden Personen und Firmen sind zufällig und waren nie beabsichtigt.
Obwohl es zwei Leichen geben wird, handelt es sich weder um einen Thriller noch einen Krimi, sondern um das reale Leben. Dieses wird für jeden von uns unweigerlich tödlich enden - bis heute ist es jedenfalls so. Nur verdrängen das die meisten getreu dem Motto "Wenn ich nicht daran denke, wird es mich auch nicht betreffen". Doch dies ist ein Trugschluss.
Sicherlich werde ich hiermit den Vertretern gleich mehrerer Interessengruppen auf die Füße treten. Nicht alles, was die Romanfiguren äußern, ist meine Meinung. Aber wenn man zum Nachdenken anregen möchte, geht es am einfachsten, wenn man provoziert. Denn ich möchte mit diesem Roman für eine ganze Reihe an Themen sensibilisieren und vielleicht auch zu Diskussionen und vor allem zum Nachdenken anregen. Wir leben in einer Welt, in der wir uns mehr oder weniger freiwillig dem unterordnen, was andere verlangen oder vorschreiben. Meistens, ohne groß darüber nachzudenken. Gerade hier sehe ich aber noch ein riesiges Potenzial, unser aller Leben und Zusammenleben zu verbessern beziehungsweise zu optimieren.
Jens Wahl im August 2016
Kapitel 1 - Eine Stufe auf der Karriereleiter
Friederike Oberndorfer hatte es geschafft: Vor ihr lag das Diplom, das sie berechtigte, ab sofort als Shore-Excursion-Manager bei der AHOS-Reederei zu arbeiten. Allerdings war sie mit sich nicht so ganz zufrieden: Sie hatte nur den zweitbesten Abschluss hingelegt, das ärgerte die karrieregeile und ehrgeizige Zweiunddreißigjährige doch. Trotzdem schien die Septembersonne freundlich durch das Fenster und ließ das brandneue Diplom hell erstrahlen. Da die Fensterscheiben nicht exakt plan waren, zeichnete die Sonne lustige Kringel auf das Papier. Friederike fand das von der Sonne unfair - es passte einfach nicht zu ihrer Stimmung! Doch die Sonne interessierte das wohl nicht besonders.
Die Kursleiterin, Frau Häusler, hielt ihre Schlussrede, in welcher sie nochmals darauf hinwies, welche Aufgaben ein Shore-Excursions-Manager bei AHOS hat: Koordinierung, Bewerbung und Verkauf der durch die Zentrale schon im Voraus gebuchten Landausflüge, Betreuung der Gäste auf dem Schiff vor und während der Ausflüge, Arbeitseinteilung der Shore-Excursions-Guides, die fast immer die Gäste auf den Landausflügen begleiten. Dazu kam natürlich auch noch die Bemerkung, dass ein hohes Kostenbewusstsein gefragt sei. „Meine Damen und Herren, ich möchte Sie nochmals darauf hinweisen, dass unsere Firma laut Arbeitsvertrag berechtigt ist, abwendbare Kosten, die durch Sie nicht vermieden wurden, wenigstens anteilig mit Ihrem Gehalt zu verrechnen! Also haben Sie immer ein Auge auf Ihr Budget im Sinne der während des Kurses ausführlich diskutierten ‘Kostenvermeidung’ oder, wie es im betriebswirtschaftlichen Sprachgebrauch auch genannt wird, der ‘Cost Avoidance’. Nun bleibt mir nur noch, Ihnen bei Ihrer künftigen Tätigkeit viel Erfolg und auch Spaß zu wünschen!“
Die Kursteilnehmer klatschten Beifall, damit war der Tag gelaufen und sie hatten ab jetzt für heute frei. Also schnell weg, sie wollten ihren Abschluss feiern.
Friederike hatte es nicht so eilig, sie würde schon morgen ihre neue Stelle antreten. Sie brauchte nur ihre Reisetaschen aus der Firmenunterkunft, die sie während der Schulung bewohnte, holen und ihre eigene Kabine auf der „Atlantico“ beziehen. Aus der Feierei machte sie sich nichts - sie ärgerte sich immer noch über ihren zweiten Platz.
Die AHOS-Reederei mit Sitz in Hamburg betrieb zwei Kreuzfahrt-Sparten: die „normale“ Kreuzfahrt im 3- bis 4-Sterne-Bereich, welche als „Holidays on Sea“ beworben wurde, sowie eine Art Expeditionskreuzfahrt mit kleineren Schiffen, die als „Adventures on Sea“ in einem extra Katalog vermarktet wurde und den 5-Sterne-Bereich abdeckte. Beides zusammengefasst ergab den Firmennamen „AHOS“ - Adventures & Holidays on Sea. Für die „Adventure“-Sparte gab es zwei kleine Schiffe, die „Pinguin“ und die „Eisbär“ mit je 600 Passagieren. Beide Schiffe besaßen die Eisklasse und konnten so auch für etwas ungewöhnlichere Routen in der Arktis und Antarktis eingesetzt werden. Die „Holidays“-Sparte verfügte über vier Schiffe: die „Atlantico“ als ältestes Schiff der AHOS-Flotte mit etwa 1.100 Passagieren. Das gleich große Schwesterschiff „Pazifico“ war nur ein Jahr jünger. Und dann gab es noch die beiden Neubauten aus den letzten beiden Jahren mit je 4.500 Passagieren: die „Caribico“ und die „Baltico“. Alle Schiffe fuhren aus Steuerersparnisgründen unter der spanischen Flagge.
