Im Schatten der Flügel. Hansjörg Schertenleib

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Im Schatten der Flügel - Hansjörg Schertenleib


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      Hansjörg Schertenleib

      Im Schatten der Flügel

      Corinna Holders zweiter Fall

      Roman

      Kampa

      Für Brigitte.

      Love, life, wife.

      Paint them a picture, Jane

      And you can hang it on the wall

      Tell them it’s me they see

      Don’t tell them why I’m small.

       Bob Seger

      1 Der letzte Tag des Sommers

      Corinna Holder hob instinktiv den Kopf, als sie den Schuss hörte, und beugte sich auf dem Musiksessel ihres verstorbenen Mannes Michael nach vorn, um auf die Uhr an der Küchenwand zu sehen: 17:53 Uhr. Wenn sie sich nicht täuschte, stammte der Schuss von einem Gewehr, nicht von einer Pistole. Sie trat auf das Deck im Erdgeschoss ihres Cottages und blickte in die Richtung, aus welcher der Schuss vermutlich abgefeuert worden war. Trotz des Lärms auf dem Gelände von Norwood Lobster hörte sie, wie in der Nähe der Motor eines Motorrades gestartet und auf Touren gejagt wurde, ziemlich sicher eine Crossmaschine mit höchstens 250 Kubikzentimetern, und sich dann auf der Rockledge Road schnell nordwärts entfernte. Seltsam, ging ihr durch den Kopf, in diese Richtung führte die Straße nach kurzer Strecke in den Wald und brach nach knapp einer Meile am Ende von Spruce Head Island abrupt ab. Entweder lebte der Fahrer des Motorrades in einem der Häuser im Wald oder er setzte seine Flucht mit einem Boot fort. Sofern er denn überhaupt der Schütze und somit auf der Flucht war. Warum ging sie eigentlich davon aus, dass ein Mann geschossen hatte? Sie hatte die obligatorischen Schießtrainings bei der Kantonspolizei Aarau geliebt und war für ihre ruhige Schussabgabe und hohe Trefferquote gelobt worden. Sie hatte den Schießkeller häufig freiwillig besucht und im Internet in England einen Kapselgehörschutz mit einer Dämmung bis 31 Dezibel bestellt, Earmuffs, die sie gerne trug, weil sie die Welt ausblendeten und sie in eine Blase versetzten, in der sie nichts hörte als ihren Atem und ihren regelmäßigen Herzschlag.

      Heute war der 23. September, der erste Tag des Herbstes. In spätestens einer halben Stunde ging die Sonne unter; über dem Festland war die Dämmerung bereits so weit fortgeschritten, dass sie den Abendhimmel kaum von den Hügelzügen hinter Camden unterscheiden konnte, über dem offenen Atlantik hingegen war er von Lichtfurchen gesträhnt, die ein vages Fernweh in ihr auslösten. Dabei will ich gar nicht weg von hier, dachte sie amüsiert und sah zu, wie die Katze, die ihr im Sommer zugelaufen war und der sie noch immer keinen Namen gegeben hatte, über die Treppe aufs Deck lief und im Haus verschwand. Michael und sie hatten das Cottage vor vier Jahren gekauft, nach seinem Unfalltod im September letzten Jahres war sie vor dreieinhalb Monaten in die USA gezogen – in all dieser Zeit hatte sie nicht einen einzigen Schuss auf der Insel gehört. Im Bundesstaat Maine wurde leidenschaftlich gejagt, aber auf Spruce Head Island gab es kein Großwild. Umso beunruhigender war der Schuss, der gefallen war.

      Sie verließ das Deck und ging an den Rand ihres Grundstückes, um in den ehemaligen Steinbruch hinunterzuschauen, in dessen großflächiger Sohle sich das Werkareal von Norwood Lobster befand: Vor einer der Lagerhallen parkte ein Kühllastzug von SeaMazz; der Fahrersessel des Hubstablers, der hinter dessen offenen Hecktüren stand, war unbesetzt, auf seinen hochgefahrenen Gabeln stapelten sich PVC-Transportkisten für Hummer. Neben dem Hubstapler standen eine Frau und drei Männer um einen weiteren Mann, der einen Schutzhelm trug und am Boden lag. Falls die Kugel ihn getroffen hatte, war der Fleck, der sich auf Höhe seines Oberkörpers auf dem Asphalt ausbreitete, Blut. Der Gegenstand neben seinen Füßen war vermutlich ein Schraubenschlüssel, aus der Tasche seines Overalls gerutscht. Corinna trat zurück und duckte sich, als wolle sie nicht bei etwas Verbotenem überrascht werden; sie hatte sich nicht dagegen sträuben können, das Werkareal als Tatort zu betrachten und wie die Kommissarin, die sie noch vor einigen Monaten gewesen war, auf Verdächtiges zu achten. Der erste Eindruck an einem Tatort war der wichtigste, das wusste sie. Wenn der Mann vom Schuss getroffen worden war, musste er in der Nähe ihres Standortes abgefeuert worden sein. Sie steckte den Zeigefinger in den Mund, hielt ihn in die Luft und stellte fest, der Wind wehte aus Südost, also vom Meer her: Darum hatte sie den Schuss so deutlich gehört.

