Forschen. Niklaus Meienberg

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Forschen - Niklaus Meienberg


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enorm reinlich war und immer viel geputzt hat, einiges zufällig vernichtete» (Jürg Willes Äusserungen wurden vom Schweizer Fernsehen ausgestrahlt).

      Die Nachfahren umstrittener Persönlichkeiten sind bekanntlich immer sehr putzfreudig, oder dann schliessen sie die Nachlässe ein und lassen nur solche Historiker darin «forschen», die ihre Vorfahren in einem lieben, familiären Licht beschreiben. So hat die Familie Wille zum Beispiel einem Herrn Röthlisberger Zutritt zu General Ulrich Willes Korrespondenzen mit seiner Frau (eine der äusseren Form nach private, dem Inhalt nach hochpolitische Korrespondenz) gewährt, und Herr Röthlisberger hat dann auch wirklich allerliebste Sachen über das echt demokratische Wesen des bekanntlich höchst selbstherrlichen Generals geschrieben.

      Die Familie Weizsäcker (pardon, von Weizsäcker), das heisst die Nachfahren des ehemaligen Nazigesandten in der Schweiz (er hat auch nach seiner Beförderung zum Staatssekretär die Befehle Ribbentrops treu und bieder ausgeführt), dessen Sohn mit einer Tochter des Oberstkorpskommandanten Wille verheiratet wurde, hat die sogenannten «Weizsäcker Papers» einem kanadischen Historiker exklusiv überlassen, welcher den Papa weissgewaschen und bewiesen hat, dass der kultivierte Herr in seines Herzens Grunde nie ein Nazi gewesen war. Wie hätte er auch können, der Aristokrat!

      Manche von diesen privaten Nachlässen sind übrigens nicht so ganz privat: Es befinden sich meist auch Staatspapiere darin, die bei der Pensionierung «kofferweise» mitgenommen wurden. Es fragt sich also, ob man «keiner Familie vorschreiben kann, was damit zu geschehen hat» (Bonjour). Vielleicht könnte mal der Herr Bundesarchivar Gauye, sozusagen als eidgenössischer Kommissar, in diesen Archiven spazierengehn und – sofern noch etwas zu finden ist – konfiszieren beziehungsweise rückverstaatlichen, was dem Staat gehört: bei Sprechers, Wetters (Bundespräsident 1941), Pilet-Golaz' etc. Denn bei uns ist die Geschichte mächtiger Familien immer auch Geschichte des Staates, und umgekehrt sind die Grundlagen des öffentlichen Bewusstseins, nämlich wichtige Archivalien, auf weite Strecken privatisiert.

      Eine solche Verstaatlichung angeblich privater Dokumente böte den unschätzbaren Vorteil, dass nicht nur bürgerliche Historiker, die sich fast untertänig ins Vertrauen der herrschenden Familien einschmeicheln, Zugang zu wesentlichen Dokumenten haben. Hingegen bessert sich die lamentable Quellenlage auch dann nicht, wenn «darauf hingewirkt wird, dass solche Nachlässe möglichst unversehrt als private Deposita in öffentliche Archive gelangen» (Bonjour) und dabei die betreffende Familie immer noch selbst entscheiden kann, wer die Dokumente sehen darf: Auf diese Weise entsteht zum Beispiel die burleske Situation, dass die Familien von Wattenwyl und Egli (Abkömmlinge der in den sogenannten «Oberstenhandel» verwickelten Militärs) noch ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen die Archive sperren können. Der Historiker Schoch, Spezialist auf diesem Gebiet, weiss davon ein Liedlein zu singen, oder zwei.

      Es leuchtet also nicht ganz ein, dass, wie Bonjour sagt, «vieles von dem, was so verborgen werden sollte, mit ein bisschen Spürsinn rekonstruiert und anderswo aufgetrieben beziehungsweise erfahren werden kann» (Bonjour). Wie denn? Durch Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung? (Einbruch in private Archive). Durch Rekonstruktion der Aschenteilchen der verbrannten Dokumente? Oder indem man die «Fähigkeit des Historikers zu warten» kultiviert (Bonjour)? Die «Fähigkeit zu warten» kann auch eine «Unfähigkeit zu trauern» verdecken und kann die Bewältigung der Vergangenheit auf den Sanktnimmerleinstag verschieben.

      Nun muss man allerdings fragen, für wen der Historiker schreibt und «bewältigt». Für seine Historikerkollegen? Im Hinblick auf die Erklimmung eines Lehrstuhls? Um ein Nationalfonds-Stipendium zu ergattern? In der Schweiz herrscht, im Gegensatz zu Frankreich, ausgerechnet bei jungen Historikern die Ansicht, dass nur garstig-langweilig geschriebene Darstellungen als wissenschaftlich zu betrachten sind. Die zeitgeschichtliche Literatur (Ausnahme: Bonjour) ist denn auch entsprechend: In kleinen Auflagen kommt sie nicht unters Volk, sondern unter die Spezialisten, wird kurz von «Fachleuten» diskutiert und schnell vergessen, hat keine Folgen, ausser eben das Nationalfonds-Stipendium oder ein Lehrstühlchen.

