Die lebende Mumie. Иван Тургенев
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Die lebende Mumie
Anmerkung
Zum Beitrage der Linderung der hungersnoth in Ssamara ist Ostern 1874 eine »Sammlung von literarischen Beiträgen« der namhaftesten russischen Schriftsteller in St. Petersburg im (nicht im Buchhandel, sondern nur in einer auf die Subscribenten berechnete Anzahl von Exemplaren) erschienen.
»Lieber Jacob Petrowitsch! Da auch ich mein Scherflein zu Deinem »Skladtschina« beizutragen wünsche, aber nichts Fertiges besaß, fing ich an, meine alten Papiere durchzustöbern und fand folgendes Bruchstück aus dem »Tagebuch eines Jägers,« welches ich Dich bitte, benutzen zu wollen. Von den in jenem Tagebuch enthaltenen Skizzen sind im ganzen zweiundzwanzig gedruckt, während das Manuscript ihrer dreißig enthält. Einige sind nämlich unbeendigt geblieben, theils aus Furcht, sie möchten die Censur nicht passiren, theils, weil sie mir nicht interessant genug, oder auch nicht zur Sache passend schienen. Zu diesen letzteren gehört auch die Skizze »Die lebende Reliquie.« Freilich hätte ich gern etwas bedeutenderes geschickt, aber ich kann nicht mehr geben als habe. Ueberdies ist euch vielleicht der Hinweis auf die an ordentliche Geduld, die unserem Volke innenwohnt, nicht unpassend bei einem Buche wie die »Skladtschina.«
»Erlaube mir, bei die er Gelegenheit eine Anekdote, die sich auch auf eine Hungersnoth bei uns in Rußland bezieht mitzutheilen. Bekanntlich wüthete eine solche im Jahre 1841 in Tula und in den umliegenden Gouvernements auf’s Fürchterlichste. Einige Jahre später waren ein Freund und ich, auf einer Reise, in einem kleinen Dorfwirthshause im Tula’schen Gouvernement abgestiegen um Thee zu trinken. Mein Freund erzählte einen Vorfall seines Lebens und erwähnte eines Menschen, der, abgemagert wie ein Skelet, Hungers gestorben sei. »Erlauben Sie, Herr, Ihnen zu sagen,« mischte sich der Wirth, ein Greis, er bei unserer Unterhaltung anwesend war, in’s Gespräch, »von Hunger magert man nicht ab, man schwillt an.« – »Wie das?« – »Ja, dem ist so; der Mensch wird aufgedunsen und quillt auf wie ein Apfel, der lange im Wasser gelegen hat. Im Jahre 1841 sahen hier Alle so aus.« »Ah, im Jahre 1841; richtig; das war wohl eine schreckliche Zeit, nicht wahr?« fragte ich den Alten. – »Ja, Väterchen, da haben wir viel aushalten müssen.« – »Nun,« forschte ich weiter, »waren denn da viele Unruhen, Raub oder dergleichen bei euch?« – »Ei, warum nicht gar, was sollten denn da noch für Unruhen sein,« erwiderte der Alte verwundert. Wenn man schon so von oft gestraft ist, wer wird denn da wohl noch an andere Sünden denken!«
»Ich glaube, das einem solchen Volke beizustehen wenn es vom Unglück heimgesucht wird, die heilige Pflicht eines jeden von uns ist. Ich verbleibe u.s.w.
Paris, 25. Januar 1874
Du Heimatland der himmlischen Geduld — Du Land des russischen Volkes.
Ein französisches Sprichwort sagt: »Ein trockener Fischer und ein nasser Jäger sind traurige Gestalten.« Da ich nie eine Leidenschaft für die Fischerei gehabt habe, kann ich nicht darüber urtheilen, was ein Fischer bei hellem, klarem Wetter empfindet und in wie weit das Vergnügen, das ihm eine reichliche Beute gewährt, die Unannehmlichleit, durchnäßt zu sein, überwiegt. Für den Jäger aber ist ein Regen – ein wahres Elend. Und in gerade solch ein Elend geriethen ich und mein Jäger Jermolaj, als wir uns auf der Hühnerjagd im Belew’schen Kreise befanden. Seit dem frühen Morgen schon goß es wie mit Spähnen. Was hatten wir nicht schon alles gethan, uns vor dem Regen zu schützen! Unsere Gummimäntel fast ganz über den Kopf gezogen, die dickbelaubtesten Bäume, unter denen es weniger tröpfelte, als Schutz ausgesucht . . . die wasserdichten Mäntel, davon abgesehen, daß sie uns beim Schießen hinderlich waren, ließen auch das Wasser auf die unverschämteste Weise durch; und unter den Bäumen schien es anfangs nicht zu tröpfeln, wenn aber das vom Regen schwerer und schwerer gewordene Laub sich neigte, so ließ jeder Ast wie aus einer Spritze eine ganz gehörige Menge Wasser auf einmal auf uns herab, die als kalter Strahl hinter das Halstuch bis tief den Rücken hinablief . . . »Und das war schon des Guten zu viel, gar nicht zum Aushalten!« wie Jermolaj sich ausdrückte.
