Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon
Читать онлайн книгу.tatsächlich beendet. Sie kletterte erlöst von der Liege.
Irgendwie hatte sie sich das alles schlimmer vorgestellt. Jetzt fühlte sie sich erst einmal erleichtert. Während sie wieder in ihre Kleider schlüpfte, stellte sie sich vor, dass sie nun nach Hause gehen würde und sich die Angelegenheit damit für sie erledigt hatte. Doch da war auch eine innere Stimme in ihr, die ihr warnend klar machte, dass sie so einfach nicht davonkommen würde, wenn die Maschinerie Krankenhaus erst einmal angelaufen war. Tilda warf einen prüfenden Blick in den Spiegel an der Wand ihrer Umkleidekabine und zupfte sich hastig die Frisur mit den Fingern zurecht. Nach einem letzten prüfenden Blick wandte sie sich zum Gehen. Die riesige grüne Krankenschwester jedoch folgte ihr ungewöhnlich flink und drückte ihr mit tadelndem Blick ein gelbes Bestellkärtchen in die Hand, wobei sie posaunte: „Morgen neun Uhr dreißig, Zimmer 254. Auswertung. Pünktlich sein, bitteschön!“ Sie musterte Tilda durchdringend wie ein Feldwebel. Ihre dunkelbraune Pagenfrisur war derart mit Haarspray fixiert, dass sie aus Beton zu sein schien. Sie hatte einen leichten Oberlippenbart und ein Doppelkinn. Schnaufend verschwand sie in einer Seitentür, auf der „Kein Zutritt“ stand. Tilda starrte auf den kleinen gelben Bestellzettel in ihrer Hand, auf dem ihr Name stand. Er brannte wie Feuer zwischen ihren Fingern. Sie würde also morgen noch einmal hierher kommen müssen. Hatten die da drinnen etwa schon etwas Verdächtiges auf ihren Aufnahmen gesehen? Nervös ließ sie den Zettel in das Außenfach ihrer Handtasche gleiten und verließ hastig das Krankenhaus. Sie fühlte sich wie auf der Flucht.
Der nette, ältere Rezeptionist mit der Spitzmaus-Lesebrille auf der Nase war immer noch da. Er tippte unablässig irgendetwas in seine Computertastatur und sah nicht auf. Erst als Tilda vorbeihuschte, blickte er hoch und nickte ihr freundlich zu. Seine wasserstoffblonde Kollegin mit den spatenartigen Fingernägeln und den Haaren aus Zuckerwatte war indessen verschwunden. Wahrscheinlich saß sie schon beim Mittagessen oder toupierte sich in der Personal-Umkleide den Hinterkopf neu. Tilda beeilte sich, nach draußen zu kommen. Das Auftrittsgeräusch ihrer Schuhe vervielfältigte sich unter ihren hastigen Schritten in der Eingangshalle. Das Geräusch erinnerte an die Übungsstunde einer Stepptänzerin.
Sie verließ das Krankenhaus durch die große, gläserne Drehtür des Haupteinganges. Draußen wehte ihr eine kühle Hamburger Böe wie zur Begrüßung ins Gesicht. Der Nieselregen hatte aufgehört. Die freundliche Frühlingssonne hatte ihn verdrängt. Es war fast Mittag. Tilda kam es vor, als hätte sie einen ganzen Tag lang in diesem schrecklichen Gebäude gehockt. Gierig sog sie die frische Luft ein. Sie hatte nur noch das Bedürfnis, nach Hause zu kommen, fühlte sich getrieben, abgestoßen und voller Eile. Im Krankenhaus starben die Menschen. Sie wollte nur weg von diesem Ort.
Tilda lenkte ihre Schritte durch den nahegelegenen Park, dem kürzesten Weg nach Hause, den sie zu Fuß nehmen konnte. Einige ergraute Pensionäre hatten es sich um diese Zeit schon auf den Bänken bei den kahlen Rosen-Rabatten bequem gemacht und hielten ihre blasse, zerknitterte Winterhaut in die Frühlingssonne. Vom nahen Spielplatz her hörte Tilda eine Mischung aus Kindergeschrei und Lachen. Irgendwoher kam Straßenlärm. Sie hielt nicht inne. Sie wollte nur noch nach Hause, weg von diesem schrecklichen Krankenhauses. Tilda ging schnellen Schrittes. Je schneller sie ging, desto besser fühlte sie sich. Sie verspürte keinerlei Unwohlsein, nur ein wenig Schwäche. Sie erinnerte sich überrascht daran, dass sie überhaupt keine Beschwerden mehr gehabt hatte, seitdem sie das Krankenhaus am Morgen betreten hatte. War das der sogenannte „Vorführeffekt“? Sie kannte dieses Phänomen bereits von ihren Zahnarztbesuchen. Wenn sie lange genug im Wartezimmer gesessen hatte, dann waren ihre Zahnschmerzen weg gewesen.
