Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Karl Binding

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Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens - Karl Binding


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Alfred Hoche

      Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens / Ihr Maß und ihre Form; Zweite Auflage

Karl Binding †

      Während des Druckes dieser Schrift ist Geh. Rat Binding abgerufen worden; das Echo, welches seine Ausführungen finden werden, antwortet der Stimme eines Toten.

      Ich darf bekunden, daß die Fragen, mit denen unsere Abhandlung sich beschäftigt, dem Verstorbenen Gegenstand eines von lebhaftestem Verantwortungsgefühl und tiefer Menschenliebe getragenen Nachdenkens gewesen sind.

      Mir persönlich wird die Erinnerung an die Stunden der gemeinsamen Arbeit mit dem Feuerkopf voll kühlscharfen Verstandes immer ein wehmütig stimmender Besitz bleiben.

Freiburg i. Br., den 10. April 1920.Hoche.

      I

      Rechtliche Ausführung

vonProfessor Dr. jur. et phil. Karl BindingFür die zweite Auflage durchgesehenvon Paul Binding

      Ich wage am Ende meines Lebens mich noch zu einer Frage zu äußern, die lange Jahre mein Denken beschäftigt hat, an der aber die meisten scheu vorübergehen, weil sie als heikel und ihre Lösung als schwierig empfunden wird, so daß nicht mit Unrecht gesagt werden konnte, es handle sich hier »um einen starren Punkt in unseren moralischen und sozialen Anschauungen«.1

      Sie geht dahin: soll die unverbotene Lebensvernichtung, wie nach heutigem Rechte – vom Notstand abgesehen – , auf die Selbsttötung des Menschen beschränkt bleiben, oder soll sie eine gesetzliche Erweiterung auf Tötungen von Nebenmenschen erfahren und in welchem Umfange?

      Ihre Behandlung führt uns von Fallgruppe zu Fallgruppe, deren Lage jeden von uns aufs tiefste erschüttert. Um so notwendiger ist es, nicht dem Affekt, andererseits nicht der übertriebenen Bedenklichkeit das entscheidende Wort zu überlassen, sondern es auf Grund bedächtiger rechtlicher Erwägung der Gründe für und der Bedenken gegen die Bejahung der Frage zu finden. Nur auf solch fester Grundlage kann weiter gebaut werden.

      Ich lege demnach auf strenge juristische Behandlung das größte Gewicht. Gerade deshalb kann den festen Ausgangspunkt für uns nur das geltende Recht bilden: wieweit ist denn heute – wieder vom Notstande abgesehen – die Tötung der Menschen freigegeben, und was muß denn darunter verstanden werden? Den Gegensatz der »Freigabe« bildet die Anerkennung von Tötungsrechten.

      Diese bleiben hier vollständig außer Betracht.

      Die wissenschaftliche Klarstellung des positivrechtlichen Ausgangspunktes aber ist um so unumgänglicher, als er sehr häufig ganz falsch oder doch sehr ungenau gefaßt wird.

      I. Die heutige rechtliche Natur des Selbstmordes. Die sog. Teilnahme daran

      I. Von einer Macht, der er nicht widerstehen kann, wird Mensch für Mensch ins Dasein gehoben. Mit diesem Schicksale sich abzufinden – das ist seines Lebens Beruf. Wie er dies tut, das kann innerhalb der engen Grenzen seiner Bewegungsfreiheit er nur selbst bestimmen. Insoweit ist er der geborene Souverän über sein Leben.

