Zehn Jahre später. Jules Verne
Читать онлайн книгу.Und wenn Europa erfährt, was du eben erzählt hast, so werde ich in allen Landen verspottet werden. Doch freilich, Parry,« rief er mit ungestümer Gebärde und gürtete das Schwert um, »wenn ich wie eine feige Memme nichts für mich selbst tue, was soll mein Gott für mich tun. Noch habe ich zwei Arme, noch ein Schwert – –!«
»Mylord,« rief der Greis, »was wollen Sie tun?« – »Was meine ganze Familie tut, was meine Mutter und meine Schwester tun und meine Brüder! Betteln um ein Almosen.« Er lachte wild auf, nahm den Hut zur Hand, warf den schwarzen Mantel um und stürmte hinaus. Parry sprang ans Fenster und sah ihn bald verschwinden.
Inzwischen war der König von Gaston von Orléans empfangen worden und weilte nun in demselben Schlosse, in welchem vor 72 Jahren Heinrich III. zu Mord und Verrat gegriffen hatte, um seinem Haupte und seiner Familie eine Krone zu erhalten, die schon von seiner Stirn zu gleiten begann. Ludwig, der junge Herrscher, war ein vollendeter Kavalier. Von ganz besonderer Schönheit waren seine tiefblauen, zugleich feurigen und sanften Augen, die mit dem Blau der unendlichen Himmelsräume, aber auch mit dem schrecklicheren Blau der Meerestiefe wetteifern konnten. Er war nicht groß, kaum fünf Fuß zwei Zoll; aber in all seinen Bewegungen lag dennoch Adel und körperliche Gewandtheit.
Viele freilich mochten die jugendliche Erscheinung für nicht königlich genug halten, weil man an ihrer Seite immer die hohe Gestalt der Königin-Mutter und die stattliche Figur des Kardinals Mazarin erblickte, und namentlich dem letzteren galt das allgemeine Augenmerk, denn es war ja ein öffentliches Geheimnis, daß er der eigentliche König von Frankreich war.
Während Gaston von Orléans mit dem König und dem Kardinal sprach und sich angelegentlich nach dem Befinden der drei Nichten Mazarins erkundigte, die dieser vor kurzem aus Italien hatte herbeigerufen, machte die Herzogin die Königin mit ihren Hofdamen bekannt und stellte ihr der Reihe nach Mademoiselle Arnoulx, Mademoiselle von Montalais und Luise von Lavallière vor. Ludwig XIV. verließ die beiden Herren und trat zu Mutter und Tante hinüber, um die jungen Damen zu mustern, die sich vor den Hoheiten tief verneigten.
»Gnädigste Frau Tante,« sagte der junge König lachend, »ist denn Blois gar so weit von Paris entfernt, daß die Moden mehrere Jahre brauchen, um hier herüberzugelangen. Diese Damen erscheinen noch alle in der Tracht, die man längst in die Rumpelkammer verbannt hat. Das hat man vor zehn Jahren getragen. Sehen Sie nur das weiße, veraltete Kleid dort mit dem lächerlichen Spitzenbesatz! Lassen Sie die Dame nähertreten. Sie weiß sich selbst in diesem Aufputz noch graziös und ungezwungen zu bewegen. Die andern erscheinen mir gegen sie wie Holzpuppen, mit Stoff behangen. Wie heißt dieses Mädchen?« – »Treten Sie näher, Luise,« befahl Madame, und die schöne Blondine, die wir schon kennen, kam schüchtern heran. – »Fräulein Luise Franziska von Labaume-Leblanc, die Tochter des Marquis von Lavallière und Stieftochter meines Haushofmeisters, des Herrn von Saint-Rémy,« sagte Madame in feierlichem Tone zum König. – Luise sah und hörte nichts, es summte ihr in den Ohren, vor ihren Augen verschwamm alles, und der König streifte das Mädchen nur noch mit einem flüchtigen Blick und trat dann zu den Herren zurück.
»Meine Nichten müssen vor allem erst ihre Erziehung beenden, gnädigster Herr Herzog,« sprach Mazarin zu Gaston von Orléans. »Ist dieses geschehen, so hoffe ich anständige Partien für sie zu finden, was mir nicht schwer fallen wird, denn Gott hat ihnen Anmut, Schönheit und Geist verliehen. Namentlich der jüngsten, der Maria. Sie sind unterwegs nach Brouage und müssen zur Zeit schon weit weg von Blois sein.« – Diese Worte sprach der Kardinal absichtlich laut, daß Ludwig, der eben von den Damen wegtrat, sie hören mußte. Sie trafen sein Herz wie ein vergifteter Pfeil, und obwohl der junge König sich schon soweit beherrschen gelernt hatte, daß er jetzt nur durch ein leichtes Erröten seine Erregung verriet, so war es doch für einen Mann, der seit zwanzig Jahren alle Diplomaten Europas an der Nase herumführte, ein leichtes, die tiefe Wirkung seiner Worte zu erkennen. Von diesem Augenblick an hatte nichts mehr Interesse für den König. Seit er erfahren, daß Maria von Mancini nicht nach Blois kommen würde, fühlte er sich unerträglich gelangweilt und benutzte die erste Gelegenheit, sich zurückzuziehen. Monsieur selbst geleitete die Majestät in ihre Schlafgemächer. Es waren dieselben, die einst König Heinrich III. bewohnt hatte. Auf dem Wege in diesen Teil des Schlosses machte Gaston von Orléans plötzlich halt, öffnete die Tür eines düstern Vorzimmers und sprach: »Dies ist der Ort, wo der Herzog von Guise ermordet wurde. Genau an dieser Stelle sank er nieder und riß im Fall die Vorhänge des Bettes dort mit sich. Er stand fast ebenso da, wie jetzt Eure Majestät und neben ihm – so wie jetzt Euer Musketier-Leutnant neben Euch steht – stand Herr von Loignes. Das andere Gefolge befand sich ein paar Schritte hinter ihm.«
Der König, der von der Geschichte seines Landes nur beschränkte Kenntnis hatte, erbebte leicht und sah sich um. Sein Blick fiel auf einen Offizier, der mit seinen funkelnden Augen, seinem schwarzen Schnauzbart und der imposanten Adlernase ein Muster militärischer Schönheit war.
