Der Moloch. Jakob Wassermann

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Der Moloch - Jakob Wassermann


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      Jakob Wassermann

      Der Moloch

      Saga

      Der MolochCopyright © 1902, 2019 Jakob Wassermann und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711488287

      1. Ebook-Auflage, 2019

      Format: EPUB 2.0

      Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

      Absprache mit SAGA Egmont gestattet.

      SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Frau Ansorge

      Erstes Kapitel

      Zwischen Podolin und Lomnitz, wo sich die Ebene aus einer flachen Mulde zu einem unscheinbaren Hügelchen erhebt, lag der Ansorge-Hof. Das Wohngebäude lehnte mit der Rückseite gegen die wilden Hecken, die den weitläufigen parkartigen Garten begrenzten. Das Haus, mit den weissgekalkten Mauern tief in die Erde gebohrt, erschien durch eine zum Tor führende Steintreppe und durch die zopfigen Verzierungen um die Fenstervierecke als ein Mittelding zwischen Bauern- und Herrenhaus. Das überhängende Ziegeldach leuchtete wie eine mächtige Kapuze brennend rot über die Landschaft. Vom Dorf war nur der Kirchturm zu sehen, denn unvermutet, durch eine Laune der Natur, erhebt sich bei Podolin ein schroffer Erdhügel, der den träg einherziehenden Fluss zwingt, ihm in weitem Knie auszuweichen. Podolin selbst liegt auf der sanfter abfallenden Seite des Hügels, ist aber gegen Süden bis hart an den Fluss herangebaut, so dass die Hauptstrasse des Dorfs nahezu die Gestalt eines S hat. Ringsumher dehnt sich wellig-ebenes Land, das nicht allzu reichlich mit Baum und Busch bedeckt erscheint.

      Zwischen dem Dorf und dem Ansorge-Hof breitete sich ein häuserloser, öder Erdstrich. Nur ein grosser Zimmerplatz lag am Flussufer, und von ihm strömte Sommer und Winter der Geruch frisch behauener Baumstämme aus.

      Die meisten Leute in der Gegend erinnerten sich genau des Tages, an welchem Frau Ansorge in einer altertümlichen vierschrötigen Kutsche von der Ostrauer Strasse her ins Dorf eingefahren war, begleitet von ihrer Dienerin Ursula, die den fünfjährigen Arnold auf den Knien hielt. Der damalige Bürgermeister hatte die Frau hinübergeführt auf den Hof, der seit mehr als hundert Jahren einem ehemals reichen und nun zugrunde gegangenen Bauerngeschlecht gehört hatte. Bald begann eine ruhige, doch unablässige Geschäftigkeit das Aussehen des verwahrlosten Gutes zu verändern. Stall und Scheune wurden instand gesetzt, Zäune aufgerichtet, der versandete Brunnen wurde tiefer gegraben, der Viehstand verbessert, neue Möbel, neue Pflüge, neues Gesinde beschafft, und das Wohnhaus erhielt ein neues Dach.

      Drei Monate früher hatten Frau Ansorges Wünsche noch andern Lebenszielen gegolten, als in der mährischen Einsamkeit Ruhe vor der Welt zu suchen. Sie hatte die Vergnügungen der Geselligkeit und alle jene Freuden geliebt, welche ihr der Reichtum ihres Mannes verschaffen konnte. Alfred Ansorge war einer der grossen Kohlenwerksbesitzer des Ostrauer Reviers gewesen. Allerdings hatten ihn seine Geschäfte gezwungen, einen grossen Teil des Jahres in der traurigen, russigen Stadt zuzubringen, aber desto schöner war dann der Gegensatz zu der in Wien, im Gebirge oder auf Reisen verbrachten Zeit. Von einer solchen Reise kehrte die Familie, Mann, Frau und Kind, anfangs Dezember nach Ostrau zurück. Die Winternacht, der sie entgegenfuhren, besiegelte das Schicksal der drei Menschen. Eine Viertelstunde vor dem Ziel lief der Eisenbahnzug auf ein falsches. Geleise und prallte in vollem Rasen gegen einen aus Schlesien kommenden Personenzug. Dieselben zusammenprasselnden Wagenteile, die dem entsetzt auffahrenden Mann den Kopf zermalmten, waren der Frau zum Schutz geworden und hatten sie und den Knaben umgeben wie die Bretter eines Sarges. Als man sie befreien konnte, lag das Kind unversehrt zwischen ihren zu einem Bett erweiterten Schenkeln. Nur ihre Augen zeigten, was in ihr vorgegangen war, als sie in dem Verlies gelegen, das Brausen des Windes im Ohr, der Rettung ungewiss, ungewiss auch, was mit dem Knaben sei. Vierzehn Tage lang vermochte sie nicht zu gehen, zu reden und zu hören. Ihre Seele schien erfroren, schien nichts mehr aufzubewahren als die furchtbaren Laute dieser Stunde, die am Rande des Lebens und am Anfang des Todes lag. Doch wie das Wasser unter der Eisdecke des Stromes fliesst, trieb ihr dunkler Wille einer neuen Form des Lebens zu.

