Sieben Leben. Stefan Kuntze

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Sieben Leben - Stefan Kuntze


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offenbar auch der seines Onkels gewesen.

      Es muss für Schröder ein prägendes Erlebnis gewesen sein, als durch einen flächendeckenden Generalstreik das komplette öffentliche Leben in Berlin vom Verkehr bis zur Gas-, Elektrizitäts- und Wasserversorgung stillgelegt wurde und eine vereinigte Arbeiterschaft die putschende Brigade Ehrhardt und ihren General von Lüttwitz nach fünf Tagen zum Aufgeben zwang. Bereits am 17. März, vier Tage nachdem die meuternden Soldaten mit den weißen Hakenkreuzen auf ihren Stahlhelmen das Brandenburger Tor durchschritten hatten, floh der von den Putschisten zum Reichskanzler ernannte Verwaltungsbeamte Wolfgang Kapp nach Schweden.

      Als SPD und Gewerkschaften nach Zugeständnissen der nach Stuttgart geflohenen Reichsregierung den Streik für beendet erklärten und zur Wiederaufnahme der Arbeit aufriefen, versuchten Anhänger von KPD und USPD, den Kampf fortzusetzen. Das schildert der Roman anhand des Schicksals von Jan Beek.

      Eher zufällig kommt dieser Mann über eine der Großdemonstrationen zum bewaffneten Kampf. Er vernachlässigt Frau und Kinder, um sich der revolutionären Bewegung anzuschließen. Als er die Nachrichten aus dem Ruhrgebiet hört, ist er überzeugt, dass die reale Möglichkeit für die kämpfenden Arbeiter bestehe, die Macht zu übernehmen. Was die Proletarier im Ruhrgebiet mit der Bildung der „Roten Ruhrarmee“ geschafft hatten, müsste doch in ganz Deutschland möglich sein. Jan Beek, der Kommunist geworden war, kämpfte in Berlin-Lichtenberg gegen die Truppen der Freikorps. Nach der Niederlage der Arbeiter musste er fliehen und traf in Polzin den Lokomotivführer Wal Kuntze mit seinem Heizer Martin, die den Streik unterstützten.

      Es muss eigenartig gewesen sein, den eigenen Vater hier als literarische Figur verewigt zu sehen. Noch seltsamer fühlte es sich aber an, als im weiteren Verlauf der Geschichte Jan Beek die beiden Eisenbahner wegen der Wiederaufnahme der Arbeit beschimpft und schließlich allein und ohne Rückhalt einer Partei einen Anschlag auf die Bahnlinie verübt, bei dem er selber umkommt und der Zug ins Verderben rast, wie es der Autor formuliert. Diese Passage konnte man nur so verstehen, dass Schröder seinen Schwager Waldemar Kuntze literarisch getötet hatte.

      Den Nachruf auf den einsamen Kämpfer Jan Beek darf im Roman ein holländischer Kommunist namens Hemskerk sprechen: „Ein Mensch hat sein Schicksal erfüllt, h a n d e l n d sein Schicksal erfüllt. Aber nicht nur das eigene Schicksal, auch ein Stück des Schicksals einer ganzen Klasse. Ob es recht war? Ob es unrecht war? … In dieser Gesellschaft ist Recht nicht zu trennen vom Unrecht. … Und doch: sein Tod ist Leben und Zukunft.“

      Karl war verwirrt, als der Zug in Frankfurt ankam. War sein Onkel von dem Festhalten des Helden an der Gewalt überzeugt? Wollte das Buch, das Ereignisse von 1920 beschreibt, auch im Jahr 1929 noch eine beachtenswerte Wahrheit enthalten? Er würde seinen Onkel bei Gelegenheit danach fragen müssen.

      Jetzt suchte er in der fremden Stadt die pädagogische Akademie, die erst zwei Jahre zuvor gegründet worden war. Artikel 143 und 146 der Weimarer Reichsverfassung bildeten die Grundlage für neue Bildungswege. Sie waren Ergebnis einer – wie häufig im Bereich der Bildung – intensiven und heftigen Debatte. Herausgekommen aus diesem Schulkampf nach dem ersten Weltkrieg war ein Kompromiss, der im Ergebnis das Schulwesen zur öffentlichen, das heißt staatlichen oder kommunalen Aufgabe machte und Bekenntnisschulen nur auf Antrag der Erziehungsberechtigen als Ausnahme zuließ. Außerdem regelte er den dreigliedrigen Aufbau des Schulwesens.

      Um die erste Stufe, den Volksschulbereich, mit qualifizierten und nicht religiös ausgebildeten und gebundenen Pädagogen zu versorgen, bestimmte Artikel 143 Absatz 2 der Verfassung, dass die Lehrerbildung akademisiert werden müsse und für das Reich einheitlich zu regeln sei. Außerdem wurde der staatliche Charakter der Schulbildung dadurch unterstrichen, dass Lehrer an öffentlichen Schulen zu Staatsbeamten gemacht wurden.

      In Frankfurt am Main existierte seit kurzem eine Pädagogische Akademie, die das mit seiner Landesverfassung von 1920 modernisierte und an die Reichsverfassung angepasste Land Preußen, zu dessen Rheinprovinz Frankfurt gehörte, um die einzige Akademie ohne konfessionelle Bindung bereicherte. Diese Besonderheit wurde mit dem Begriff „simultan“ beschrieben.