»Nein, Peter Petrowitsch,« rief er endlich aus, »so geht das nicht weiter! Heute läßt sich nicht jagen. Den Hunden geht bei dem Regen die Witterung verloren; das Gewehr versagt . . . Pfui, ist das eine Aufgabe!«
»Ja, aber was sollen wir denn anfangen?« fragte ich.
»Je nun, lassen Sie uns nach Alexejewka aufbrechen. Ihnen ist’s vielleicht unbekannt – aber es steht dort ein Bauernhof – der gehört Ihrer Mutter; – es mögen etwa acht Werst von hier sein. Dort könnten wir die Nacht über bleiben, und morgen . . .
»Hierher zurückkehren?«
»Nein, nicht hierher. . . In der Nähe von Alexejewka weiß ich ein paar Stellen . . . viel günstiger als diese hier, für die Jagd auf Birkhühner.«
Ich fragte meinen treuen Begleiter nicht, warum er mich denn nicht geradeswegs dahin geführt hatte, wir machten uns auf und kamen noch am selben Tage nach dem Bauernhose, von dessen Vorhandensein ich in der That keine Ahnung gehabt hatte. Bei demselben stand ein kleineres Nebengebäude, das freilich alt und nicht zu bewohnen, daher auch reinlich war; in diesem brachte ich eine ziemlich ruhige Nacht zu.
Am folgenden Morgen erwachte ich bereits recht früh. Die Sonne war kaum aufgegangen, kein Wölkchen am ganzen Himmel sichtbar; Alles ringsum schimmerte im doppelten, mächtigen Glanze der Morgensonne, wie des gestrigen Regens. Während mir die Tarataika (zweiräderiger Bauernkarren) angespannt wurde, schlenderte ich in dein kleinen, einstigen Obstgarten, der jetzt ganz verwildert da lag und das Nebenhäuschen mit seinen, wohlriechende saftige Birnen tragenden alten Bäumen ringsum einschloß. Wie herrlich war es heute in der frischen freien Luft, unter dem klaren blauen Himmel, wo die trillernden Lerchen die Silberperlen ihrer helltönenden Stimmen erschallen ließen! Auf ihren Flügeln trugen sie sicher Thautropfen mit empor und ihre Lieder selbst klangen wie thaubenetzt. Ich lüftete meine Kopfbedeckung und athmete aus voller Brust hoch auf. Am Fuß eines nicht tiefen Abhangs war ein Bienenstand abgezäunt. Ein schmaler Fußpfad führte zu demselben hin, sich durch dichtes Unkraut und Nesseln dahinschlängelnd, zwischen welchen eine Menge, Gott weiß von woher angewehter, spitziger Halme dunkelgrüner Hanfpflanzen hervorragten.
Ich schlenderte auf dem Fußpfade hin und gelangte an den Bienenstand. Hart an demselben stand ein geflochtener, kleiner Schuppen, ein sogenannter Amschanik, in welchen man im Winter die Bienenstöcke stellt. Ich warf einen Blick in die halbgeöffnete Thür desselben: drinnen war alles dunkel, still, trocken; ein Geruch von Krauseminze und Melissen strömte mir entgegen. In einem Winkel stand eine Art roher Bettstelle und auf derselben lag, in eine Bettdecke gewickelt, eine kleine Gestalt . . . Ich wollte mich entfernen . . .
»Herr, ach guter Herr, Peter Petrowitsch!« rief eine schwache, feine Stimme, gedehnt und heiser, wie das Säuseln des Schilfs am Sumpfe mir zu.
Ich blieb unwillkürlich stehen.
»Peter Petrowitsch! Treten Sie näher, bitte!« wiederholte die Stimme sanft und flehend. Sie kam aus jener von mir bemerkten Ecke, vom dort stehenden Bette her.
» Ich näherte mich demselben – und blieb starr « vor Verwunderung stehen.
Vor mir lag ein lebendes menschliches Wesen – aber welch’ ein trauriges!
Der vollkommen ausgetrocknete, kupferfarbene, mumienhafte Kopf vor mir gleich vollkommen dem eines alten griechischen Heiligenbildes; die Nase war so scharf und spitz wie die einer Messerklinge, von Lippen fast keine Spur, nur Zähne und Augen allein waren weiß und unter dem Kopftuch hingen einige dünne Strähnen flachsgelber Haare hervor. Auf den Falten der Bettdecke bewegten zwei hagere, skelettartige, ganz braune Händchen die langen dünnen Finger langsam wie steife Stäbchen. Ich blickte mit gespannter Aufmerksamkeit auf das traurige Geschöpf: eigenthümlich, nicht nur daß dass Gesichtchen nichts Abstoßendes, Unangenehmes hatte, es schien mir sogar lieblich, sanft – doch aber entsetzlich anzuschauen; ganz etwas Ungewöhnliches! Und um so entsetzlicher erschien mir dieses Gesicht, als ich auf seinen metallfarbenen Wangen und Lippen die vergebliche Anstrengung las, mir zuzulächeln!
»Sie erkennen mich nicht, Herr?« lispelte die Stimme, die gewissermaßen die Worte zwischen den farblosen sich kaum bewegenden Lippen hervorhauchte. – »Ja, wie sollten Sie auch wohl! Ich bin ja die Lukéria (Lucrezia) . . . erinnern Sie