      Der Anwalt Borromeo aus Wien, ein Bruder Frau Ansorges, ordnete die Hinterlassenschaft des Mannes, wohnte dem Begräbnis bei und nahm den Knaben in seine Obhut. Bald wurde Frau Ansorge innerlich und äusserlich ruhig; sie vermochte sich mit Den laufenden Geschäften zu befassen und bekundete sogar eine eindringlichere Teilnahme als der geschäftsgewohnte Bruder. Sie sorgte für die beste Verzinsung des Kapitals, nachdem alle liegenden Gründe veräussert waren, und kaufte, ohne ihren Vorteil zu übersehen, das Gut bei Podolin, dessen Weltentlegenheit ihre Wahl beeinflusst hatte.

      Ihr Fuss wurde vorsichtig im Schreiten wie der eines Blinden. Sie tat keinen unnotwendigen Schritt und vermied jede überflüssige Bewegung. Sie hasste alles Fahrige, Eilige, alles Springen, Laufen und Tänzeln. Was auf Rädern lief und nur entfernt einer Maschine ähnlich sah, erregte ihren Abscheu. Im Hause durften keine Wanduhren ticken, vor den Fenstern mussten Büsche gepflanzt werden, denn sonderbarerweise konnte sie weder den Anblick der Horizontlinie noch den der langhinlaufenden Strasse ertragen. Spiegel und Bilder liebte sie nicht; nichts, was an der Wand oder an der Decke hing. Ihr Bett lag flach und knapp über den Dielen.

      In solchem Kreis des Ruhens wuchs Arnold empor. Auf dem Grunde schwarzen Unheils malte sich wie etwas Rosiges sein junges Leben. Die beharrende Furcht der Mutter war eine Schranke um ihn, aber eine unsichtbare. Nicht etwas Nennbares und Wechselndes, sondern ehern und unablässig als Naturkraft wirkend, bildete sie die Quelle seiner Gewohnheiten; sein Herz blieb rein von Unfrieden, auch hatte er nichts von der Zuchtlosigkeit, die durch regellose und eifersüchtige Geselligkeit entsteht.

      Er zeigte als Kind oft ein verstocktes, ja grämliches und mürrisches Wesen. Mit zusammengezogenen Brauen und gespreizten Schrittchen stapfte er herum wie ein kleiner Bär. Dies reizte natürlich die Leute auf dem Hof zum Lachen; besonders Ursula äffte Arnolds Gebaren nicht ohne Bosheit nach. Das empörte den Knaben; denn für die Neckereien der Erwachsenen besass er damals und auch später nicht das geringste Verständnis; sie erschienen ihm als ein unrechtmässiger Eingriff in seine persönliche Freiheit. Mit schiefem Blick und zwischen die Schultern eingezogenem Kopf stand er bei solchen Gelegenheiten da, und wenn der feindliche Spott kein Ende nehmen wollte, zog er die Lippen auseinander, jappte jähzornig, machte zwei Fäuste, die er gleich Puffern links und rechts an der Brust hielt, sprang auf den Plagegeist los und biss und schlug. Doch solche Zornwütigkeit zeigte sich mit den Jahren immer seltener, und statt ihrer stellte sich eine verächtliche Blick- und Wortsparsamkeit ein, die dem Bewusstsein der Körperkraft entsprang und recht possierlich wirkte.

      Die Verlorenheit des Aufenthaltes entzog Arnold jedem Bildungszwang. Durch die weitgehenden Verbindungen Friedrich Borromeos bildete die Militärpflicht Jahre voraus keine Sorge mehr für Frau Ansorge. Sie selbst lehrte ihn lesen und schreiben. Um ihn auch weiterhin unterrichten zu können, studierte sie Tag und Nacht mit wahrer Wut, und so wurde sie seine Lehrerin in Sprachen, Geschichte, Geographie und den niederen Fächern der Mathematik. Ihn im Dunkel der Unwissenheit zu lassen, darin sah sie keine Sicherheit. In seinem fünfzehnten Jahr besass er die Durchschnittsbildung der jungen Leute seines Alters. Er hatte keinen Ehrgeiz in geistigen Dingen und fand Vergnügen an körperlicher Arbeit. Die Mutter wünschte ihn mittelmässig und so am meisten geschützt gegen die Stürme des Schicksals. Der Anschein befriedigte sie.

      In der drängendsten Zeit der aufwachenden Mannbarkeit verriet sich an ihm eine unruhige Überschwenglichkeit und Phantasterei, die seiner Natur fremd war. Da kam es vor, dass er während einer ganzen Sommernacht sich in den Wäldern herumtrieb, nach den Sternen starrte, in die Erde hineinhorchte und mit eigentümlicher Angst den Aufgang der Sonne erwartete. Ein andermal entfernte er sich in der Früh und kam erst am zweiten Tag zurück. Vierzehn Stunden war er gegangen, um zu erfahren, was hinter dem Wald, hinter den Hügeln der Ferne lag, und traurig hatte er den Heimweg angetreten, als immer wieder dieselben Äcker und Wiesen, dieselben unansehnlichen Häuschen an derselben Strasse erschienen waren.

      Bald verging das aufgeregte Wesen wieder und kehrte sich fast


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