Prophetgier. Thomas Häring
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Thomas Häring
Prophetgier
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Inhaltsverzeichnis
Kassandro - Im Weg ist das Ziel
Kassandro - Im Weg ist das Ziel
Kassandro wurde am 25.3.1978 geboren und hieß mit bürgerlichem Namen Reiner Unsinn. Vielleicht lag es auch daran, daß man ihn Zeit seines Lebens nicht sonderlich ernst nahm, doch das war ein großer Fehler, denn Kassandro verfügte über die Fähigkeit, in die Zukunft sehen zu können. Mit der Zeit machten sich das seine Mitschülerinnen sowie Mitschüler auch zu Nutze, vor allem die Mädchen glaubten an das, was der junge Mann prophezeite, manche Jungs dagegen wollten sich cool geben und prahlten: "Ach was, der Meier fragt mich morgen bestimmt nicht aus. Der mag mich, außerdem schläft meine Mutter mit ihm." Am nächsten Tag hatte Kassandro wieder einmal Recht behalten und der Gelackmeierte biß wütend in die Schultischplatte. Er konnte jede Extemporale vorhersagen und war deswegen ein sehr beliebter Mitschüler, nur die Lehrerinnen und Lehrer kamen mit ihm nicht wirklich klar, da er immer schon die Antworten wußte, noch bevor sie überhaupt ihre Fragen gestellt hatten. Jedoch waren und blieben sie nicht die einzigen Erwachsenen, die mal besser auf den Schlaukopf gehört hätten. Man schrieb den Sommer 1986, Fußballweltmeisterschaft in Mexiko und Kassandros Vater, Herr Richard Unsinn, schimpfte am Mittagstisch laut los: "Was erlaubt sich dieser Uli Stein eigentlich! Beleidigt der doch unseren großartigen Führer, äh Teamchef, Franz Beckenbauer als "Suppenkasper". Den hätte ich nicht nur nach Hause geschickt, sondern gleich an der nächsten Straßenlaterne aufgehängt. So eine Unverschämtheit!" "Aber inhaltlich hat der Mann völlig Recht und das werdet Ihr alle bald live mitbekommen, denn Toni Schumacher wird im Finale zweimal patzen und Deutschland deswegen 2:3 gegen Argentinien verlieren", prophezeite Kassandro. "Ach was, dummer Junge, was verstehst Du schon von Fußball", wiegelte sein Vater energisch ab, doch als es dann tatsächlich so kam, wie es sein Sohn vorhergesagt hatte, da fiel ihm nichts mehr dazu ein. Er brummelte nur mißmutig vor sich hin, murmelte irgendwas von "dummer Zufall" und ansonsten war er so mies gelaunt wie immer. Aber als sein Junge auch den unerwarteten Tod von Franz Josef Strauß, den plötzlichen Fall der Berliner Mauer sowie die deutsche Wiedervereinigung exakt prophezeite, da wußte sein Vater, daß es so viele Zufälle garantiert nicht geben konnte und dennoch oder gerade deswegen ignorierte er die Worte seines Sohnemannes oft aus Trotz, denn welcher Vater will sich schon von seinem besserwisserischen, prophetisch begabten Kind die Zukunft vorhersagen und vermiesen lassen? Auch für die Fußball-Bundesliga erwies sich Kassandro als Fachmann. Er sagte sowohl die sensationelle deutsche Meisterschaft des Aufsteigers FC Kaiserslautern, als auch die Überraschungsmeister Stuttgart, Wolfsburg und Dortmund voraus, was seinen Vater tierisch ärgerte, denn er hätte jedes Mal einen Batzen Geld gewinnen können, wenn er nur an seinen Sohn geglaubt hätte. Aber Wolfsburg zum Beispiel war nach der Vorrunde im Mittelfeld herumgedümpelt, mit einem Riesenrückstand auf den Tabellenführer, damit hatte ja nun wirklich niemand rechnen können und genau deswegen war es um so bitterer. Kassandro selbst nutzte seine Gabe übrigens nicht dazu aus, um sich selbst zu bereichern, das fand er irgendwie unangemessen und nutzlos. Statt dessen prophezeite er munter weiter, so zum Beispiel auch das Vize-Triple des FC Bayern 2012. Alle hatten ihn ausgelacht, nachdem er bekanntgegeben hatte, wie die Saison enden würde, "wir sind doch nicht Bayer 04 Leverkusen", hatten etliche Bayern-Fans deutlich gemacht, doch danach waren sie schlauer und ruhiger. Aber auch in der Politik mischte Kassandro munter mit, er sagte die rot-grünen Wahlsiege 1998 sowie 2002 voraus und prophezeite das Ende der Ära Schröder 2005, wofür man zugegebenermaßen kein Hellseher sein hätte müssen, aber Kassandro bestand auf einer Großen Koalition, die auf Rot-Grün folgen würde und da hatten etliche Beobachter etwas Anderes, nämlich