Guten Morgen, Mitternacht. Jean Rhys
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Guten Morgen, Mitternacht
Roman
Aus dem Englischen von Grete Felten
Mit einem Vorwort von Leslie Jamison
Kampa
Schmerz bleibt nie allein
Vorwort von Leslie Jamison
Als ich Guten Morgen, Mitternacht zum ersten Mal las, war ich zweiundzwanzig und vollauf damit beschäftigt, ein innerlich wildbewegtes Leben zu führen: Liebesaffären, die zum Scheitern verurteilt waren, hochfahrende Ambitionen, unermessliche Traurigkeit. Niemand hat unermessliche Traurigkeit besser eingefangen als Jean Rhys, und keines ihrer Bücher zeigt sie so ungeschminkt wie Guten Morgen, Mitternacht – die Geschichte einer Frau, die sich in einem billigen Hotelzimmer beinahe zu Tode trinkt. Als ich das erste Mal die Anfangsszene las, in der Sasha, die Hauptfigur, von einer Fremden getadelt wird, weil sie in einer Bar weint (»Ich bin manchmal genauso unglücklich wie Sie. Aber das heißt nicht, dass ich es alle Leute merken lasse«), wusste ich, zu wessen Team ich gehörte: Team Sasha, Team Rhys, Team Betrunken-in-der-Öffentlichkeit-Weinen.
Der Ausgangspunkt von Guten Morgen, Mitternacht ist schlicht: Sasha streift durch Paris, betrinkt sich, wird gefühlsduselig. (Meist führt Ersteres zu Letzterem, aber es funktioniert auch andersherum.) Sashas Jugend und Schönheit sind Bitterkeit und Geistern gewichen – den Geistern verflossener Liebhaber, Geistern zuversichtlicherer Versionen ihrer selbst und dem Geist ihres Sohnes, der mit fünf Wochen starb. Die verstörendsten Passagen beschwören diesen verlorenen Sohn herauf: der Muttermilchersatz, den er zu trinken bekommt, weil sie ihn nicht stillen kann; die Karte an seinem kalten Handgelenk; wie eine Krankenschwester nach der Niederkunft Sashas Körper in Bandagen wickelt, damit ihre Haut »nicht die geringste Spur, nicht die geringste Runzel, nicht die geringste Falte« davonträgt. Diese Details fahren wie Klingen durch den Nebel ihrer Erinnerung; und tatsächlich beschreibt der Roman auch die Art und Weise, wie unser Bewusstsein nie nur im gegenwärtigen Moment verweilt, sondern immer auch in der Vergangenheit. Alles geht ineinander über. Alles ist jetzt.
Dieses Verschwimmen von Vergangenheit und Gegenwart hat viel mit dem Trinken zu tun. Der Großteil der Geschichte hat mit dem Trinken zu tun. »Und wenn ich dann ein paar Gläser getrunken habe«, gesteht Sasha, »werde ich nicht wissen, ob es gestern, heute oder morgen ist.« Das Moment der Durchlässigkeit ist beinahe omnipräsent: das Ineinanderfließen von Vergangenheit und Gegenwart, von Tragischem und Absurdem, von einem sich vorankämpfenden Selbst und einem Selbst, das auseinanderfällt. »Man erklärt solche Charaktere immer damit, dass man sagt, ihre Gedankenwelt sei wie durch Schotten aufgeteilt – alles wasserdicht voneinander getrennt –, aber mir ist das nie so vorgekommen«, sinniert Sasha. »Alles wirbelt durcheinander wie das Bilgenwasser im Laderaum eines Schiffes, alles wird in demselben Raum durcheinandergespült.« Und auch die zahlreichen Ellipsen wecken das Gefühl eines in Auflösung begriffenen Bewusstseins, das ständig in die Vergangenheit abdriftet, in die Verzweiflung, den trunkenen Blackout, die endlose Schwärze.
Gefangen in diesem immerwährenden »Durcheinanderspülen« aus Vergangenheit und Gegenwart, verläuft der Plot nicht bogenförmig, sondern beschreibt vielmehr einen sich ausbreitenden Wirbel: Sasha weint in einer Bar. Sie weint in einer anderen Bar. Sie weint bei der Arbeit. Sie kauft einen Hut. Sie trifft einen optimistischen Russen. Sie trifft einen Gigolo. Sie denkt an ihren Ehemann. Sie nimmt den Gigolo mit nach Hause. Sie wirft den Gigolo raus. Sie kauft einen Drink, schenkt sich einen ein, lässt sich einen ausgeben – und dann noch einen und noch einen und noch einen. Der Mangel an Handlung ist keine strukturelle Schwäche des Romans, sondern verweist auf seinen Kern. Um die Traurigkeit abzustreifen, versucht Sasha, ihren Tagen Struktur zu geben, aber ihre selbstmörderische Verzweiflung gründet in der Tatsache, dass sie an etwas wie einen »Lebensplot« längst nicht mehr glaubt. Der Alkohol liefert ihr vorübergehend ein Narrativ (die Suche nach dem nächsten Drink), aber er verhindert eine langfristige narrative Entwicklung und verflacht die Tage und Nächte zu endloser Monotonie. Sasha glaubt nicht mehr daran, dass sich Erfahrung in bedeutsamen – geschweige denn erlösenden – Bögen fassen lässt. »Hier ist dies passiert, hier ist das passiert …«, sagt Sasha. »Und dann kamen die Tage, da ich allein war.«
Als ich Guten Morgen, Mitternacht zum ersten Mal las, war ich an einem Punkt in meinem Leben angelangt, an dem ich in einem kargen Zimmer auf einem Futon schlief, jeden Morgen geweckt von gnadenlosen Sonnenstrahlen, die durch die vorhanglosen Fenster fielen. Noch vor der ersten Tasse Kaffee rauchte ich fünf oder sechs Zigaretten. Von drei Uhr nachmittags bis elf Uhr abends arbeitete ich in einem Hotel, checkte Gäste in Luxussuiten ein und klaute anschließend billigen Weißwein, um ihn mit in meine kleine Höhle zu nehmen. Zurück auf meinem Futon trank ich den zimmerwarmen Chardonnay direkt aus der Flasche und sah mir dabei Filme auf meinem Laptop an, der eifrig und fiebrig surrte und mir die Oberschenkel versengte, während ich zu einer Pfütze aus betrunkenem Stumpfsinn und filmischer Phantastereien zerfloss. Nicht gerade das romantische Elend aus Rhys’ Roman – abblätternde Tapete und krabbelnde Kakerlaken in einem Hotelzimmer nahe der Gare du Nord –, aber zumindest eine Annäherung: eine entfernte Cousine mit dem gleichen Gefühlsstammbaum. Verzweiflung nach dem Vorbild Rhys’schen Verwundetseins.
