Die wilden Zeiten der Théra P.. Hans-Peter Vogt

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Die wilden Zeiten der Théra P. - Hans-Peter Vogt


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sie hatte die Gemeinsamkeit ihrer Geschwister genossen und sie hatte viel gelernt. Sie fühlte sich körperlich gesund, und die vielen Freunde waren da wie immer.

      Alle ihre Aufgaben waren aber im Laufe des November schlagartig zurückgegangen. Ein neuer Lebensabschnitt hatte begonnen. Théra kehrte in ihre kleine Stadt mit dem Namen Théluan ins „Tal der Krieger“ zurück (wie das genannt wurde) und sie spürte plötzlich mit aller Macht die Veränderungen in ihrem Körper durch die einsetzende Pubertät.

      Théra würde an Weihnachten 14 Jahre alt werden. Jetzt war es Mitte November und sie fühlte sich unerwartet leer und ausgebrannt.

      Sie hatte in den vergangenen zwölf Monaten einen kleinen Busen, eine Taille und richtige Hüften bekommen. Ihr Gesicht hatte den kindlichen Ausdruck verloren, und sie merkte, dass sie noch immer weiterwuchs. Sie fühlte ein ständiges Ziehen in ihrer Brust. Ihre Stimme wurde voller. Die Proportionen veränderten sich laufend weiter. Die Regelblutung kam jetzt fast immer in den gleichen Abständen. Das war immerhin ein gutes Zeichen. Sie wusste das.

      Innerlich war sie über den Sommer weiter gereift. Sie war ihren Altersgenossinnen weit vorraus, aber diese plötzliche Leere und Unsicherheit verwirrten Théra. Das war neu und das verunsicherte Théra nur noch mehr.

      Sie bemerkte, dass sie den Jungen nachschaute. Es kribbelte in ihrem Bauch. Sie sehnte sich auf einmal nach einer Berührung und nach Zärtlichkeit. Sie wollte den Jungen gefallen. Das hatte es noch nie gegeben. Die väterliche Zärtlichkeit von Papa konnte ihr jetzt nicht mehr helfen.

      Es nutzte Théra in dieser Situation nichts, dass sie von den Indios in ihrem Tal vergöttert wurde. Sie hatte in den letzten Jahren durch ihre „heilenden Hände“ viele Kinder der Gemeinde aus Indios gesund gepflegt, die in ihrem Tal lebten. Sie spürte, wenn in den Frauen das Leben wuchs. Sie hatte Trost gespendet, und sie hatte Menschen seelisch aufgebaut. Sie erweckte Vertrauen, und sie konnte wunderbar zwischen streitenden Parteien vermitteln. Sie hatte seit ihrer Kindheit Stück für Stück gelernt, die Gedanken anderer Menschen zu lesen und zu steuern, aber sie war sich immer bewußt, dass sie ein Teil dieser Gruppe aus Indios war. Papa pflegte stets zu sagen: “Wir sind Diener unserer Freunde”, und Mama war als Leiterin der archäologischen Ausgrabung nicht nur die Chefin eines Großteils der indianischen Bevölkerung in ihrer Stadt, sie war für die Indios wie eine fürsorgliche Mutter. Théra war in diesem Denken aufgewachsen.

      Sie hatte Zugang zu Bereichen des Gehirns, die sich anderen normalerweise verschließen. Während normale Menschen nur knapp 10 Prozent ihrer Gehirnmasse nutzen, konnte Théra über 30 Prozent ihrer zerebralen Kapazität steuern, und das eröffnete ihr ungeheure Möglichkeiten. Sie konnte problemlos mehrere Dinge auf einmal und mit ganzer Kraft tun, also das, was man als die Fähigkeit zum Multitasking bezeichnet. Es ging nicht nur um Dinge, wie schulisches Lernen. Mathematik, Physik und Chemie fielen Théra leicht. Sie hätte ohne weiteres ein zweiter Archimedes oder Einstein werden können, aber ihr primäres Interesse lag nicht auf diesen Gebieten. Geografie, Biologie und Sternenkunde interessierte Théra schon mehr. Sie würde ohne Kompass jedes Ziel erreichen, indem sie sich nur nach dem Stand der Sterne und der Landkarte richtete.

      Es waren vor allem die Sprachen, die Théra keinerlei Schwierigkieten bereiteten. Papa und ihr großer Bruder Para hatten ihr gezeigt, was Vater immer als “die Weltsprache” bezeichnete. Das war ein Gemisch aus Lauten, das sich an die jeweilige Landessprache der Runde anpasste wie ein Medium. Mit Hilfe der Weltsprache verstand Théra alles, was ein Chinese oder ein Marokkaner sagte, und umgekehrt. Diese Weltsprache floß in Form von Energie in die Köpfe der Gesprächspartner, so dass der Japaner in Théras Anwesenheit sogar verstehen konnte, was der Perser, der Inder oder der Norweger in seiner Sprache sagt, wenn Théra das nur wollte.