Schwarz-Gelb, erwartet gehabt. Immer mehr Leute erkannten, daß Kassandro wußte wovon er sprach und hörten sich deshalb mit Interesse seine Zukunftsprognosen an. Hin und wieder schüttelten sie ungläubig den Kopf, wenn er zum Beispiel behauptete, die CSU würde bei der Landtagswahl in Bayern 2008 auf gut 43 Prozent der Wählerstimmen abstürzen oder daß in Baden-Württemberg ab 2011 eine grün-rote Landesregierung an der Macht sein würde, doch die eintreffende Realität überzeugte alle Zweifler im Nu und so erarbeitete sich Kassandro eine stetig wachsende Fangemeinde, etwas, das er überraschenderweise noch nicht vorhergesagt hatte. Den 11.9.2001 hatte er natürlich auch vorhergesehen, sogar das FBI hatten seine Anhänger informiert gehabt, doch die Amerikaner wollten nichts von der Bedrohung wissen und so hatten sie zu fühlen, denn hören hatten sie schließlich nicht gewollt gehabt. Fukushima war für Kassandro, genauso wie 25 Jahre vorher Tschernobyl, keine Überraschung; damals hatte er von seinem Vater noch eine Ohrfeige für seine Prophezeiung erhalten gehabt, eben so, wie es im alten Griechenland üblich gewesen war, daß man den Überbringer einer schlechten Nachricht köpfte. Eine Zeit lang hatte Kassandros Vater allen Ernstes geglaubt gehabt, die Dinge würden sich nur ereignen, eben weil sein Sohn sie vorhergesagt hatte, doch davon kam er später zum Glück wieder ab, sonst hätte man ihn wohl tatsächlich am Ende noch in ein Irrenhaus stecken müssen. Auch Breivik war für den Propheten in der Wüste kein Unbekannter, sondern lediglich der Anders, der ganz anders als die vielen Anderen dachte und handelte. "Blöder Klugscheißer und Rechthaber! Dann verhindere doch mal endlich so eine Katastrophe, wenn Du eh schon vorher weißt daß sie eintrifft", provozierte ihn sein Erzeuger eines Abends, doch der Angesprochene erwiderte nur: "Ich sehe nur Dinge, die passieren werden. Verhindern kann ich sie leider nicht." "Na Du bist mir ja ein feiner Erlöser", ätzte Papa Unsinn und wunderte sich danach genauso wie sein Eingeborener über seinen merkwürdigen Satz. Am schlimmsten für ihn als Fußball-Fan war es im WM-Finale 2002 gewesen, als er fiebernd vor dem Bildschirm gesessen hatte, wohingegen sein Junge nur lässig gemeint hatte: "Spar Dir die Aufregung und die Vorfreude, Deutschland verliert 2:0, spielt richtig gut, aber Kahn macht einen entscheidenden Fehler." "Wie kann der Fußball-Gott nur so etwas zulassen?" wimmerte sein Daddy nach dem Spiel, er dagegen zuckte nur mit den Schultern und bemerkte: "Ganz einfach: Weil es ihn nicht gibt, genauso wenig wie jeden anderen angeblichen oder vermeintlichen Gott." Daraufhin setzte es für den erwachsenen Sohn von seinem gedemütigten und aufs Tiefste getroffenen alternden Vater eine letzte kräftige Tracht Prügel. Klinsmann und van Gaal als Bayern-Trainer, Lance Armstrong als Dopingsünder, all das wußte Kassandro schon vorher, weshalb ihn eine gute Freundin eines Abends fragte: "Stört Dich das eigentlich nicht, daß Du alles schon vorher mitkriegst?" "Na ja, wenn ich es abstellen könnte, würde ich es vielleicht tun. Du brauchst Dich übrigens erst gar nicht auf die Couch setzen, denn gleich kommt Deine Mutter um Dich abzuholen." Natürlich behielt er auch in jenem Fall Recht, aber langweilig wurde ihm trotzdem nicht, denn er kannte es schließlich nicht anders. Seine Mitmenschen hingegen hätten ihm schon am liebsten manchmal den Mund verboten, aber er antwortete eh nur, wenn er gefragt wurde, außer daheim, dort erzählte er alles und als er den Tsunami Ende 2004, Anfang 2005 ankündigte, da hätten die Zuhörenden am liebsten ihre Ohren verschlossen, doch das hätte auch nichts daran geändert, daß es so gekommen wäre wie von Kassandro prophezeit. "Ich geb’ Dir einen guten Rat: Einfach mal die Klappe halten", sagte einer von denen zu ihm, die ihn nicht sonderlich mochten, da er in dessen Fall das Ende seiner Ehe vorhergesagt und natürlich damit richtig gelegen hatte. Auch die deutschen Fußballfans waren nicht gerade überglücklich, denn er prophezeite ihnen einen zweiten sowie drei dritte Plätze, mit denen sie nicht so gut leben konnten, wie sie sich das anfänglich vorgestellt hatten. Ein Bayer als Papst 2005, das sagte