Die kapitalistische Gesellschaft. Boike Rehbein
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Boike Rehbein
Die kapitalistische Gesellschaft
UVK Verlag · München
Prof. Dr. Boike Rehbein lehrt Gesellschaften Asiens und Afrikas an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Umschagmotiv: © istockphoto, bCracker
© UVK Verlag 2021
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Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
utb-Nr. 5765
ISBN 978-3-8252-5765-1 (Print)
ISBN 978-3-8463-5765-1 (ePub)
1 Einleitung
Das Buch bietet einen Gesamtüberblick über die Funktionsweise der kapitalistischen Gesellschaft. Es erklärt, wie Wirtschaft, Politik, Recht, Medien und Wissenschaft zusammenwirken, um eine hierarchische Ordnung zu errichten und zu erhalten. Dabei geht es nur am Rande um ökonomische Daten. Die grundlegende These des Buches lautet, dass Kapitalismus eine Form der Ausbeutung ist, die ohne andere Formen des Wirtschaftens – beispielsweise Tausch, freundschaftliche Hilfe, Ehrenamt und Markt – nicht existieren kann. Der Kapitalismus ist auf nicht-kapitalistische Gesellschaftsstrukturen angewiesen, usurpiert und transformiert sie jedoch. Damit verwandelt er die Gesamtheit der Strukturen in eine kapitalistische Gesellschaft. Diese These stützt sich auf die Kapitalismustheorie des Historikers Fernand BraudelBraudel, Fernand.
Über BraudelBraudel, Fernand hinausgehend ergänze ich die These um die Behauptung, dass es sich bei der kapitalistischen Gesellschaft um eine Herrschaftsordnung handelt. Kapitalismus ist demnach nicht vorrangig eine Wirtschaftsform oder eine Produktionsweise, sondern eine Vermittlung von Herrschaft. Der Kapitalismus dehnte sich über die Welt aus, nachdem er von den Herrschenden Europas als Prinzip angenommen wurde, zunächst im Kolonialismus, sodann mit der Produktion einer Lohnarbeiterschaft.
Im Kapitalismus sind fast alle Menschen Abhängige, wie das in vorkapitalistischen Herrschaftsordnungen auch der Fall war. Die kapitalistische Gesellschaft unterscheidet sich von früheren Ordnungen, indem sie auf der Trennung von Kapital und Arbeit beruht. Die Einführung der Lohnarbeit drehte die Beziehung zwischen Kapitalismus und Gesellschaft um – die Gesellschaft ist nun auf das Kapital angewiesen. Ohne Arbeit oder eine Hilfe durch die Besitzer des Kapitals würden wir verhungern. Die Bedingungen stellt nicht die Gesellschaft, sondern das Kapital. Die Besitzer des Kapitals oder Kapitalisten sind Menschen, die Profite aus Investitionen nutzen, um ihr Kapital zu vermehren und sich Privilegien zu sichern, die ich in ihrer Gesamtstruktur als Herrschaft bezeichne. Die Kapitalisten umfassen weniger als 0,1 Prozent der Bevölkerung und rekrutieren sich fast vollständig aus einer sozialen Klasse. Die unsichtbare Ordnung sozialer Klassen ist die charakteristische Struktur kapitalistischer Gesellschaften.
Im Gegensatz zur landläufigen Meinung geht es im Kapitalismus nicht um Geld, sondern um Kapital. Geld und andere Formen von Vermögen dienen den meisten Menschen nur als Mittel zum Konsum, verringern sich also. Kapital hingegen wirft einen Profit ab, der zur Kapitalvermehrung eingesetzt werden kann. Der Einsatz von Geld und Profit für den Konsum hat mit Kapitalismus nichts zu tun. Kapital hingegen ist ein Mittel, um die ungleiche Verteilung von Privilegien zu sichern. Diese Ungleichverteilung begründet die kapitalistische Herrschaftsordnung. Die so genannte Wirtschaft ist lediglich ein Aspekt der kapitalistischen Gesellschaft, zu deren Verständnis man die Gesamtheit der Institutionen und Strukturen betrachten muss. Das ist Aufgabe des Buches.