Die Freundin, die mir Guten Morgen, Mitternacht geschenkt und versprochen hatte, das Buch sei anders als alles, was ich bisher gelesen hätte, wirkte selbst wie eine Figur aus einem Rhys-Roman: Sie lebte in einer schäbigen Einzimmerwohnung in der Lower East Side, wo ihre Kaffeekanne voller Zigarettenstummel einmal Feuer gefangen hatte: ein schwelender Haufen all der einsamen Nächte, in denen sie ihre Lungen mit Rauch gefüllt hatte. Sie hatte der Maus einen Namen gegeben, die – wie eine Mitbewohnerin – in den staubigen Ecken ihres Apartments hauste.
Die Ausgabe von Guten Morgen, Mitternacht, die sie mir gab, enthielt Bilder von Brassaï, einem ungarischen Fotografen, der während der wilden Zwanziger in Paris gelebt hatte; das Cover zeigte ein turtelndes Paar in der Nische eines Cafés, auf dem Tisch: Kaffeetassen und ein voller Aschenbecher. Jean Rhys’ Name war lippenstiftrot, als hätte sie ihn selbst auf eine Serviette geschrieben, und die Fotos suggerierten Heiterkeit und Melancholie. Das Coverfoto war ebenso irreführend wie passend: Zwar lachen Rhys’ Protagonistinnen tatsächlich hin und wieder in solchen Nischen, allerdings sitzen sie am Ende des Abends fast immer ein paar Nischen weiter – allein, betrunken und verbittert – und schwelgen in Erinnerungen daran, wie es sich einmal angefühlt hat zu lachen.
Gegen Ende von Guten Morgen, Mitternacht, erinnert sich Sasha, wie sie, frisch verheiratet und hoffnungsfroh, die Amsterdamer Kanäle entlangspazierte und Bilder im Rijksmuseum betrachtete, überzeugt, dass ihr eine Zukunft voller Möglichkeiten offenstand. Der Roman beschwört die Überbleibsel dieser Hoffnung im Präsens, als wäre sie noch nicht erloschen:
Ich bin in Hochstimmung. Alles ist glatt, sanft und zart. Die Liebe. Die Farben der Bilder. Die Sonnenuntergänge. Zarte, nördliche Farben, wenn die Sonne untergeht – Hellrosa, Mauve, Grün und Blau. Und der Wind sehr frisch und kalt, und die Lichter in den Kanälen wie goldene Raupen, und die Möwen stoßen aufs Wasser herab. Hochstimmung. Alles zart und melancholisch – wie das Leben manchmal ist, gerade nur einen Augenblick lang … Und wenn wir erst in Paris sind; wenn – wir – erst – in – Paris – sind …
Sie denkt an die Zukunft: »Mein wunderschönes Leben vor mir, es entfaltet sich wie ein Fächer in meiner Hand …« Aber wir Leser wissen, was Paris für sie sein wird: die Aneinanderreihung trunkener Abende, die in endloser Monotonie ineinanderfließen; nicht die kursiv gesetzten Tagträume von Wenn wir erst in Paris sind, sondern die Erinnerung an einen toten Sohn, einen Ehemann, an Ex-Liebhaber.
Und was war ich? Eine Zwanzigjährige, die in ihrer Phantasie als Vierzigjährige auf ihre verlorene Jugend zurückblickte? Guten Morgen, Mitternacht übte eine große Anziehung auf mich aus, aber nicht weil es meine Sehnsüchte erfüllte, sondern weil es auf weit komplexere Art befriedigend war: Ein kleiner Teil von mir – der sich immer fremd, verschmäht und allein gefühlt hatte – erhielt Aufmerksamkeit, einen dunklen Glanz, obsiegte.
Als Sasha in eine Buchhandlung geht, verlangt sie ein »dickes, stilles Buch über Leute mit viel Geld – ein Buch wie eine weite grüne Wiese mit Schafen, die auf ihr weiden«. Ein bezeichnender Moment, weil dieser Roman das komplette Gegenteil ist.