NACHKLANG DER LEBENSSAITEN. Hil Barast
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Hil Barast
NACHKLANG DER LEBENSSAITEN
von 1936 bis 1949 während des dritten Reichs und danach : Kinderaugen, Augenzeugen, Zeugenberichte, Berichterstattung
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
In Kleinkinderschuhen zu Beginn des Dritten Reichs
Wie oft hat man mich gefragt in Frankreich, wie ist es möglich, dass fast ein ganzes Land hinter diesem Hitler stand?
Historiker und Intellektuelle haben sich mit der Geschichte des Dritten Reiches auseinandergesetzt. Ich kann nur davon berichten, wie es am Rande meiner kleinen Stadt zu der Zeit ausgesehen hat.
Die Menschen, vor allem die Arbeiter, hatten wieder Hoffnung, schöpften Kraft, konnten ihre Familien besser ernähren; es gab Arbeit, das Leben verlief für viele geordneter. Der Arbeitswille und die Arbeitsfreude waren da. Sehr viel weiter sah man nicht in diesen Kreisen unserer Kleinstadt.
Als ich gegen die Pocken geimpft wurde - ich war wohl zwei oder drei Jahre alt – sagte der Hausarzt nicht „heb mal Deinen Arm hoch“, nein, er sagte „mach mal Heil Hitler“, und schon war ich geimpft.
Uns gegenüber auf der anderen Straßenseite war ein kleines Lebensmittelgeschäft. Der Besitzer liebte kleine Kinder, und ich muss wohl recht drollig gewesen sein. Immer wenn er mich am Fenster erblickte, grüßte er mit erhobenem Arm, d.h. Heil Hitler, und schnell hatte ich es raus, ebenso zurückzugrüßen.
Später, als meine Vettern zu den Pimpfen und ich zu den Jungmädchen gehörten, sagten wir zu Oma, sie müsste auch mit Heil Hitler grüßen. Darüber lachte sie und sagte im besten niedersächsischen Plattdeutsch:“lat mi man…“ Sie blieb bei „guten Morgen, guten Tag, guten Abend“, und so war es in der ganzen Familie.
Wenn ich in der Stadt einem meiner Lehrer begegnete, musste ich natürlich mit „Heil Hitler“ grüßten. Als ich später zur Oberschule ging, wurden wir in der Eingangshalle von einer Studienrätin und einem Studienrat begrüßt, die von uns erwarteten, dass wir mit „Heil Hitler“ grüßten. Machten wir das nicht korrekt, mussten wir umkehren und noch einmal grüßen. Schlimm war es für uns Mädchen nach 1945: wir wurden von denselben Studienräten in der Eingangshalle begrüßt, mussten aber einen Knicks machen, der uns mehr oder weniger gut gelang. Also hieß es umkehren und noch einmal knicksen.
Natürlich war uns das Judenproblem völlig fremd.
Oma kaufte gern in einem jüdischen Geschäft in Stolzenau ein, vor allem schöne Bettwäsche. Sie musste mit dem Zug dorthin fahren, etwa dreißig km. Aber sie liebte das und schätzte sehr den jüdischen Geschäftsmann, da er ihr immer ein Geschenk obendrein machte, z.B. eine schöne Tischdecke.
Ich erinnere mich noch, dass die Jungs meine Spielfreundinnen auf dem Hof – sie waren einige Jahre älter als ich – mit „Ischen“ riefen. Vati machte mich darauf aufmerksam, dass man dieses Wort nicht mehr sagen sollte. Sehr viel später fand ich in einem jüdischen Wörterbuch, daß „Ischen“ Mädchen bedeutet.
Ganz dunkel ist mir in Erinnerung, dass die Eltern Papiere ausfüllen mussten über ihren Stammbaum. Ich verstand nichts davon, aber ich hörte ihre Unterhaltung, dass Tante Line, Tante meines Vaters, die einen Schneider Meyer geheiratet hatte, sich Sorgen machte, was die Papiere ihres Mannes anging. Aber in der kleinen Dorfgemeinde hat man wohl nicht weiter nachgeforscht. Jedenfalls nähte der Onkel weiterhin Anzüge, Hosen, Mäntel u.s.f. für Vati und andere. Schlimm war, dass Vati immer ewig warten musste auf eine Hose oder eine Änderung. Oft fuhren wir mit unseren Rädern vergebens dorthin. Gab er anderen den Vorzug?
Und noch eine nicht sehr schöne Erinnerung habe ich, was das Wort „Juden“ anbetrifft: Als ich einmal in die Waschküche ging, die so dunstig war, dass ich unsere Waschfrau kaum erkennen konnte, sagte diese, als sie meine „laufende“ Nase sah: “Du hast ja einen Juden in der Nase.“ Übersetzt hieß das: “Deine Nase ist schmutzig.“
Ich wusste ja nicht mit meinen 3 oder 4 Jahren, dass es sich bei Juden um Menschen handelte. Einmal möchte ich noch auf unseren Lebensmittelhändler von gegenüber zurückkommen: Kurz vor meinem fünften Geburtstag fragte Mutti mich, welchen Geburtstagskuchen ich am liebsten hätte. Ohne zu zaudern antwortete ich wie immer: „einen Kranzkuchen = Frankfurter Kranz“. „Den werde ich Dir in diesem Jahr wohl nicht backen können, Herr Fiehne verkauft mir nicht genug Butter“ erklärte sie mir. So ganz glücklich machte mich das nicht.
Als wir am nächsten Tag in eben diesem Lebensmittelgeschäft einkaufen wollten, bat mich Herr Fiehne, ihm ein Liedchen zu singen, wie ich das immer tat. Aber diesmal wollte ich das nicht. „Ja, aber warum denn nicht?“ fragte er. Worauf ich prompt antwortete: „weil Du Mutti nicht genug Butter verkaufst für meinen Geburtstagskuchen.“ So steckte er heimlich ein halbes Pfund Butter in Muttis Einkaufskorb. Die Butter war 1938 schon rationiert.
Mein französischer Ehemann sagte mir erst jetzt, dass in Frankreich die Parole Görings „entweder Butter oder Kanonen“ bekannt war.
Mein Vater, der nicht sehr zufrieden war mit seiner Tätigkeit in der Glasfabrik, bemühte sich um eine andere Stelle. Bei einer Firma in Bremen, die Flugzeuge herstellte, konnte er anfangen, musste sich aber um eine Wohnung bemühen. So entschloss er sich, eine Stelle bei der WIFO anzunehmen, Firma, die die Wehrmacht mit Treibstoffen versorgte. Diese Firma lag etwa sechs km südlich