      Sie konnte diese Weltsprache nahtlos in die Sprache der Tiere übergehen lassen, und dann mit Krokodilen, Schlangen, Käfern oder Vögeln kommunizieren, während sie sich gleichzeitig mit ihren Mitmenschen unterhielt und mathematische Gleichungen löste. Es war eine Fähigkeit, die es in dieser ausgeprägten Weise nur in Théras leiblicher Familie gab. Papa hatte das, und all ihre Geschwister hatten das auch. Es gab nur wenige Einschränkungen dieser Multitaskingfähigkeit, dann nämlich, wenn Théra sich mit ganzer Kraft in eine Art Hypnosezustand versetzen musste, um Heilungsprozesse bei schwierigen Krankheiten durchzuführen. Dies erforderte ihre volle Konzentration.

      Bereits als kleines Kind hatte Théra von ihrem großen Bruder Para gelernt, sich in pure Energie zu verwandeln, und in die Körper und Gehirne anderer Menschen zu schlüpfen. Sie konnte sich dort umsehen, wie in einem Raum voller Gegenstände. Sie konnte Fehlfunktionen erkennen, Zellteilungen oder die Produktion von körpereigenen Stoffen stimulieren, und die Verbreitung von krank machenden Viren eindämmen.

      Als erste in ihrer Familie hatte Théra die Fähigkeit entwickelt, das Denken anderer Menschen durch direkte Steuerung chemoelektrischer Impulse im Gehirn zu verändern, und dies auch von außen zu tun, indem sie verschiedene physikalische Formen von Energie bündelte, und in die Köpfe der Mitmenschen schickte. Théra musste nicht einmal mehr in unmittelbarer Nähe dieser Menschen sein. Hatte sie den Kontakt einmal aufgenommen, konnte sie diese Menschen auf große Distanzen hinweg steuern, wie ein ferngelenktes Auto.

      Anfangs laugten diese Vorgänge Théra aus, so dass sie regelrecht krank davon wurde. Heute hatte sie einen Weg gefunden, solche Prozesse schonend und spielerisch zu steuern, ohne direkte Gefahr für ihr eigenes Leben. In diesen Dingen war Théra selbst in ihrer Familie ein Ausnahmetalent, aber manchmal war es notwendig einen extrem starken Energieaustausch vorzunehmen, dann brauchte Théra anschließend die Hilfe von Papa oder von ihren Geschwistern, um ihre verloren gegangenen Energiereserven wieder aufzufüllen.

      Sie konnte ihre physische Form ändern und sich in Tiere verwandeln. Sie konnte für andere unhörbare akkustische Wellen aussenden und auch empfangen, und Théra hatte als erste in ihrer Familie gelernt, die Schwerkraft zu überwinden, indem sie sich auf Gegenstände konzentrierte, um sie zum schweben zu bringen. Nur mit Hilfe ihrer Energie konnte Théra einen Mehlsack anheben, ohne ihn anzufassen, einen LKW in voller Fahrt zum Stehen bringen, oder ein Feuer mit der Kraft ihrer Energie entzünden. Inzwischen konnten das andere in ihrer Familie zwar auch, so wie Théras kleiner Bruder Pesa oder ihre Schwester Clara, aber Théra war in diesen Dingen unübertrefflich, und diese Fähigkeiten nahmen von Jahr zu Jahr weiter zu.

      Es war eine ungeheure Kraft, die ihr durch ihren Onkel Patrick geschenkt worden war. Einem Onkel, der irgendwo im Raum zwischen Leben und Tod schwebte, und den sie rufen konnte, wenn sie seine Hilfe braucht, egal, wo sie gerade war. Dieser Onkel war nur für Théra, für ihre unmittelbaren Geschwister und auch für ihren Vater sichtbar, und mit Théra schien Onkel Patrick besondere Ziele zu verfolgen.

      Théra wusste nichts von komplizierten wissenschaftlichen Erklärungen dieses Phänomens, so es sie denn überhaupt gab, aber es war da. Théra sah die Auswirkungen ihrer Fähigkeiten. Von ihrem Vater hatte sie gelernt, diese Eigenschaften in den Dienst einer höheren Macht zu stellen, und sie als ein Geheimnis zu bewahren. Kein Wunder, dass Théra dank dieser enormen Intelligenz bereits in ihrer Kindheit zweimal eine Klasse übersprungen hatte.

      Théra war immer noch ein menschliches Wesen, mit Gefühlen, Hoffnungen und Liebesbedürfnissen, aber sie galt den Indios als die Tochter der Sonne, genau so, wie schon ihr Name auf altindianisch hieß. Sie stand zwar irgendwie auf gleicher Stufe mit den Indios ihres Viertels und doch wieder nicht.

      Jetzt veränderten die Hormone ihr ganzes Wesen, wie durch den Würgegriff einer unsichtbaren Faust. Es war bei Théra nicht anders, als bei anderen Jugendlichen. Trotz ihrer ungeheuren Kräfte war Théra ein Mensch aus Fleisch und Blut, und sie war diesem Wachstumshormon ausgeliefert, wie alle andern in ihrem Alter auch. Ohne die Liebe ihrer Familie wäre Théra nichts gewesen. Diese Liebe gab ihr Halt, auch jetzt, aber diesem Griff konnte sie sich nicht entziehen. Alles an ihrem Körper und ihren Gefühlen war im Umbruch. Sie entwickelte unbekannte Sehnsüchte und sie fühlte sich das erste Mal in ihrem Leben schutzlos. Es war zum Verrücktwerden.

      Sie hatte gelernt, anderen zuzuhören, aber wer hörte ihr zu und


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