Corinna, die Ponys und das Meer. Lise Gast
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Corinna, die Ponys und das Meer
Saga
Corinna, die Ponys und das Meer
© 1966 Lise Gast
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711508589
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
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1
Ich schreibe im Zuge, und obwohl er sich D-Zug nennt, schwankt er so, daß meine Schrift aussieht, als wäre ich in der vorletzten Klasse der Volksschule sitzengeblieben. Das hat den Vorteil, daß jeder, der mein hiermit beginnendes Tagebuch – man könnte auch sagen: meine Reisechronik – vor die Nase bekommt, nach spätestens zwölf Zeilen aufgibt. Diese Aufzeichnungen sind auch nicht für neugierige Augen von Verwandten bestimmt, sondern nur für mich. Vermutlich werde auch ich sie nie wieder lesen, außer vielleicht später im Altersheim, wenn ich mich Sonntag nachmittags langweile und alle anderen Besuch bekommen.
Ich fliege also per Bundesbahn einer der Nordfriesischen Inseln entgegen. Seit ich sie im Atlas gefunden habe, bin ich auf eine lange Fahrt gefaßt. Von München bis Dagebüll – und dann geht es eigentlich erst los, denn dann löst man sich vom Festland – senkrecht nach oben, beinahe durch das ganze Westdeutschland. Da ist ein dickes Tagebuch mit vielen leeren Seiten die einzige Möglichkeit, die Zeit zu verbringen, nachdem alle Kreuzworträtsel liegengebliebener Zeitschriften fast ganz gelöst wurden. Einen Nebenfluß in Spanien und eine Adelsschicht im alten China (oder Peru, ich weiß es nicht mehr) hat mir niemand im Abteil nennen können. Ich habe herumgefragt.
Diese meine Nordlandreise mache ich nicht ganz freiwillig. Die Großfürstin legte mir nahe, München zu verlassen. Sie erlebt viel Kummer mit mir, obwohl sie, gentlemanlike wie sie ist, das nie aussprechen würde. Eine andere Mutter hätte ihre Tochter heftig zur Rede gestellt: »Du bist das zweiundzwanzigste Mal unwahrscheinlich spät nach Hause gekommen, ohne mir mitzuteilen, warum, und ich ahne Furchtbares! Fort mit dir in Zwangserziehung!«
Das würde meine Altvordere nie sagen. Bei ihr heißt es etwa so:
»Du, Cor, meine Freundin in Wyk auf Föhr sucht eine Hilfe für die Hochsaison in ihrem Gästehaus. Und du hast diesen Winter manchmal gehustet. Ob Nordseeluft nicht gut für dich wäre? Geh, sei nett und hilf ihr ein paar Monate lang, sie zahlt gut, soviel ich weiß, und Trinkgelder gibt’s auch ...«
Worauf ich nach reiflichem Überlegen von zwei Minuten Dauer ja sagte. Zu Hause bei uns ist es nicht sehr ruhig, weil Mutter Schnauzer züchtet, es kläfft also von früh bis spät um unser reizendes Häuschen, und außerdem habe ich mich mit Peter verzankt, der sozusagen den Grund meines späten Nachhausekommens bildet. Bitte keine falschen Schlußfolgerungen: Peter ist Schauspieler, und unser Zusammensein kann eben nur nach der Vorstellung stattfinden, so daß es zwangsläufig spät werden muß, wenn man noch nach Waldtrudering hinaus muß.
Ich fuhr also ganz gern weg. Peter kann ruhig einmal ausprobieren, wie München ohne Corinna schmeckt, und die Nordsee hat mich schon immer gelockt. Außerdem soll es im Möwenhof, dem ich entgegeneile, Reitponys geben, auf denen die Gäste durch die Brandung sprengen. Da ich seit Jahren in München im Reitverein nicht nur förderndes, sondern auch aktives Mitglied bin, kommt mir das nicht ungelegen. Man kann Trinkgelder gut in Reitstunden anlegen, vielleicht aber darf man auch unentgeltlich ...
Eines freilich möchte ich nicht. Die Großfürstin, also Mutter, kurz gesagt, und die Besitzerin jenes Möwenhofes sind Freundinnen von früher her. Sie haben sich, sentimental, wie man in ihrer lang, lang vergangenen Jugendzeit war, vorgenommen, später ihre Kinder miteinander zu verheiraten. Nun setzten sie tatsächlich alle beide auch eine ganze Menge in die Welt, Mutter drei, zwei wohlgeratene blonde Brüder und mich schwarzes Schaf – und die Möwe da oben in der salzigen Nordseeluft noch mehr, soviel ich weiß. Mir den Mann meines Lebens aber von der vorhergehenden Generation aussuchen und vorschreiben zu lassen, das mag ich nicht. Dazu bin ich wohl schon zu erwachsen und erfahren; ich hätte es übrigens mit siebzehn auch nicht gemocht. Und mein Zerwürfnis mit Peter ist nicht so tiefschürfend, daß es nicht eine nette Versöhnung nach sich ziehen könnte. Hier also, liebe Vorfahren von Anno dunnemals, spiele ich nicht mit. Und jetzt kommt Hamburg, und ich muß zum Fenster hinausgucken, denn allzuviel gereist bin ich in meinem jungen Leben noch nicht, vor allem nie im D-Zug, was ja viele Vorzüge hat, wenn Mutter es bezahlt.