»Es ist wahr,« sprach dieser Haudegen und warf sein langes, graues Haar in den Nacken, »hinterrücks und meuchlerisch ist er niedergestoßen worden.« – »Und weil der Blutfleck auf den Dielen,« fuhr der Herzog von Orléans fort, »nicht auszumerzen war, sind ganze Stücke des Holzes herausgebrochen worden, wie Majestät bemerken werden.« – »Lassen Sie uns weitergehen, mein Herr Oheim,« sagte der König leise.
Als er sein Schlafzimmer betreten hatte, übernahm der Offizier mit der Adlernase den Kammerdienst, untersuchte plötzlich alle Zugänge und Nebengemächer und quartierte sich mit zehn Musketieren im Vorgemach ein.
Gleich darauf geleitete Monsieur, der Herzog, auch Mazarin in seine Gemächer, und Madame, die Herzogin, führte Anna von Oesterreich, die Königin-Mutter, in die ihrigen. Auf den Treppen, vor den Toren, bezogen die Soldaten von der Wache ihre Posten, und überall im Schlosse herrschte Ruhe.
Nicht lange, so fuhr einer dieser Wachtposten aus seinem Halbschlummer empor, reckte sich steif in die Höhe und rief in die nächtliche Stille: »Wer da?« – »Gut Freund!« erklang die Antwort, und die Gestalt eines fremden Mannes, in einen weiten dunkeln Mantel gehüllt, zeigte sich vor ihm. – »Euer Begehr?« – »Ich will mit dem König reden.« – »Das geht nicht an.« – »Führen Sie mich zum Offizier vom Dienst,« antwortete der Fremde. – »So gehen Sie die Treppe da hinauf!« sagte der Soldat, und gleichzeitig rief er nach oben: »Leutnant, es fragt jemand nach Euch!«
Der Offizier rieb sich die Augen und trat aus der Stube. Im nächsten Augenblick stand der Fremde, kein anderer als der Unbekannte aus dem Gasthause »Zu den Medicis«, vor ihm und wiederholte: »Ich muß mit dem König reden.« – Der Leutnant sah den Mann prüfend an und erkannte mit dem Blick eines Kenners, daß er eine hervorragende Persönlichkeit in unscheinbarem Gewande vor sich habe. – »Der König schläft schon oder ist beim Auskleiden. Sie wissen doch wohl auch, daß ohne Audienzschein niemand vorgelassen wird.« – »Wenn er erfährt, wer ich bin,« antwortete der Unbekannte, »so wird er eine Ausnahme machen und mich vorlassen.« – »Nun denn, wen soll ich melden?«
»Seine Majestät Karl II., König von England, Schottland und Irland,« war die Antwort. – Der Offizier unterdrückte einen Ausruf des Erstaunens und trat zurück. »Verzeihung, Majestät,« sagte er, »ich hätte Sie erkennen sollen.« – »Wieso? Haben Sie mich schon früher einmal gesehen?« – »Nein, Majestät, aber ich sah Ihren Vater in einem furchtbaren Augenblick –« Er verstummte und richtete einen tieftraurigen Blick auf den landesflüchtigen König. – »An dem Tage, wo –?« fragte Karl II. – und ein stummes Nicken des Offiziers war die Antwort. 1
»Tragen Sie noch Bedenken, mich zu melden?« fragte Karl II. – »Ich muß,« antwortete der Leutnant zaudernd, »ich muß Eure Majestät bitten, den Degen abzulegen.« – »Ich vergaß –« sagte Karl II., »es darf niemand bewaffnet vor den König treten. Hier ist mein Degen – und nun beeilen Sie sich!« – Der Offizier klopfte an das Zimmer des Königs, ein Kammerdiener öffnete. »Seine Majestät der König von England wünschen mit Majestät zu sprechen,« meldete der Leutnant. – Der Kammerdiener trat zurück, und gleich darauf wurde die Tür von einem Hofkavalier geöffnet. Ludwig XIV., ohne Hut und Degen, mit schon offnem Wams, trat unter Zeichen tiefsten