Mann umständehalber abzugeben. Hanne-Vibeke Holst

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HANNE-VIBEKE HOLST

      Erster Teil

      Erst als wir rechter Hand Riga überfliegen und ich weiß, daß ich auf dem Heimweg bin, spüre ich seine Nähe. Die Sehnsucht überfällt mich wie der völlig überraschende Biß eines Raubtiers – schockierend und ohne Vorwarnung, so daß ich die Augen schließen und dagegen ankämpfen muß.

      »Ist Ihnen nicht gut?« Eine Stewardeß beugt sich über mich, und ich versichere ihr, daß ich okay bin, nehme aber doch das Glas Wasser, das mir routinemäßig angeboten wird.

      Paul. Ein Sommer und eine Revolution liegen zwischen uns, und ich habe in diesen Wochen, in denen ein Imperium zusammenbrach und eine Demokratie geboren wurde, an ihn weder denken können noch wollen. Oder doch. Manchmal, ganz plötzlich, in kurzen, aufflackernden Momenten, spürte ich ihn – in der Nacht, als die Panzer kamen und ich das erste Mal in meinem Leben bereit war, für eine Sache zu sterben, aber mit ansehen mußte, wie das andere für mich taten. Und als sie das Feliks-Dzieržyński-Denkmal umstürzten, da war es Pauls Hand, nach der ich griff, und erst hinterher, als wir wieder Luft holen konnten, wurde mir bewußt, daß es eine fremde, schwere Hand war, die ich so fest drückte.

      Das Ironische dabei ist, daß niemand den ganzen Ereignissen gegenüber mehr Abstand haben könnte als gerade Paul. Paul ist ein Kindskopf, ein frankophiler Liebhaber und ein verdammt guter Fernsehreporter. Er gehört zu der Sorte, der ich inzwischen entwachsen bin, aber nichtsdestotrotz war es sein Bett, in dem ich an dem Morgen aufwachte, als ich losfahren sollte, vor fast einem Jahrhundert. Irgendwo sagte es Klick in dieser Nacht, die erfüllt war mit Flüstern und Rufen, und zum ersten Mal ahnte ich eine Messerspitze Verdruß darüber, daß ich wegfahren mußte. Wegfahren von der Möglichkeit, ihn laut diskutierend in der Kantine oder auf dem Redaktionsflur zu treffen, wie es so oft geschehen war. Wegfahren von einem Sommer, der vielleicht noch etwas anderes als nur Arbeit, Zufälle und die übliche Reise Richtung Süden beinhaltet hätte.

      »Kommst du wieder?« fragte er, als ich mich im Morgengrauen verabschiedete.

      Ich ließ eine zweideutige Antwort in der Luft hängen und flog nach Moskau. Ich plazierte ihn in die Kategorie der one-night-stands, wohin er nach der üblichen Definition auch gehörte. Dachte ich.

      Je näher wir Skandinavien kommen, desto deutlicher zeichnet er sich ab und verdeckt das Gefühl der Souveränität und Euphorie, das ich hatte, als ich es mir in der business class gemütlich machte und mit mir selbst mit Champagner anstieß. I made it. Das waren drei Tage, in denen die Welt und auch ich erschüttert worden waren, aber ich habe es geschafft. Ich bekam meine Reportage fertig, blieb dem Lauf der Dinge immer eine Nasenlänge voraus und arbeitete tagelang, ernährte mich von Kaffee, Zigaretten und Toblerone, um auch nicht eine dieser atemlosen weltgeschichtlichen Sekunden zu verpassen. Und auch wenn ich nicht mit CNN oder BBC konkurrieren kann, so weiß ich doch, daß unter den gegebenen Bedingungen unsere Berichterstattung nicht viel besser hätte ausfallen können.

      Ich bestelle einen GinTonic bei der Stewardeß und nehme ihn mit, als ich nach hinten gehe, um zu rauchen und das Phantom zu verjagen. Ich bin müde. Wenn diese romantische Vorstellung von Paul, einem Kollegen, den ich kaum kenne, ein Ausdruck der Erschöpfung ist, so ist das entschuldbar. Jedenfalls flog ich am ersten Juli nach Moskau als Sommervertretung, weil Ferdinand, der feste Korrespondent, zu Hause wegen kombinierter Ferien und Entbindungsurlaub unabkömmlich war. Alle – mich eingeschlossen – glaubten, es würde alles still und friedlich sein, reine Routine. Und dann begann es tatsächlich, obwohl jeder ein gewisses Zittern schon gespürt hatte und meine russische Freundin Swetlana den ganzen Sommer mit einem abgehärmten Gesichtsausdruck herumlief und immer wieder murmelte: »Soon everything will be over! Finish!« Die Botschaften richteten Telefonketten ein und fertigten Evakuierungspläne an, und der kleine bleiche Brite vom Independent, der aussieht wie ein Internatsschüler, aber mit sicherer Autorität schreibt, vertraute mir an, daß »something is rotten in the KGB«. Das war keine wirkliche Neuigkeit, so daß ich sie nicht ernsthaft nachprüfte, sondern mich an die hielt, die der Meinung waren, daß ein eventueller Putsch nicht vor dem Spätsommer stattfinden würde. Oder wenn wieder ein Herbst ins Land zog und die Aussicht auf einen weiteren endlosen Winter ohne alles die Massen so weit aufwiegeln würde, daß die Forderung nach Recht und Ordnung und Lebensmitteln in den Regalen es den Erzkonservativen leichtmachen würde, die Macht zu übernehmen.