      Sie ging am Rand des Abgrundes entlang und suchte den Boden mit den Augen nach Spuren ab, bemüht, an nichts zu denken und mit offenen Sinnen und ohne Erwartungen wahrzunehmen, was sie sah, hörte und roch, wie sie es bei der Kripo Aarau gelernt hatte. Auf der Suche nach dem Detail, das nicht ins Bild passt. »Es gibt immer etwas, was man nicht sieht.« »Das Unsichtbare ist genauso wichtig wie das Sichtbare.« Die Sätze ihres älteren Kollegen Hostettler, die sie anfangs sanft und mit der Herablassung der Anfängerin belächelt hatte, gingen ihr durch den Kopf und sie musste schmunzeln. Dass der Schütze die Patronenhülse zurückgelassen hatte, war unwahrscheinlich, trotzdem bückte sie sich nach jedem glänzenden Gegenstand, den sie sah, ohne ihn anzufassen. Sie fand einen Schlüsselring aus Metall, an dem keine Schlüssel hingen, die silberne Kappe eines Filzstifts, eine Haarspange und den Kronkorken einer Bierflasche. Die einzigen Geräusche kamen von den Kühlaggregaten von Norwood Lobster und einem Lobsterboot im Becken von Seal Harbor, in der Luft hingen der stechende Gestank von Hering, der als Köder in den Hummerkörben diente, und die Ahnung von Diesel.

      Sie hatte das Grundstück ihrer Nachbarin Linda Russo durchquert und ging auf der Wiese von Wanda und Robert Nyström, die einen Teil des Jahres in Florida verbrachten, vorsichtig bis zum Rand des Abbruchs:

      Die Frau auf dem Werkareal lief eben in das Wellblechgebäude, in dem sich die Büroräume befanden, zwei der Männer kauerten sich neben dem Liegenden hin, der dritte entfernte sich ein Stück von ihnen, wobei er mit dem Handy telefonierte. Wie lange würde es dauern, bis die Ambulanz und die Streifenwagen der Rockland Police oder vom Sheriff von Knox County auf der Insel auftauchten? Privatdetektiv Matt Dennison, mit dem sie befreundet war, wusste bestimmt, in welchen Fällen auch die Maine State Police, der Coroner und das Maine Bureau of Investigation alarmiert wurden. Sie fühlte eine Sehnsucht nach ihrem früheren Beruf, was sie irritierte und verärgerte. Dicht am Rand des Abbruchs lag ein Zigarettenstummel, daneben war das Gras auf einer kleinen halbrunden Fläche niedergedrückt, als habe sich jemand auf ein Knie niedergelassen. Sie hütete sich, die Kippe anzufassen, ging aber daneben in die Hocke: Der Filter trug keine Spuren von Lippenstift, dafür aber Abdrücke von Zähnen. War der Schütze oder die Schützin so nachlässig gewesen, eine DNA-Spur zurückzulassen? Er oder sie hatte das Motorrad nahe der Rockledge Road abgestellt, war an den Rand des Abbruchs getreten, hatte sich auf ein Knie niedergelassen, angelegt und gezielt, Luft geholt, den Atem angehalten, sorgsam ausgeatmet und abgedrückt. Übersah sie etwas? Die Entfernung zum Mann am Boden betrug etwa zweihundert Meter, eine Distanz für einen versierten Schützen, einen Jäger, einen ausgebildeten Scharfschützen der Army, einen Sniper. Waren die Nyströms in Florida oder auf Spruce Head Island? Der Parkplatz vor ihrem Cottage war leer, vielleicht stand ihr Saab in der Garage. Sie suchte die Wiese gründlich ab und lief dann, weil sie weder Spuren von Schuhen noch von Reifen fand, zur Garage der Nyströms und spähte durch das Fenster im Tor: An der Rückwand stapelten sich Reifen, eingeschlagen in Plastikbahnen; an der Stelle, an der sonst der Wagen stand, hatte sich ein Ölfleck auf dem Beton ausgebreitet. Robert Nyström war offenbar damit beschäftigt, den Vorplatz mit Kies auszulegen; auf dem Stück, das er noch nicht geschafft hatte, fand sie den Abdruck einer Schuhsohle mit ausgeprägten Rillen in der Erde, daneben ein sauber ausgestochenes Loch, dick wie ein Finger, bestimmt vom Ständer eines Motorrades, und die kurze, aber tiefe Spur eines Reifens mit grobem Stollenprofil.

      Corinna lief an den Rand des Abgrundes zurück und schaute im selben Moment auf das Werksgelände hinunter, in dem bei Norwood mit leisem Ploppen die Natriumdampflampen ansprangen; der telefonierende Mann riss die freie linke Hand vor die Augen und wandte sich schnell ab. Die Lampen tauchten nicht nur das Gelände nachts in ein kaltes, taghelles Licht, sondern auch die Häuser am Rand des Steinbruches und brachten ihre Bewohner um den Schlaf. Die Lichtverschmutzung war Bestandteil der Beschwerde ans Selectboard gewesen, die von ihren Nachbarn David Byrd und seinem Lebenspartner Jeff angeregt und von nahezu allen Bewohnern der Insel


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