Geboren im Jahr 1933. Georg M Peters
Читать онлайн книгу.wo er doch so viel für uns getan hat“, und er bekam seine fünfzig Pfennige. Mir wurde in der Schule kein Hitlerbild angeboten - und das passt vielleicht auch wieder nicht in das überlieferte Bild dieser Zeit: Ich erinnere mich überhaupt nicht daran, dass in einer der vielen Schulen, die ich vor oder nach der Ausbombung besucht habe, irgendeine Art von politischer Indoktrination versucht wurde. Politische Themen gab es in den Schulen, soweit ich mich erinnern kann, überhaupt nicht. Ich erinnere mich auch nicht daran, ob in den Schulklassen mit „Heil Hitler“ gegrüßt wurde. In den Kaufläden scheint es selbstverständlich gewesen zu sein. Denn ich weiß noch, dass ich in den letzten Monaten des Krieges ernsthaft besorgt war, weil Kunden den Laden betraten und nicht mit „Heil Hitler“ grüßten. Das machte mich ernstlich besorgt. Denn wir wollten doch den Krieg gewinnen. Wie sollte das gehen, wenn die richtige Einstellung fehlte?
Gerd hat aus dieser Zeit eine ähnliche Erinnerung. In den Nachrichten hatte er gehört, dass die Engländer in der Lüneburger Heide den Ort Hützel besetzt hätten. Das war der Ort, in dem seine oben erwähnte Tante wohnte. Gerd war ziemlich entsetzt, und fragte ängstlich seine Mutter, ob der Krieg vielleicht verloren gehen könne. Seine Mutter war nicht dumm, sondern klug. Denn auch in diesen letzten Monaten musste man noch mit allem rechnen. Die Mutter nahm ihn trostreich in den Arm und beruhigte ihn: „Aber Gerd, Hützel ist doch nicht Deutschland“. Diese Klugheit drückte sich auch in einer anderen Episode aus. In der Nachbarwohnung lebte ein Parteifunktionär. Wenn geflaggt werden musste, entrollte er eine riesige Fahne, die bis auf das Straßenpflaster hinab reichte. Daneben nahm sich die kleine Fahne von Gerds Mutter recht kümmerlich aus. Als Gerd seine Mutter auf diesen Missstand aufmerksam machte, sprach sie ihn an: „Hör mal zu Gerd! Eine so kleine Fahne ist in Wirklichkeit viel schöner als die große vom Nachbarn.“ Gerd war beruhigt.
Wenn ich mich heute frage, was ich damals von der Judenproblematik erfahren habe, dann fallen mir nur zwei oder drei Ereignisse ein. An besonderen Gedenk- und Feiertagen, und davon gab es ziemlich viele, musste geflaggt werden. Jede Familie hängte dann mindestens eine Hakenkreuzfahne aus dem Fenster. Wenn man dann (vor dem Bombenangriff) die Missundestraße entlang schaute und links und rechts, oben und unten hingen überall die schwarz-weiß-roten Hakenkreuz-Fahnen aus dem Fenster und wehten im Wind, war das ein sehr eindrucksvolles Bild. Da fiel es dann schon auf, wenn eine Wohnung im Erdgeschoss kurz vor dem Krankenhaus nicht geflaggt hatte. „Warum haben die nicht geflaggt?“ hieß es dann. „Da wohnen Juden“. Juden! Keine Ahnung, was das heißt! Aber wenn man fragt, erhält man keine Antwort, außer vielleicht den Hinweis, dass man danach nicht fragt, und es bleibt ein unheimliches Gefühl. Von meiner Mutter kam manchmal der Seufzer, ihr Arzt, ein Jude, sei ein so guter Arzt gewesen, und leider praktiziere er nun nicht mehr.
Eines Tages war bei meiner Großmutter etwas passiert. Uns Kindern wurde nichts erzählt. Aber einiges verstanden wir, was hinter vorgehaltener Hand weiter gegeben wurde. Der Nachbar, ein Herr Karthaus, habe sich das Leben genommen. Seine ganze Wohnung habe voller Bilder, voller Gemälde, gehangen, zum Teil übereinander und auch an den Türen. Und an einer Tür habe er sich erhängt. Erst vierzig Jahre später ist mir klar geworden, dass Herr Karthaus offenbar ein Jude gewesen war.
Die dritte Episode bestand daraus, dass ich nach der Ausbombung, als wir in Wandsbek wohnten, einmal einen Mann mit dem gelben Judenstern gesehen habe. Was das in mir ausgelöst hat? Befremden, glaube ich. Gerd war anscheinend ein größerer Rassist als ich. Ihm begegnete eine Frau, die einen Judenstern trug. Sie hatte zwei kleine Kinder bei sich, schob eine Karre vor sich her und machte einen sehr verhärmten Eindruck. Sein Gedanke war, dass dies doch tatsächlich eine andere Art von Menschen sei als wir Deutschen.
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