      Aber so kam er dann doch eher, der Putsch. Swetlana rief mich um zwei Uhr nachts an und bat mich weinend, »to tell the whole world, while there’s still time!«. Ich stand auf und schaute aus dem Fenster. Das, was ich sah, hatte ich mir zwar hin und wieder schon mal vorgestellt, aber trotzdem wollte ich nicht glauben, daß es jetzt zur Realität geworden war. Panzer rollten die Sadowaja hinauf. Ich rief zu Hause an und weckte den General, den Nachrichtenchef, der nicht umsonst ein alter Kriegsberichterstatter ist und in weniger als zehn Sekunden bereit war, den gesamten Apparat in Gang zu setzen.

      »Wir sind um sechs Uhr dänischer Zeit auf Sendung, okay?« Und das waren wir, und bereits in diesen allerersten Stunden, in denen niemand ahnte, was wirklich geschehen war oder geschehen würde und in der jede Angst begründet erschien, hatte ich das ganz klare, ekstatische Bewußtsein, daß ich niemals etwas Größeres als das hier erleben würde. Während ich also mein Kamerateam mobilisierte und meinen Zigarettenvorrat überprüfte, dankte ich Lenin, Ferdinand und dem General, die dafür gesorgt hatten, daß ich mich dieses Mal zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle befand. Und dann machte ich mich an die Arbeit – oder genauer gesagt, ich begab mich in diesen kollektiven Schwebezustand, in dem die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben keine Bedeutung mehr haben. Die Studenten errichteten Barrikaden, die alten Babuschki gaben den Kindersoldaten Brot, und dann waren noch wir da, die die Geschichte erzählten. Und in den intensivsten Augenblicken hatten wir das Gefühl, daß wir die Geschichte waren. Die Weltgeschichte. Ihr verpflichtet – koste es, was es wolle. Ich nippe an meinem GinTonic und inhaliere tief den Rauch meiner Zigarette. Mehrere Wochen lang hatte ich kein Privatleben mehr. Das gab mir ein Gefühl der Erleichterung, ein Gefühl der Größe allein dadurch, daß ich einfach die üblichen Familienbanalitäten ignorieren konnte, mit denen man sich sonst herumschlagen muß. Aber was ist mit Paul? Was ist mit dieser undefinierbaren Sehnsucht, die mich den ganzen Weg über verfolgt hat und mich manchmal in einem Gefühl tiefer Melancholie hat aufwachen lassen? I don’t know. Vielleicht ist es was Hormonelles. Vielleicht ist es ein Ausdruck sexueller Unterernährung. Vielleicht ist es mein Unterbewußtsein, überlege ich, das versucht, sich durch die feste Porzellanhülle zu bohren ... Aber wenn ich ehrlich bin, dann ist er wirklich ein guter Liebhaber, und wer kann das nicht gebrauchen, wenn er aus dem Krieg heimkehrt?

      Ich schlage die Herald Tribune auf und beginne zu lesen. Und als wir im Anflug auf Kopenhagen-Kastrup sind, bin ich cool, beherrscht, und meine Hände zittern nur noch leicht.

      Ich habe außer der Produktionsassistentin keinem erzählt, daß ich mit dieser Maschine komme, deshalb ist auch niemand da, um mich abzuholen. Im Prinzip gefällt mir das – ich war immer froh, daß nicht ich diejenige war, die von einem Empfangskomitee mit Flaggen und Transparenten und dem ganzen rührseligen Drumherum abgeholt wurde. Aber heute abend wäre es dennoch schön gewesen, wenn ein Mensch dagewesen wäre – Birgitte oder Kiki –, um mich zu begrüßen. Und auch wenn es sinnlos und lächerlich ist, kann ich nicht umhin, ich muß nach einem bekannten Gesicht Ausschau halten, als ich an der Glasscheibe vorbei zur Gepäckausgabe gehe.

      Aber unter den anonymen, leicht bekleideten, suchend um sich blickenden Sommerdänen ist niemand, den ich kenne – und wenn nicht der redselige, junge Taxifahrer gewesen wäre, der mich nach Østerbro fuhr, dann wäre meine Ankunft ein ziemlich trauriges Erlebnis geworden. Doch er erkennt mich sofort wieder und fragt, ob ich nicht die und die sei, und tröstet mich und schmeichelt mir gleichzeitig und läßt mich generös aufrunden, als ich den Taxischeck ausschreibe. Dafür schleppt er meine Koffer bis zur Haustür, wo ich frech übers Türtelefon meine Nachbarn über mir, die Obertunten Simon und Frank, um Gepäckträgerdienste bitte. Sie eilen die Treppe herunter, beide in schwarzen Radlerhosen und enganliegenden Boxerunterhemden – »Indian Summer, du, ist das nicht toll?« –, so daß auch eine irrelevante Heterofrau den Anblick ihrer olivgoldenen Bizeps und Trizeps genießen kann, als sie unaufhörlich plappernd das Gepäck in den vierten Stock tragen.

      »Nun, und wie war es in Moskau? Mein Gott, ist das spannend! Ja, weißt


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