      Das Recht – ohnmächtig dem Einzelnen die Tragkraft nach der ihm vom Leben auferlegten Traglast zu bestimmen – bringt diesen Gedanken scharf zum Ausdruck durch Anerkennung von jedermanns Freiheit, mit seinem Leben ein Ende zu machen.2 Nach langer höchst unchristlicher Unterbrechung dieser Anerkennung – von der Kirche gefordert, gestützt auf die unreine Auffassung, der Gott der Liebe könne wünschen, daß der Mensch erst nach unendlicher körperlicher oder seelischer Qual stürbe3, – dürfte sie heute, von ganz wenigen zurückgebliebenen Staaten abgesehen, wieder voll zurückgewonnener, für alle Zukunft unangefochtener Besitz bleiben. Das Naturrecht hätte Grund gehabt, von dieser Freiheit als dem ersten aller »Menschenrechte« zu sprechen.

      II. Wie diese Freiheit aber gesehen werden muß im Rahmen unseres positiven Rechtes, dies steht noch keineswegs fest. Ebenso in falscher Terminologie wie in falschen praktischen Folgerungen spricht sich diese Unsicherheit aus. Es ist höchste Zeit, daß größte wissenschaftliche Genauigkeit die bisherige ungenaue Behandlung der einschlagenden Fragen ablöse – , daß insbesondere die fundamentale rechtliche Verschiedenheit zwischen dem schlecht sog. Selbstmord und der Tötung Einwilligender klar erkannt werde.

      Zwei sich im tiefsten widersprechende Auffassungen vom Selbstmord gehen heute nebeneinander her – beide übereinstimmend nur darin, daß sie falsch sind, und daß sie in die Forderung seiner Straflosigkeit münden.4

      1. Nach der einen ist der Selbstmord widerrechtliche Handlung, Delikt, qualitativ dem Mord und dem Totschlag aufs engste verwandt, weil Übertretung des Verbotes der Menschentötung.5

      Solche Ausdehnung der Tötungsnorm ist unseren gemeinrechtlichen Quellen ganz fremd, und alle Beweise für die deliktischen Eigenschaften des Selbstmordes versagen.

      Alle religiösen Gründe besitzen für das Recht aus doppeltem Grunde keine Beweiskraft. Sie beruhen hier auf ganz unwürdiger Gottesauffassung, und das Recht ist durch und durch weltlich: auf Regelung des äußeren menschlichen Gemeinlebens eingestellt. Nebenbei gesagt, berührt das neue Testament das Problem mit keinem Wort.

      Die gleiche Unkraft, für die Rechtswidrigkeit der Selbsttötung zu beweisen, eignet der ebenso haltlosen als »pharisäischen« (Gaupp) Behauptung, sie sei stets eine unsittliche Handlung und so verstehe sich ihre Rechtswidrigkeit von selbst.6

      Schon der »harte und lieblose« Name Selbstmord7 für die eigene Tötung ist tendenziös. Denn dem »Morde« waren stets feige Heimlichkeit und Niedertracht wesentlich. Und nun bedenke man zunächst die große Anzahl psychisch gestörter Personen, die Hand an sich legen!8 Außerdem gibt es altruistische Selbsttötungen geistig völlig Gesunder, die auf der höchsten Stufe der Sittlichkeit stehen, andererseits Selbsttötungen, die bis auf den tiefsten Grad frivoler Gemeinheit oder elender Feigheit herabsinken können.9 Ja es gibt unterlassene Selbsttötungen, die gerade wegen der Unterlassung schweren sittlichen Tadel verdienen.

      Außerdem ist die unsittliche Handlung als solche durchaus nicht auch rechtswidrig und die rechtmäßige durchaus nicht immer sittlich.

      Der Beweis der Widerrechtlichkeit der Selbsttötung könnte nur aus dem exakten Nachweis der positivrechtlichen Tötungsnorm geführt werden.10 Dafür fehlt aber das Material überall, wo die Selbsttötung nicht unter Strafe gestellt oder sonst unzweideutig als Delikt gekennzeichnet ist.11 Oder sie könnte sich als Folgerung aus rechtlich feststehenden Prämissen ergeben. Solchen Nachweis versucht Feuerbach, aber in der unzulänglichsten Weise. »Wer in den Staat eintritt – der Neugeborene tritt aber doch nicht ein! – , verpflichtet dem Staat seine Kräfte und handelt rechtswidrig, wenn er ihm diese durch Selbstmord eigenmächtig raubt«.12 Das ist offenbar eine nichtssagende petitio principii.