Auch wenn ich die Forschung für dieses Buch noch nicht abgeschlossen habe und viele Thesen einen vorläufigen Charakter haben, erscheint es mir notwendig, das Manuskript in der vorliegenden Form zu veröffentlichen. Denn es gibt meines Wissens leider kein Buch, das verständlich zeigt, wie das System der kapitalistischen Gesellschaft in seiner Gesamtheit funktioniert. Bislang verfügbare Werke konzentrieren sich auf einzelne Aspekte, Auswüchse und Regeln. Überblickswerke beschäftigen sich fast ausschließlich mit wirtschaftswissenschaftlichen Sachverhalten. Die Fragmentierung des Wissens, also die Konzentration auf isolierte Probleme, stärkt das System, weil jede isolierte Erkenntnis oder Maßnahme sich in die Gesamtheit der Zusammenhänge einfügt und diese dadurch in ihrer Funktion verbessert oder so angepasst werden muss, dass sie mit ihrer ursprünglichen Intention nichts mehr gemeinsam hat. Das vorliegende Buch will demgegenüber den Zusammenhang von Wirtschaft, Politik, Recht, Gesellschaft und Öffentlichkeit im Kapitalismus erklären.
Das Verständnis der kapitalistischen Gesellschaft wird durch die gegenwärtige politische Konstellation erschwert. Die vorherrschende Meinung, die ich als Naturalismus bezeichne, suggeriert, das System beruhe auf naturwissenschaftlichen Grundlagen, die nicht verändert und vielleicht nicht einmal verstanden werden können. Die Gegner der vorherrschenden Meinung tendieren zu Verschwörungstheorien, da die beobachtbaren Prozesse dem Naturalismus ganz offensichtlich widersprechen und eine kohärente Erklärung der gegenwärtigen Gesellschaft nicht zur Verfügung steht.
Die kapitalistische Gesellschaft ist sehr komplex. Sie wird sicher nicht von einer winzigen Gruppe gesteuert. Vielmehr tragen wir alle zum System bei, und wir alle haben ein – wenn auch meist geringes – Maß an Macht, Veränderungen zu bewirken. Fast jede Verschwörung ist kontraproduktiv. Sie sorgt für Sand im Getriebe und bei Aufdeckung für Ärger, weil das Wissen über die Zusammenhänge seitens der Verschwörer nie ausreicht, um alle Folgen zu überblicken. Das Buch wird zeigen, dass das System besser funktioniert, als eine Verschwörung es sich hätte ausdenken können. Andererseits handelt es sich beim Kapitalismus auch nicht um ein selbsterzeugendes System, das unveränderlichen Naturgesetzen unterliegt. Das System wurde durch das Zusammenspiel von Menschen mit unterschiedlichen und oft entgegengesetzten Interessen geschaffen und wird auf die gleiche Weise aufrechterhalten. Es ist keine natürliche oder naturgesetzliche Angelegenheit.
Das vorliegende Buch sucht beide Richtungen zu widerlegen. Beide verdecken, dass der Kapitalismus und die dahinterstehende Herrschaftsordnung sich an der Wurzel des Problems befinden. Sie befürworten undemokratische Lösungen für eine entstehende Katastrophe, die nicht durch zu viel Demokratie erzeugt wurde, sondern durch zu wenig. Sie identifizieren Marktwirtschaft und Kapitalismus, Demokratie und Expertenherrschaft, Öffentlichkeit und Meinungsmache, Gerechtigkeit und Interessenpolitik, Wissenschaft und Manipulation – sei es zustimmend, sei es ablehnend. Diese Gleichsetzungen sind jedoch falsch. Sie verhindern das Verständnis des kapitalistischen Systems und führen in einen totalitären Staat. Nur das Verständnis des gesamten Systems eröffnet das Verständnis seiner Teile und Wege zu einer sinnvollen Veränderung.
Die ersten drei Kapitel des Buches beschäftigen sich mit den Grundlagen. Das erste Kapitel zeichnet die historische Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer wesentlichen Komponenten nach. Das zweite Kapitel sucht den Kapitalismus systematisch zu fassen. Im dritten Kapitel wird die kapitalistische Gesellschaft als Herrschaftsordnung interpretiert und genauer analysiert. Die folgenden Kapitel erläutern, wie die Elemente des Systems – Wirtschaft, Politik, Recht, Gesellschaft und Öffentlichkeit – ineinandergreifen, sich gegenseitig stützen und es nahezu unangreifbar machen. Das letzte Kapitel ist einer genaueren Untersuchung der Herrschaft gewidmet.
Die Vorgeschichte des heutigen Kapitalismus wurzelt in Oberitalien und sodann in der kolonialen Welt, die zwischen dem 17. Jahrhundert und dem Ersten Weltkrieg von England dominiert wurde. Mit dem Ersten Weltkrieg übernahmen die USA zunehmend die