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Читать онлайн книгу.aus Holz, in welches menschliche Gestalten und undefinierbare Muster eingeritzt waren, eine massive Klinke aus Metall, die blank poliert und an einigen Stellen schon abgenutzt war, und die dunkelroten Ziegel der Wand, die dieses alte Kunstwerk in der Mitte, dieses Tor, einrahmten, beeindruckten Jule schon sehr. Da standen sie nun. An der Eingangstür zur Kirche, die sie, wie so vieles, bisher nicht bewusst wahrgenommen hat. Der alte Mann stand schweigend neben ihr und genoss lächelnd die großen Augen seiner jungen Begleiterin, bevor er die Klinke umfasste und an der Tür zog. Eine kühle Luft drang aus dem Inneren hervor und wehte einen leichten erfrischenden Hauch auf die Haut. Mit einer Handgeste lud der alte Mann die etwas unentschlossene Jule hinein. In der Kirche war niemand außer ihnen da, so dass ihre Schritte im Raum hallten. Jule hatte keine Ahnung, warum sie hier waren. Sie war nicht so oft in der Kirche. Sie fühlte sich erst einmal ziemlich unwohl und fehl am Platz, ohne sich das erklären zu können. Der alte Mann ging ein paar Schritte vor ihr. Auf einmal kniete er kurz nieder, machte ein Kreuzzeichen und schritt in eine der Bankreihen hinein. Er setzte sich entspannt in der Mitte der Bank hin, während Jule immer noch unentschlossen da stand. Der alte Mann blickte in ihre Richtung und winkte sie zu sich. Mit vorsichtigen Schritten kam sie auf ihn zu und nahm bedächtig neben ihm Platz. Da saßen sie schweigend und lauschten der Stille. Vor ihnen breitete sich der Altar aus. Bunt bemalte Fensterbilder, die durch die Sonne von draußen erstrahlten. Sie schienen Geschichten aus der Bibel zu erzählen. Der gekreuzigte Jesus war zu sehen, eine Taube, die ihre Flügel ausbreitete und einen kleinen grünen Zweig im Schnabel hielt, weinende Frauen, die ihr
Gesicht in den Händen hielten und Wolken, die sich entzweiten und brennendes Feuer. Daneben waren noch sehr viele andere bemalte Glasscheiben. Alles wirkte von weitem wie ein Mosaikkunstwerk, das der düsteren und kalten Kirche das Leben einhauchte. Nach einiger Zeit des Schweigens und Beobachtens stellte sich in Jule eine Art Gelassenheit und Entspannung ein. Sie lehnte sich zurück und war überrascht wie geborgen sie sich auf einmal fühlte. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Ruhe. Nichts als Ruhe.
„Ich komme oft hierher“, flüsterte auf einmal der alte Mann.
„Ich sitze einfach so da und genieße die Stille. Von alleine ergibt sich ein Gespräch mit Gott, der mir einfach nur zuhört. Wenn ich hier so sitze, ist es als wenn ich ihm in meinem eigenen Herzen begegnen würde, nur dass ich es mir hier mit offenen Augen besser vorstellen kann.“
„Wer ist Gott für sie?“, fragte Jule den alten Mann.
„Gott. Hm. Gott kann man nicht in Worte fassen. Es ist eine Macht, die unser Leben lenkt, die außen, innen und überall ist. Sie vereint das Leben in sich, gebärt es und nährt es. Gott, meine Liebe, hält unser Schicksal in der Hand und verschont uns vor gar nichts. Aber Gott liebt uns und alles geschieht aus Liebe, auch wenn wir das nicht verstehen oder unsere Lebensumstände uns was anderes vermitteln wollen. Es gibt eben Sachen, die können wir uns nicht wirklich erklären.“
Jule verstand nicht so ganz.
„Sie sagen, alles soll aus Liebe geschehen? Aber das kann doch nicht sein.“
„Oh doch, das ist die Wahrheit. Sie denken wahrscheinlich jetzt an den Tod, oder an schlimme Erfahrungen oder eben an die Sachen, die gerade in der Zeitung standen, nicht wahr? Aber das geschieht auch aus Liebe. Es ist nämlich in jedem dieser Geschehnisse eine Botschaft von ihm, Gott. Es sind Geschenke, die wir lernen müssen anzunehmen. Erst durch das Zulassen von Schmerz und Tränen, erst indem wir dieses Geschenk im Laufe der Zeit verstehen lernen, eröffnet sich uns das Geheimnis und die Schönheit dessen, was wir erhalten.“
„Aber ich will solche Geschenke nicht“, sagte Jule.
Der alte Mann lachte in sich hinein.
„Wer will sie schon? Wir haben keine andere Wahl, wenn wir glücklich sein wollen. Denn Gott allein weiß den Weg zu unserem Glück, wir nicht.“
„Ich will so gerne glücklich sein, wissen sie, aber es geht bei mir nicht.“
Der alte Mann betrachtete jetzt Jule von der Seite, wie sie traurig ihren Blick sinken ließ und seufzte. Er dachte kurz nach, dann griff er mit seiner rechten Hand in die Hosentasche, nahm mit seiner linken Hand die Hand von Jule und legte ihr ein 50 Cent Stück auf die Handfläche. Jule schaute in die lächelnden Augen des alten Mannes und war überfragt.