Friederike war der „Holiday“-Sparte zugeordnet worden. Morgen würde die „Atlantico“ mit ihr als SEM, wie die innerbetriebliche Abkürzung für Shore-Excursions-Manager lautete, in Richtung Kanaren in See stechen. Sie hatte noch viel zu tun, in zwei Tagen sollten die ersten Landausflüge unter ihrer Regie in Dover stattfinden. Bereits mehrere Monate konnte sie als Praktikantin an der Seite von Herrn Hallein auf der „Baltico“ Erfahrungen auf diesem Posten sammeln, jetzt war sie aber die Chefin für diesen Bereich! In dieser Rolle gefiel sie sich. An die Zeit auf der "Baltico" erinnerte sie sich immer wieder sehr gern. Herr Hallein war schon über sechzig Jahre alt und hatte vor, in ein paar Jahren in den Ruhestand zu gehen. Er war nicht nur ein Profi in seinem ausgeübten Beruf, sondern er liebte gleichzeitig seine Tätigkeit. Dabei verlor er nie den Blick für das Wesentliche. "Wir leben in einer wunderbaren Welt zum richtigen Zeitpunkt", schwärmte er einmal Friederike gegenüber. "Erst jetzt ist die Technik so weit, viele Erholungssuchende weltweit zu transportieren. Und viele Menschen können sich dies auch leisten. Doch wer kann die Schönheiten der Natur genießen? Doch nur derjenige, der nicht nur in Frieden lebt, sondern der auch genügend zu Essen hat. Stell Dir doch einmal vor, Du lebst in Rio de Janeiro und hast weder Arbeit noch etwas zu essen. Der Blick vom Zuckerhut zum Corcovado wird Dir total egal sein, wenn Dein Magen knurrt. Dann überlegst Du nur, wie Du Deinen Hunger stillen kannst, ganz einfach, um zu überleben." Herr Hallein war ein sehr guter Lehrer: Zuerst erklärte er einiges, dann ließ er sich von Friederike helfen. Während der Vorbereitung des vorletzten Ausflugstages in ihrem Praktikum meldete er sich bei ihr ab - er hätte ein starkes Unwohlsein. Wenn sie nicht weiter käme, könne sie sich ja bei ihm melden. Mit ihrem Ehrgeiz biss sich Friederike durch und erntete Lob von ihrem Lehrmeister. Danach klärte er sie wegen der kleinen Schwindelei auf. Diese hatte nur dazu gedient, um einmal zu sehen, wie sie allein klarkommt und um ihr andererseits Sicherheit zu geben: "Wer die Ausflüge für 4.500 Gäste plant, sollte bei 1.100 Gästen kein Problem haben", war seine Meinung. Kurz nach Ende des Praktikums, noch während des Lehrganges, erhielt Friederike Oberndorfer von ihrer Reederei die Zusage, als SEM auf der "Atlantico" arbeiten zu können.
Allerdings sollte Friederikes Karriere mit der Stellung als SEM noch nicht zu Ende sein: Spätestens mit 40 Jahren wollte sie den Rang eines CD (Cruise Director) erworben haben. Dieser kam in der Rangliste auf dem Schiff gleich nach dem Kapitän und war praktisch eine Art Hotel- und Entertainment-Direktor in einem. Doch bis dahin musste sie sich erst einmal auf ihrem jetzigen neuen Posten bewähren und danach ein mehrjähriges firmeninternes Studium absolvieren.
Ständig, aber erfolglos, versuchte sie während der Schulzeit, mit guten bis sehr guten Noten die Anerkennung ihres von ihr heiß geliebten Vaters zu erringen. Doch dieser war in den drei Jahre älteren Sohn vernarrt. 'Büchsen' zählten bei ihm als minderwertig und er ließ es sie spüren. Als sie mit 15 Jahren erkannte, dass ihr Bruder den Bauernhof in der Nähe von Isny von den Eltern übernehmen sollte, hatte sie sich für eine Lehre als Reiseverkehrskauffrau beworben und diese mit dem besten Jahresabschluss im IHK-Bereich beendet. Doch die Beratung derjenigen, die sich teilweise die teuersten Reisen leisten konnten, während sie bei ihrem Gehalt immer nach Schnäppchen suchen musste, stellten sie nicht zufrieden. Es passte auch nicht zu ihrem Charakter, sich ständig unterordnen zu müssen. Durch das Verhalten ihres Vaters ihr gegenüber wurde sie hart - zu sich selbst und auch zu anderen. Sie kannte es einfach nicht besser.
Ihre Eltern kamen bei einem Autounfall ums Leben, als sie sechsundzwanzig Jahre alt war - der zwölfjährige Bub des Nachbarhofes hatte beim Pflügen des Feldes die Gewalt über den Traktor verloren und war damit auf die Landstraße gekommen, als gerade