      Man hat ein bisschen übersehen, dass die bedeutenden Historiker immer auch brillante Stilisten waren, Toynbee, Mommsen, Michelet, und dass sie eine politische Massenwirkung hatten. Das waren keineswegs «unvoreingenommene» (Bonjour) Wissenschaftler, sondern tendenziöse Kämpfernaturen, welche von ihrer Leidenschaft aufgefressen wurden. Sie würden heute, weil sie Massenwirkung anstrebten, eine Geschichtsschreibung auch durch Film und Radio versuchen, welche laut Bonjour «heikel» ist. Heikel, jawohl! Man kommt nämlich unter die Leute damit und muss sich der öffentlichen Debatte stellen, es gibt ein «Feedback» und vielleicht auch einen Streit. Historisch exakt kann man trotzdem sein, man muss es sogar ganz besonders. Was öffentlich von vielen kontrolliert werden kann, ist zu einer grösseren Exaktheit gezwungen, muss härter und umfassender recherchiert sein als die heimlichen Seminararbeiten im Spezialistenghetto.

      Eine solche Geschichtsschreibung, ob durch Buch, Radio oder Film, kann nicht auf mündliche Quellen verzichten, welche Bonjour «problematisch» findet. (Sind es die lückenhaften, manipulierten, zum Teil gesperrten schriftlichen Quellen etwa nicht auch?) Wer nämlich Sozialgeschichte erhellen will, der hat mit anderen Leuten zu tun, als ein Historiker der Aussenpolitik, welcher bei abgebrüht-routinierten Diplomaten und Politikern seine Auskünfte holt, die je nach politischer Konjunktur verschieden tönen können.

      Wenn man also bei der Erforschung der Biographie von Ernst S. sich nur auf schriftliche Quellen stützen wollte, hätte man zum Beispiel nie erfahren, dass Oberst Birenstihl seine Offiziers-Freunde zur Hinrichtung eingeladen hat, um sie zu unterhalten. Diese Einladung war nämlich reglementswidrig und hat offenbar keine Spuren in den Akten hinterlassen, jedoch präzise Erinnerungen im Kopf von beteiligten Offizieren, die allesamt schockiert waren und von denen keiner ein Interesse hatte, die Armee schlechter zu machen, als sie ist: alles Leute, welche die Hinrichtung des Ernst S. «sonst» ganz in Ordnung fanden. Wenn nun mehrere mündliche Zeugnisse aus solch unverdächtigen Quellen übereinstimmen, so darf man das betreffende Faktum wohl als erhärtet betrachten.

      Auch der Soldat Lamprecht, welcher vor unserer Kamera sich erinnert und diese Erinnerung aufarbeitet; der am Tatort Auskunft gibt über das Ereignis und ausserdem kein politisches Interesse am Frisieren von Tatsachen hat (er ist kein Prominenter, kein Politiker, der seine Worte abwägen muss): Die Erschiessung hat sich seinem Gedächtnis eingebrannt, lag dann tiefgekühlt jahrzehntelang auf dem Grund seiner Erinnerung und taut jetzt vor der Kamera auf: Sie ist frisch und präzis, sie hat ihn geprägt. Sie lässt sich ausserdem kontrollieren und vergleichen mit anderen mündlichen Zeugnissen. Von den Eindrücken der Soldaten steht nichts in den Akten, denn über die Akten verfügen Offiziere, nicht Soldaten. Die Schrift-Gelehrten beherrschen das Schriftliche, und ein Historiker, der die schriftlichen Quellen fetischisiert (was man von Bonjour nicht sagen kann) und zur einzigen Auskunft erhebt, schreibt bald automatisch eine Geschichte der Herrschenden, und die wird bei uns im Handkehrum zur herrschenden Geschichte (auch «objektive Geschichte» genannt).

      Ein weiteres Beispiel, um bei Ernst S. zu bleiben: Im Bericht des Psychiaters Hans-Oscar Pfister heisst es von der Familie S., sie habe «einen Hang zum Vagantentum» gezeigt. Die Geschwister des Hingerichteten wechselten nämlich alle paar Monate die Stelle. Diese Tatsache ist in den Akten unbestritten. Wenn man sich nun auf die Socken macht und mit den überlebenden Brüdern spricht, so bestätigt sich auch mündlich, dass tatsächlich ein häufiger Stellenwechsel vorkam. Aber man erfährt dann auch, weshalb: In den dreissiger Jahren konnte manche Fabrik nur Saisonarbeit offerieren, und die Geschwister S. mussten die Stelle wechseln. Von psychologisch motiviertem «Vagantentum» keine Rede.

      Was die Arbeitsbedingungen in jenen Fabriken betrifft, so steht zum Beispiel in keinem Jahresbericht der Färberei Sitterthal, wieviel die Arbeiter verdienten, in welchen Verhältnissen punkto Hygiene sie gehalten wurden; kein Wort auch über die Unterdrückung der Gewerkschaften. All das ist nur aus mündlichen Zeugnissen erfahrbar. Und man kann sich darauf verlassen, dass die meisten Arbeiter die Hungerlöhne auf den Rappen genau im Gedächtnis behalten haben. (Wogegen die Direktoren davon, wie zufällig, nichts mehr wissen.)

      Die Geschichtsschreibung mittels mündlicher Quellen ist also durchaus «problematisch», aber in einem andern Sinn, als Bonjour meint: nicht deshalb, weil sie unpräzise wäre (das sind im Gegenteil oft die Dokumente, welche einen


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