„Stehen sie auf“, sagte der alte Mann, „ich will ihnen etwas zeigen.“
Sie gingen zurück zur Eingangstür der Kirche, wo sich ein Metallständer mit vielen Kerzen befand. Der Mann schmiss ein Geldstück in die daneben stehende Box hinein, nahm sich eine der liegenden Kerzen, zündete sie an und stellte sie in einen der vielzähligen Behälter rein. Er kniete sich hin und faltete seine Hände, seinen Blick auf das Bild von der Heiligen Mutter Gottes Maria gerichtet. Jule verstand, sie sollte einfach das gleiche machen. Als sie sich schließlich die Hände gefaltet neben dem alten Mann kniend befand, sah dieser ihren fragenden Blick und holte erneut aus.
„Wissen sie was das bedeutet, eine Kerze anzuzünden? Zwar ist nicht zu verkennen, dass damit der Raum erhellt wird und Wärme entsteht, aber das Wesentliche daran ist der Akt selbst: Man zündet ein Licht an.“
Beide schauten nun aufmerksam die brennenden Kerzen an. Nach kurzem Augenblick sprach der alte Mann weiter: „Wenn ein Licht an ist, schwindet die Dunkelheit. Ungewissheit, Angst und Unsicherheit hat keinen Platz mehr. Die Hoffnung wird lebendig, das Leben kann beginnen, verstehen sie?“
„Ja. Ich glaube, schon. Es ist symbolisch gemeint, oder?“
„Ich denke, es ist zwar ein symbolischer Akt, aber in Wirklichkeit vollzieht sich da etwas ganz fassbares: Man bekommt auf einmal nämlich das gleiche Leuchten in den eigenen Augen und fühlt sich nicht mehr so einsam und im Stich gelassen. Man spürt einfach, da erwartet mich etwas, was ich nicht klar sehen kann, was ich nicht genau weiß, aber es ist da. Man spürt es.“
Jule spürte nur, wie gut ihr diese Worte des alten Mannes taten. Er schien all die Dinge in ihr anzusprechen, die sie nie zu denken wagte und die in ihrer Tiefe schlummerten, aber nie an die Oberfläche schwammen. Ob es mit den Worten dieses Mannes zu tun hatte, ist schwer zu sagen. Die kalte Leere in ihr vermischte sich mit der äußeren Kälte in der Kirche. Doch sie war jetzt in ihr nicht allein, sondern kniete neben dem alten Mann. Sie schaute den Mann schweigend an und es fühlte sich gut an. Diese Verbundenheit, die ihr Herz berührte und die Einsamkeit langsam aufbrechen ließ. Sie bemerkte noch keine fassbare Veränderung an sich. Es schien alles in ihrem Leben immer noch schwarz und dunkel zu sein, aber die Kerze, die sie gerade angezündet hatte, beruhigte sie. Der alte Mann sagte, dass mit dem Akt des Anzündens das Leben beginnen würde und sie hoffte, es wäre so.
„Wo warst Du, liebes Kind?“, fragte die Mutter Jule von der Küche aus, als sie die Wohnung betrat. „Ich bin etwas früher von der Arbeit gekommen und machte mir Sorgen wo du bleibst.“ „Ach weißt du, Mama, mir sind heute so viele Dinge passiert, ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll“, antwortete Jule während sie sich auf ein Stuhl niedersinken ließ. Ihre Mutter stand am Herd und bereitete etwas leckeres zu Essen vor, keine Ahnung was, jedenfalls roch es lecker. „Ach Jule, was ist nur los mit dir? Du bist in letzter Zeit noch verschlossener geworden als du schon warst. Ich mache mir Sorgen wegen Dir, Liebes.“ Jule hatte nicht großartig Lust über sich zu reden. Wenn sie nur wüsste, was mit ihr los ist. Ihre Gefühle hatten keine Ordnung und sie hatte keinen richtigen Plan. Sie fühlte so vieles auf einmal und wünschte so vieles auf einmal. Aber nichts geschah und nichts tat sich. Sie hatte den Eindruck in einem Labyrinth zu irren. Was nützte es, darüber zu sprechen, wenn sie sich selbst noch nicht einmal verstanden hat. Die Begegnung mit dem alten gebeugten Mann tat ihr heute gut. Sie war traurig, als sie sich voneinander verabschieden mussten, weil jeder seinen Nachhauseweg angetreten ist. Er sagte ihr zum Ende mit einem zwinkernden Auge und einem selbstbewussten Lächeln, dass alles gut wird und sie ihren Weg finden wird, wenn sie nicht vergisst, ihre Gefühle loszulassen. „Mama“, sagte Jule plötzlich in die Stille hinein, „fühlst du dich nicht manchmal etwas verloren? Hast du nicht manchmal das Gefühl in dir gefangen zu sein und spürst einfach nur tiefe Trauer und kalte Leere?“ Ihre Mutter war überrascht, dass Jule anfing über sich zaghaft zu sprechen. Sie unterbrach das Kochen und überlegte,