      Für die Deliktsnatur der Selbsttötung fehlt also nicht nur alles Beweismaterial,13 sondern es fällt auch heutzutage keinem Selbstmörder und keinem seiner Beurteiler auch nur von ferne ein, in der Selbsttötung eine verbotene Handlung zu erblicken und diese wirklich qualitativ auf eine Linie mit Mord und Totschlag zu stellen.

      Wer aber die Deliktsauffassung vertritt, der muß unter allen Umständen die sog. Teilnehmer an der Selbsttötung14 unter der Voraussetzung verschuldeten Handelns gleichfalls als Delinquenten betrachten. Und aus der Straflosigkeit des Selbstmörders ist die der »Teilnehmer« dogmatisch gar nicht ohne weiteres zu folgern:15 denn sie handeln widerrechtlich gegen das Leben eines Dritten, stehen somit auf höherer Stufe der Strafbarkeit als der, der sich nur an sich selbst vergreift, wenn dessen Tat als Delikt betrachtet wird.

      In


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<p>1</p>

Jost, Das Recht auf den Tod. Göttingen 1895, S. 1.

<p>2</p>

In der Sprache der Stoa sagt Seneca: Licet eo reverti, unde venisti. Ep. LXX.

<p>3</p>

Vgl. Montesquieu in seiner wundervollen Lettre LXXVI seiner Lettres Persanes: Dieu, différent de tous les bienfaiteurs, veut il me condamner à recevoir de grâces qui m'accablent? Gut auch Jost a. a. O. S. 36.

<p>4</p>

Friedrichs II. Reskript v. 6. Dez. 1751 hat in Deutschland zuerst die Strafe des Selbstmordes aufgehoben.

<p>5</p>

S. bes. Feuerbach, Lehrb. § 241; Heffter, Lehrb. § 227; Lion, Goltd. Arch. VI S. 458; Schütze, Nothwend. Theilnahme, S. 288 ff.

<p>6</p>

So natürlich Jarcke, Handbuch I S. 108. Hepp, Versuche, S. 124 ff., versteigt sich dazu, den Selbstmord als »moralische Schändlichkeit«, ja vom christlichen Standpunkte aus »als eines der größten und abscheulichsten Verbrechen« zu bezeichnen. Vgl. Lion, GA. VI S. 459. – Auch Berner, Lehrbuch, S. 93, äußert einen wahren Abscheu »vor dieser gottlosen Tat«, tritt aber für ihre Straflosigkeit ein. – Ebenso noch in ganz junger Zeit die Diss. von Nohr, Die zwangsweise Hinderung am Selbstmord, Breslau 1916, der außer der Unsittlichkeit im Selbstmord auch noch »eine Gefährdung des Staates« findet! Vgl. unten S. 14 Note 27.

<p>7</p>

So treffend Hoche, Vom Sterben, S. 25.

<p>8</p>

Sehr merkwürdig die Mitteilungen Gaupps, Selbstmord, 2. Aufl. München 1910 S. 22, über 124 von ihm untersuchte Fälle versuchten Selbstmordes. Nur eine einzige Person unter den 124 sei psychisch ganz gesund gewesen.

