Sieben Leben. Stefan Kuntze

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Sieben Leben - Stefan Kuntze


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Beispiel in der Familie und die hat Einfluss auf ihn. Man kann es auch so formulieren: diese Gruppe erzieht ihn.“

      Marianne blickte zu ihm hinüber. Er war doch ein kluger Kopf, dieser Karl! Sie hatte Professor Krieck von Anfang an bewundert, geradezu verehrt, aber sie hätte keinen seiner Lehrsätze klar wiedergeben können.

      „Wir müssen gleich zum Bahnsteig. Deshalb will ich Sie erlösen. Wir gehen in der Tat von drei Schichten aus, in denen Erziehung stattfindet. Da ist zuerst die unterste, die der unbewussten Wirkungen, denen jeder Mensch unterworfen ist. Die zweite Schicht ist die der bewussten Beeinflussung, etwa in der von Ihnen erwähnten Familie oder am Arbeitsplatz. Erst in der dritten Schicht findet eine organisierte Einwirkung statt. Hier erst bildet sich die wichtige Gemeinschaft, deren höchste Form die Volksgemeinschaft ist. Entscheidend ist, dass Erziehung immer ein wechselseitiger Prozess ist und eben nicht von oben nach unten funktioniert. Für eine solche moderne Form haben Sie in der Walkemühle ein interessantes Beispiel gesehen.“

      Mit großem Getöse und ohrenbetäubendem Quietschen kam die preußische Tenderlokomotive des Typs T 9.1, die eigentlich auf den Hauptstrecken als Güterzuglokomotive eingesetzt wurde, mit ihren drei staubverkrusteten Plattformwagen zum Stillsand. Schwarzer Rauch quoll aus dem hohen, sich nach oben erweiternden Schornstein. Zischende Geräusche und das Knallen von Türen vermischten sich mit den Rufen der Bahnhofsbediensteten. Lärmend und ermattet von den vielen Eindrücken enterten die Studenten den Eilzug nach Fulda.

      Kurze Zeit nach dieser Exkursion, nämlich im Januar 1932, wandte Krieck sich auch äußerlich durch Beitritt zur NSDAP den Nationalsozialisten zu, zu deren führendem Pädagogen er rasch gemacht wurde. Bereits im April 1933 ernannte man ihn auf ministeriellen Erlass hin zum Professor und anschließend zum Rektor der Universität Frankfurt a.M. Das war der Beginn seines Aufstiegs, der über die Bücherverbrennung auf dem Römerberg am 10. Mai 1933 zur Mitarbeit im Sicherheitsdienst Himmlers, Sektion Wissenschaftliche Spitzeldienste, zum Gaudozentenführer und schließlich zum Ehrenmitglied des Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben führen sollte.

      Karl und die anderen Exkursionsteilnehmer saßen auf den Holzbänken in der dritten Wagenklasse und kauten an den letzten Resten der säuerlichen Äpfel, die sie auf dem Weg nach Melsungen unter den Bäumen aufgelesen hatten.

      „Das ist doch eine richtige bürgerliche Scheiße!“ Bruno liebte deutliche Worte und zur Walkemühle waren sie seiner Meinung nach angebracht.

      „Meinst du den Krieck und sein Loblied auf das Führerprinzip?“

      Karl sprach leise, um nicht von dem Professor gehört zu werden. Bruno blickte ihn fragend an, da er bei dem Geratter des Waggons nichts verstanden hatte. Marianne neigte sich ihm zu und flüsterte in sein Ohr.

      „Natürlich meine ich dieses Landschulheimidyll in der Mühle!“

      Karl war es während des Vortrags des Herrn von Rauschenplat und der Schulleiterin Minna Specht aufgefallen, wie sich der Gesichtsausdruck seines Freundes verändert hatte. Marianne hatte ihm warnende Blicke zugeworfen. Auch das war ihm nicht entgangen. Bruno Laub holte noch einmal tief Luft.

      „Und ihren Führer haben sie im Schulgelände begraben. Das ist mir vielleicht ein Personenkult! Nein danke!“

      Das Grab des bereits 1927 verstorbenen Leonard Nelson befand sich damals in der Tat am östlichen Rand des Geländes der Walkemühle vor einem hölzernen Staketenzaun. Mit dem kleinen Naturstein und einem noch jungen Baum dahinter wirkte es wie eine Wallfahrtsstätte und wurde von den Anhängern des ISK auch als solche betrachtet.

      Nachdem die SA die Mühle im März 1933 gestürmt, übernommen und 1936 in die SA-Führerschule im NSDAP-Gau Kurhessen verwandelt hatte, wurde der Leichnam exhumiert und der Grabstein auf den Judenfriedhof des Ortes gebracht.

