Gehirnstation. Marie Louise Fischer
Читать онлайн книгу.
Marie Louise Fischer
Gehirnstation
Roman
SAGA Egmont
Gehirnstation
Gehirnstation
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1968 by Bertelsmann Verlag, Germany
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711718810
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
1
Oberarzt Dr. Carl Westhaus trat lautlos ins Zimmer. Angelika schlief tief, fest, mit leicht geöffnetem Mund. Ein rundes, gelöstes Kindergesichtchen, warm vom Schlaf, mit verwuschelten, dunklen Haaren. Die Hände mit den halbgeschlossenen Fäusten auf dem Kopfkissen — wie ein Baby.
Angelika sollte noch an diesem Vormittag operiert werden. Der Oberarzt beugte sich über sie und schob das linke Augenlid sachte zurück. Die Kleine rührte sich nicht. Das Schlafmittel, das man ihr schon am gestrigen Abend gegeben hatte, wirkte immer noch. Sie würde nichts davon merken, wenn man sie in den Operationssaal bringt. Sie ahnte nicht einmal, was ihr bevorstand.
Lange blickte Dr. Westhaus auf Angelika. Selber so ein kleines Mädchen haben … ein Kind, das ihm allein gehörte, sein Kind … oder vielleicht einen Jungen … frech, ein bißchen vorlaut … Er, Carl Westhaus, könnte ihm zeigen, wie man auf die Bäume klettert oder mit einem Bogen schießt….. er müßte sich natürlich beeilen … immerhin, mit seinen achtunddreißig Jahren …
Dann dachte er unvermittelt: Hoffentlich klappt bei Angelikas Operation alles!
Die aufgehende Tür riß Dr. Carl Westhaus aus seinen Gedanken. Er richtete sich auf und drehte sich um.
Schwester Sigrid, die Stationsschwester, die hübsche blonde Sigrid mit den braunen Augen, der ihre weiße Arbeitstracht wie ein Modellkleid stand, trat ein. Frisch, adrett wie immer, ein Lichtblick in diesem Haus der kranken Menschen.
Das war es ja auch gewesen, was ihn damals an ihr so angezogen hatte.
Dennoch dachte er jetzt: Ausgerechnet…
»Carl!« Ihre Augen leuchteten freudig auf. Sie zog die Tür rasch hinter sich zu.
Dr. Westhaus legte den Finger auf die Lippen, obwohl er wußte, kein Lärm der Welt hätte Angelika aufwecken können. Sigrids Begrüßung bereitete ihm Unbehagen. Es war ihm nicht recht, daß er ihr hier begegnete. Er wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen.
»Wie hat die Kleine die Nacht verbracht?« fragte er.
»Gut«, sagte Sigrid schnell. »Hör mal, Carl, ich muß unbedingt mit dir sprechen.«
»Aber doch nicht jetzt!«
»Wann denn? Wann sonst?« Ihre Stimme bekam einen unangenehmen Beiklang, wie immer, wenn sie erregt war. »Du hast ja nie Zeit für mich. Nie mehr. Früher …«
»Schrei nicht so!«
»Das ist alles, was du sagen kannst: Schrei nicht so!« Sie trat zu ihm hin, faßte ihn an den Kittelaufschlägen, ihre Augen baten. »Bitte, Carl — was ist nur los mit dir? Ich — ich habe heute abend frei. Könnten wir nicht … Kann ich nicht zu dir kommen?«
Langsam, mit Nachdruck, löste er ihre Hände. Er sah über sie hinweg, hatte ein schlechtes Gewissen, er wußte, daß er ihr weh tat, daß er im Unrecht war. Und dennoch sagte er:
»Nein. Es geht nicht. Ich bin mit eine paar Kollegen verabredet.«
Er log. Es stimmte nicht, was er sagte — und er schämte sich seiner Lüge. Doch wie hätte er ihr sagen können, daß ihn nichts mehr an sie band als die Erinnerung an eine Leidenschaft, die in sich zusammengefallen war, wie ausgebranntes Feuer … Sie war ihm gleichgültig, sie war ihm in den letzten Wochen immer fremder geworden, obwohl er sich gegen dieses Gefühl gewehrt hatte. Er hatte ihr nichts mehr zu sagen, und als er ihr jetzt gegenüberstand, fragte er sich verwundert, ob es wirklich einmal eine Zeit gegeben hatte, in der er glücklich war in ihren Umarmungen, in der er ihr zärtliche Torheiten zugeflüstert hatte und ihr seine Liebe beteuerte, drängend, hungrig nach ihrer Liebe und Hingabe.