<p>9</p>

Sehr richtig sagt Jost a. a. O. S. 50: »Ein bestimmtes moralisches Urteil über den Selbstmord überhaupt gibt es nicht. Jeder Fall muß hier besonders beurteilt werden.« S. auch die schönen Worte von Gaupp, Selbstmord, S. 32: »Ist es nicht frevelhafte Anmaßung, wenn wir den Wert eines Menschen nach dem einschätzen, was wir uns in naiver Unwissenheit vom Motiv seiner letzten Tat zurecht gelegt haben?« – Wenn Hoche, Vom Sterben, S. 27 sagt: »Gewiß ist der Selbstmord in irgendeiner Form immer ein Waffenstrecken vor dem Leben; aber die Frage, wie sehr oder wie wenig dieses Leben lebenswert war, darf dabei gewiß nicht außer acht gelassen werden«, so ist letzteres sicher sehr beachtlich, aber das Urteil vom Waffenstrecken geht mir zu weit. Die Selbsttötung kann ein Sieg über Zumutungen des Lebens sein, die kein Mensch von Ehre erfüllen darf. Vortrefflich ist Hoches Bemerkung a. a. O. S. 29: »Ich glaube nicht, daß wenn wir darüber ehrliche Angaben erhielten, unter den geistig hochstehenden, fein organisierten Naturen viele zu finden wären, die nicht irgendwann einmal in ihrem Leben vor der Frage des Bleibens oder Gehens gestanden hätten.« Man braucht ja nur an Goethe-Faust zu denken.

<p>10</p>

Das »Du sollst nicht töten« des Zehngebotes hat natürlich mit der Selbsttötung gar nichts zu tun.

<p>11</p>

Schütze, Nothwendige Teilnahme (1869) S. 278 will den Selbstmord als strafloses Verbrechen betrachten, um zur Strafbarkeit der sog. Teilnahme daran gelangen zu können. Das ist ganz unnötig: dies Ziel ist auch anderweit zu erreichen. S. dazu unten S. 12, 13.

<p>12</p>

S. etwa Lehrbuch, 9. Aufl., § 241 (S. 205). – Recht interessant, weil auf der Schwelle zweier Anschauungsweisen stehend, Pufendorf, De jure naturae Liber II Cap. IV § XIX, wonach der zurechnungsfähige Selbstmörder in legem naturae peccasse est censendus… Multos quoque, qui in voluntarium exitum ruunt, magnitudo consternationis apud aequos viros excusat.

<p>13</p>

Es fällt doch sehr auf, daß v. Liszt, VDBT V S. 10, offenbar den modernen Rechtsbegriff der Tötung dahin formulirt: »Tötung ist Verursachung des Todes eines Menschen durch die Willensbetätigung des Täters« und dazu S. 10 bemerkt: »Auch der Selbstmord fällt unter den Begriff der Tötung.« Über die rechtliche Natur des Selbstmordes schweigt sich v. Liszt aus: nur seine Straflosigkeit wird von ihm als feststehend behandelt und sie wird auf alle »Teilnehmer« ausgedehnt. S. a. a. O. S. 133/4. – Auf v. Liszts Definition gestützt behandelt Elis. Rupp, Das Recht auf den Tod, 1913, S. 1, die Selbsttötung neben Kindestötung und Tötung auf Verlangen als dritten Fall des privilegirten Tötungsdelikts. – Über die geradezu unglaubliche Begründung für die Rechtswidrigkeit der Selbsttötung durch Kohler, GA. XLIX S. 6 (es fehle nur »die Strafbarkeitsbedingung«, »daß der Täter ein anderer sei, als derjenige, um dessen Leben es sich handle«), s. meine Normen III S. 227 N. 17.

<p>14</p>

Der ganz übliche Ausdruck ist ja grundfalsch. Gemeint ist jedoch die durchaus mögliche Teilnahme an der Tötungshandlung, die für den Gestorbenen Selbsttötung oder für den Davongekommenen Selbsttötungsversuch war, die aber für den Teilnehmer stets Tötung eines Dritten ist.

<p>15</p>

De lege lata allerdings dann, wenn das Gesetz für die Strafbarkeit des Anstifters und des Gehilfen ganz verkehrterweise Strafbarkeit der Handlung verlangt, zu der angestiftet und geholfen wurde. So ja unser GB. §§ 48 u.