      Die Absolventen sollten in einem zweijährigen akademischen Studium in den Beruf des Volksschullehrers geführt werden. Dieses Studium setzte im Gegensatz zur früheren seminaristischen Ausbildung in den Schulen ein Abitur voraus und wurde in die Hände von Akademien und damit weg von den Schulen gelegt. Simultan hieß bei dieser speziellen Einrichtung, dass sie Lehramtsanwärtern evangelischen, katholischen und auch jüdischen Glaubens sowie Agnostikern offenstand. Auch in Preußen hatten sich die großen Kirchen den Einfluss auf diese Sparte bewahrt und konfessionsgebundene Akademien durchgesetzt. Diese Tatsache stand zwar im Gegensatz zur beabsichtigten Neutralität des Schulwesens und bereitete die zukünftigen Lehrer eher auf Bekenntnisschulen vor, entsprach aber den gesellschaftlichen Realitäten.

      In der feierlichen Rede des preußischen Kultusministers zur Eröffnung der Frankfurter Akademie am 10. Mai 1927 war der Aspekt der Simultaneität, der auch Voraussetzung für ein politisches Zusammenwirken der gesellschaftlichen Kräfte in Deutschland sei, besonders hervorgehoben worden. Das werde auch helfen, den „urdeutschen“ Parteienhader zu überwinden, der dazu neige, Meinungsverschiedenheiten durch organisatorische Verfestigungen zu gesellschaftlichen Unterschieden zu machen.

      Die Feierstunde in dem ehemaligen Volksschulgebäude in der Textorstraße mitten im Stadtteil Sachsenhausen wurde von den katholischen Bischöfen boykottiert. Die aus heutiger Sicht bescheidene Überkonfessionalität der Einrichtung war ihnen zu viel. Ihre Kirche stellte klar, dass Absolventen der Akademie keine Befugnis zum Abhalten des Religionsunterrichts erhalten würden.

      Eine konkrete Folge dieser späten Ausprägung des Schulkampfes um die Struktur des Schulwesens in Deutschland war, dass Katholiken in der Frankfurter Akademie nicht zu finden waren. Vielleicht führte die gesamte reformerische Aura der Einrichtung dazu, dass im Lehrkörper nationalsozialistisch denkende Dozenten, wie z.B. Franz Kade oder Ernst Krieck die Ausnahme bildeten.

      Karl war wieder an einer modernen Bildungsanstalt gelandet, was ihm nach der Reformschule und der politischen Lehrzeit in Berlin gut gefiel. Voller Enthusiasmus war er nach Frankfurt am Main aufgebrochen. Gleich am zweiten Tag setzte er sich mit der SPD in Verbindung. Die Genossen im Parteibüro wussten mit dem Berliner Studenten, der als Lehramtsbewerber nur zwei Jahre vor Ort sein würde, nicht so recht etwas anzufangen. Aber der Parteisekretär des Ortsvereins freute sich ehrlich über die Grüße aus der Reichshauptstadt.

      „Genosse Kuntze, es gibt an der Akademie bis jetzt noch keine Jungsozialistengruppe. Das wäre doch eine lohnende Aufgabe für dich! Es ist übrigens noch einer von uns dort, der Genosse Bruno Laub. Vielleicht tust du dich mit ihm zusammen. Wir brauchen hier jeden Mann. Die Zeiten sind turbulent.“

      Diesen Auftrag wollte Karl gewissenhaft erfüllen. Ein wenig bang war ihm vor dem Projekt. Er hatte den historischen Materialismus begriffen, so dachte er jedenfalls, aber in der SPD war der eher verpönt, da man ja – wie sein Onkel scharfsinnig diagnostiziert hatte – auf die Parlamentarismuskarte gesetzt und damit eigentlich den Glauben an die marx‘schen Wirkgesetze der Geschichte aufgegeben hatte. Vater Waldemar hatte allerdings auf die aus Berlin in die Schulferien mitgebrachten Berichte seines Sohnes über seine neuesten politischen Erkenntnisse eher mit Unverständnis reagiert.

      Karl fiel es leicht, die Gedanken anderer zu erfassen und wiederzugeben. Schwerer tat er sich, eigene Überlegungen und Ansichten zu entwickeln und zu formulieren. Diese von manchen als Schwäche empfundene Eigenschaft führte im praktischen Leben dazu, dass er gegenüber seinen Mitstudierenden überzeugter auftreten konnte, als er es wirklich war, da er im Wesentlichen Onkel Schröder und dessen Freund Reichenbach zitierte, deren Scharfsinn und Kenntnisse er grenzenlos bewunderte.

      Am 2. Mai 1929 begann an der Pädagogischen Akademie in Frankfurt das erste Studienjahr. Die Eingangshalle des ehrwürdigen Schulgebäudes mit der wuchtigen dunklen Eichentreppe vermittelte den jungen Studierenden, die in diesem Jahr etwa 60 an der Zahl waren, den Ernst, der hinter dieser Einrichtung stand. In dem Gemäuer herrschte der in Jahrzehnten durch Schülerschweiß und Reinigungsspäne geprägte charakteristische Geruch einer alten Schule. Da nimmt es nicht Wunder, dass die auswärtigen Studenten gerne in die weitere Umgebung von Frankfurt und


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