Sie trat zwei Schritte zurück. Ihre Augen wurden böse.
»Kollegen —!« sagte sie spöttisch. »Sag doch lieber gleich — Skat klopfen!«
»Genau. Skat klopfen.«
»Früher —«, begann sie wieder, doch er hob beschwörend die Hände.
»Um Himmels willen — du hast eine seltene Begabung, ein Gespräch zur unrechten Zeit am unrechten Ort anzufangen. Ich muß mich jetzt vorbereiten. Der Professor ist sicher schon hier, und wir wollten Angelika um neun operieren.« Er trat an sie heran, hob mit der Hand ihr Gesicht hoch, und seine Stimme wurde weicher, begütigend. Er wollte Zeit gewinnen, in der Hoffnung, daß sich alles von selbst lösen würde. Und einmal auch mit ihr sprechen, versuchen, ihr alles zu erklären, wenigstens versuchen, obwohl er keine Hoffnung hatte, sie würde es verstehen. »Wir wollen uns in den nächsten Tagen einmal aussprechen. Bestimmt. Du kommst zu mir, und wir wollen in aller Ruhe … sei bitte nicht so ungeduldig. Ich muß jetzt gehen. Es wird vielleicht nicht einfach sein mit der Kleinen.« Er blickte kurz zu Angelika hinüber, die im Schlaf den Daumen in den Mund gesteckt hatte.
»Du brauchst dich gar nicht vorzubereiten.« In Sigrids Stimme schwang leise Schadenfreude mit. »Es wird nicht operiert.«
Dr. Westhaus starrte sie an. »Aber wieso denn? Was ist los?«
»Abgeblasen. Vor einer halben Stunde.«
»Warum, um Himmels willen?«
Schwester Sigrid zuckte mit den Schultern. »Soviel ich weiß, ist der Alte plötzlich abberufen worden. Jedenfalls hat es geheißen, Angelika wird operiert, wenn er zurückkommt.«
»Wo muß er denn hin?«
Sigrid zuckte mit den Schultern.
»Aber — das ist doch kein Grund«, sagte Dr. Westhaus. »Ich selber könnte …«
»Natürlich kannst du das genausogut wie der Professor. Aber er will das nicht. Er läßt keinen anderen ran. Er ist ein bißchen komisch geworden in der letzten Zeit. Vielleicht hat er Angst, du könntest ihm die Privatpatienten abspenstig machen. Alles schon dagewesen.«
»Unsinn! An so was denkt der Alte nicht mal im Schlaf. Ist er noch im Hause?«
»Weiß ich nicht.« Und wieder versuchte sie: »Könntest du deine Freunde heute abend nicht mal versetzen, Carl? Ich wäre so furchtbar glücklich …«
Sie verstummte, als sie in seine Augen sah. Sein Blick war abwesend, nachdenklich, er sah sie gar nicht mehr, und sicher hatte er auch nicht gehört, was sie gesagt hatte. Heiße Bitterkeit stieg in ihr hoch, verschloß ihr den Mund, ließ ihr Gesicht brennen. Wie konnte er sich nur so verändert haben. Was war nur los mit ihm? Hatte er sie — satt? Wie konnte das ausgerechnet ihr passieren? Warum hatte sie sich so besinnungslos verliebt, obwohl sie früher immer einen klaren Kopf behalten