      „Also ich weiß nicht, Bruno, diese Idee der autoritätslosen Erziehung in der Gruppe ist doch kein bürgerlicher Scheiß!“

      „Liebe Marianne, was ist denn das für eine Wissenschaft, die der Nelson da gepredigt hat? Erziehung passiert von allein und die Gemeinschaft wird’s schon richten oder so ähnlich. Das ist entweder banal oder gefährlich.“

      Karl sah eine Chance, vielleicht noch einmal einen Erfolg zu erzielen und setzte sich zurecht.

      „Was heißt denn gefährlich? Wir wissen doch alle, dass wir nur in der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten weiterkommen können – auch auf dem Weg zum Sozialismus.“

      Marianne nickte und auch Thea schien beeindruckt. Bruno schüttelte den Kopf.

      „Wie wollen wir denn in der Weltgeschichte vorankommen, wenn wir nicht klare Ziele definieren? Das frage ich dich. Dass die Gemeinschaft das höchste Gut sein soll, kann ich ja zur Not noch akzeptieren, aber eine Gemeinschaft ohne Inhalte, ohne Werte, kann doch zu nichts Vernünftigem führen, geschweige denn zur Überwindung des Kapitalismus. Irgendjemand muss diese Werte finden und vorgeben. Darüber muss eine offene Diskussion geführt werden. Wir brauchen die Gemeinschaft mit den richtigen Zielen und nicht selbsternannte Führer, die sie sozusagen ex Kathedra anordnen. Das fehlt mir bei diesem Konzept der völligen Freiwilligkeit des Lernens!“

      „Da ist etwas dran. Ich hatte bei unserem Krieck oft das Gefühl, dass er mit dem Modell des Lernens in und mit der Gemeinschaft eine Gruppe von Leuten meint, mit denen wir nichts zu tun haben wollen. Die Nazis reden auch von Volksgemeinschaft und ähnlich schwammigen Dingen und wenn man genau hinschaut, ist damit eine Gemeinschaft von blinden Nachfolgern der Führer gemeint. Und diese Führer stehen wie aus heiterem Himmel plötzlich auf der Bühne. Befasst man sich ein wenig mit den Gedanken, die der Parteivorsitzende Adolf Hitler in seinem Machwerk ‚Mein Kampf‘ abgesondert hat, dann graust einem vor einer Gemeinschaft, die ihm bei seinen verbrecherischen Zielen folgt.“

      Das war ein langer Beitrag und Karl war fast außer Atem geraten, weil er unbedingt verhindern wollte, von Bruno oder Marianne unterbrochen zu werden.

      „Bravo, gut gebrüllt, Löwe!“

      Trotz des ironischen Untertons hörte Karl in dem spontanen Zwischenruf Mariannes eine Anerkennung. Er lehnte sich zurück.

      Dabei war die allgemeine politische Situation alles andere als entspannend, da die Nazis mit ihrem antidemokratischen und antisozialistischen Programm und einer krankhaften Betonung des Deutschtums sowie mit Hassbotschaften gegenüber Juden, Kommunisten, Gewerkschaften und nicht zuletzt der SPD, immer mehr Anhänger fanden. Das bedeutete für die im September anstehenden Wahlen nichts Gutes. Die NSDAP, die 1928 noch bei 2,6 % gelegen hatte, wurde immer lauter und präsenter. Der Begriff der Volksgemeinschaft, ergänzt durch das Adjektiv „deutsche“ war ebenso konstituierender Bestandteil ihrer Gedankenwelt wie das hierarchische Denken und Handeln von Führer und Gefolgschaft.

      „Lieber Genosse Karl!“

      Der Angesprochene zuckte zusammen. Wenn Bruno so anfing, stand eine Belehrung bevor, der er wahrscheinlich nichts entgegenzusetzen hatte.

      „Ich glaube nicht, dass es hier um die Nazis und ihre verqueren Ideen geht, auch wenn die gerade politische Erfolge einfahren können. Unser Problem in Deutschland ist doch nach wie vor, dass die „Gemeinschaft“ der Linken – hier verwende ich das Wort gerne – in Form einer Einheitsfront bis heute nicht zustande gekommen ist und dass wir vielleicht nicht mehr viel Zeit dafür haben, sie zu erreichen. Da braucht es kleine elitäre Splittergrüppchen wie zum Beispiel diese Nelson-Jünger am allerwenigsten!“

      „Worauf willst du denn jetzt hinaus?“

      „Ist euch eigentlich klar, wer hinter dieser ganzen Walkemühle steht und was da außer pädagogischer Romantik noch geboten ist?“

      Vorsichtshalber antwortete Karl nicht auf die offensichtlich rhetorisch gestellte Frage.

      „Der Rauschenplat ist ein Edelkommunist aus dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund und in der Schule, die wir heute besucht haben, werden die künftigen Kader dieser Gruppe ausgebildet, die die Unwissenden zum ‚liberalen‘ Sozialismus führen sollen.“

      „Ich habe nichts


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