Nun sitze ich schon wieder in einem neuen Zug; denn in Hamburg mußte ich umsteigen, was ich allerdings erst im letzten Moment merkte. Aber ich kam noch gut über. Soeben trank ich Kaffee im Speisewagen und kam mir vor wie eine Gräfin von und zu. Das Land ist flach, von heckenbestandenen Knicks unterteilt, hell und freundlich. Mir gegenüber sitzt ein junger Mann mit Vollbart. Ich sehe durch ihn hindurch; denn ich kann Vollbärte nicht leiden, noch dazu bei jungen Männern.
Die Großfürstin hat mir einen Prospekt von der grünen Insel Föhr aufgedrängt. Es ist an der Zeit, mich darein zu vertiefen. Wie bei allen derartigen Schriften ist der anzusteuernde Ort natürlich das Paradies auf Erden. Sanfter Wellenschlag, Jodwinde – ich bin bisher immer ohne Jodbefächelung ausgekommen und dabei so gut gediehen, daß ich beim Anprobieren von neuen Hosen dankbar aufatme, wenn die Verkäuferin die Umkleidekabine verläßt, ehe ich den Bund zuziehe – und dreizehn Dornröschendörfer. Na schön.
Schon wieder bin ich umgestiegen, diesmal mit Hinüberlaufen zu einer Kleinbahn, die aus zwei Waggons besteht. Himmel, wer da alles mit will! Frauen mit Kindern auf dem Arm und Körben, in denen Hühner gackern, bei Fuß, und Männer, die fürchterlichen Tabaksqualm von sich geben. Beim Umsteigen springt einen der Seewind an. Das Abenteuer beginnt.
Leider sitzt mir der Vollbart wieder gegenüber. Ich hoffte, er führe weiter nach Sylt und stürzte sich dort ins mondäne Badeleben. Mit solch einem Bart kann man unmöglich ein Dornröschendorf heimsuchen wollen, das ist ein Widerspruch in sich.
Wir zuckeln durchs Flachland. Eine Station heißt Blocksberg, wiederum ein Widerspruch. Und jetzt kommt Dagebüll. Alles greift alarmiert zum Gepäck, aber vom Meer sieht man noch nichts. Aha, der Deich ist davor. Unser Bähnlein nimmt dreimal Anlauf, um bis zum Hafen zu gelangen. Ich wäre nicht böse, wenn es aufgäbe und zurückführe – und ich mit ihm. Auf einmal erscheint mir das Ganze fragwürdig und dumm. Eine Insel. – Insel hat so etwas Endgültiges. Ob man eigentlich dort abreisen kann, wenn es einem nicht mehr paßt? Oder ob es dann lakonisch heißt: »Tut mir leid, geht kein Schiff ...«?
Endlich Meer, Weite, sanftes Schaukeln, salzige Luft. Ich sitze vorn auf dem Fährschiff und sauge die Lungen voll. Das ist schon etwas anderes als die Münchner Luft, wenn Föhn ist!
Dagebüll bleibt zurück, es entzieht sich dem Schiff auf jene merkwürdige Art, wie Festland es an sich hat, von dem man fortgeschippert wird. Früher spielten sie dabei »Muß i denn, muß i denn ...«, später eine Zeitlang »Freut euch des Lebens ...« Hier wird nichts gespielt. Das Fährschiff ist ein nüchternes Transportmittel, ähnlich einer Straßenbahn, und die Möwen sind viel größer, als ich dachte. In dem Lustspiel »Dover-Calais« spielt Peter den Obermaat, oder möchte ihn spielen, zu blöd nur, daß er dazu einen Bart tragen muß ...
Hupp, da war etwas Hartes an meinem Kopf, besser: mein Kopf an etwas Hartem. Eine Kistenkante – Kisten sind hier überall aufgestapelt. Ich muß eingeschlafen und vornübergefallen sein. Das gibt eine bildschöne Beule an der Stirn. Egal, ich fahre nicht zum Möwenhof, um Eroberungen zu machen, sondern, um zu arbeiten. Daß ich aber hier glatt eingeschlafen bin, wo es doch so interessant, auf jeden Fall aber neu für mich zu werden anfängt ...
»Warten Sie, es blutet. Ich hab’ ein sauberes Taschentuch da«, sagt jemand