Den Rest des Tages verbrachte Tilda damit, sich um ihre Wohnung zu kümmern. Sie verspürte das dringende Bedürfnis, irgendetwas Nützliches zu tun, auch um sich abzulenken. Sie putzte die Fenster und holte den Rest ihrer Sommersachen aus der großen, alten Seefahrer-Truhe im Schlafzimmer. Sorgfältig packte sie dann einen Teil ihrer Wintersachen hinein. Während sie das tat hoffte sie darauf, dass das Wetter gut genug bleiben möge, so dass sie nicht in Kürze wieder in der Truhe wühlen müsste, um die eben eingepackten, dicken Pullover wieder hervor zu holen. Schließlich konnte niemand in Hamburg so genau wissen, was das Wetter mit der Stadt vorhatte. Ganz zum Schluss schob Tilda den Metallriegel der Truhe mit einem Klicken zu und setzte sich einen Moment lang darauf, um sich auszuruhen. Sie fühlte sich nun doch erschöpft. Trotzdem war sie glücklich. Sie hatte dem Tag, der so unschön begonnen hatte, doch noch etwas Nützliches abgerungen. Wenn sie ihr aktuelles Befinden mit dem der letzten Tage und Wochen verglich, dann ging es ihr heute um Quantensprünge besser. Seit der Untersuchung am Vormittag fühlte sie sich irgendwie befreit. Zwar belastete es sie, dass sie bereits nächsten Tag wieder zur Auswertung erscheinen sollte, aber sie entschloss sich, nicht daran zu denken. Während sie mit angezogenen Beinen immer noch auf der großen Truhe im Schlafzimmer hockte, versuchte sie sich bildlich vorzustellen, wie der Arzt zuerst ihre Aufnahmen aus dem MRT betrachtete und sie dann verständnislos ansah. Sie stellte sich vor, wie er dann mit den Schultern zucken und sagen würde: „Frau Johannsen, wer hat sie eigentlich zu uns überwiesen? Es ist doch alles in bester Ordnung bei ihnen. Sie sind gesund. Das muss wohl ein Irrtum gewesen sein.“ Zumindest in ihrer Vorstellung klappte das ganz gut.
Tilda dachte an das Mädchen Ana, die mit ihrem Tumor im Kopf so gelassen umging, als wäre er ein aufgeschlagenes Knie. So einfach war das offenbar, wenn man sich keine Sorgen machte. Was würde wohl aus ihr und den anderen Patienten im Wartezimmer werden? Was würde aus ihr werden? Die anderen hatten alle viel entspannter gewirkt, als sie selbst. Vielleicht kannten sie sich schon besser mit dem emotionalen Druck aus, den solche Untersuchungen mit sich brachten. Oder die Ursache lag darin, dass es außerordentlich schwierig war, den Gemütszustand fremder Menschen einzuschätzen. Vielleicht hatte sie selbst auf die Mitwartenden auch gar nicht so aufgewühlt gewirkt.
Langsam rutschte Tilda von der Truhe. Sie schob die Ärmel ihres roten Hausanzuges hoch und betrachtete aufmerksam ihr Bild im Spiegel an der Tür des Kleiderschrankes. Eigentlich war das in der Tat ein nicht mehr ganz neuer Hausanzug. Oder anders ausgedrückt war er schon etwas in die Jahre gekommen. Ludwig hatte neulich nicht ganz Unrecht gehabt, als er ihn abschätzig betrachtet hatte. Aber er hatte in diesem Zusammenhang verletzende Dinge gesagt. Das war unfair gewesen. Tilda wusste nicht so genau, wie lange sie diesen Anzug schon besaß. Seine besten Tage hatte er möglicherweise tatsächlich hinter sich. Doch das war ihr vollkommen egal. Sie liebte ihn. Sie wollte ihn einfach nicht wegwerfen, solange sie ihn noch tragen konnte. Für sie war er wie ein Stück zu Hause. Er war weich und wirklich bequem und sie fand es überhaupt nicht schlimm, dass er bereits etwas die Form und die Farbe verloren hatte. Vor allem in Zeiten, in denen sie sich nicht wohlfühlte, und das war häufig gewesen in der letzten Monaten, hatte er ihr irgendwie immer sehr geholfen. Es mochte sein, dass sie sich das alles nur einbildete und der Anzug in Wahrheit wie ein Placebo wirkte. Ludwig jedenfalls war überzeugt davon. Doch Tilda war das vollkommen gleichgültig. Dass der Anzug hässlich sein sollte, weil er inzwischen nicht mehr neu war, lag allein im Auge des Betrachters. Ludwig hatte sie neulich darin gemustert und geringschätzig behauptet, sie hätte einen dicken Hintern darin. Tilda hatte sich durch seine Worte sehr verletzt gefühlt. Es hatte ihr wehgetan, dass Ludwig sie so wenig kannte, dass er nicht einmal wusste, dass ihr das „dicke-Hintern-Ding“, über das sich die meisten Frauen geärgert hätten, vollkommen am selbigen vorbeiging. Solange sie nicht in Wirklichkeit einen dicken Hintern hatte, sondern nur in diesem ausgebeulten Anzug, interessierte sie das überhaupt nicht. Ludwig hatte sogar ein Zitat von Karl Lagerfeld angeführt, dem Modezaren, von dem jeder halten konnte, was er wollte. Laut Ludwig sollte Lagerfeld angeblich gesagt haben: „Wer eine Jogginghose trägt hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“ Tilda wusste nicht genau, ob sie sich über seine Worte ärgern sollte oder ob sie einfach nur enttäuscht von ihm war. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. Wie konnte Ludwig behaupten, dass sie die Kontrolle über ihr Leben verloren hatte? Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr ärgerte sie sich über seine taktlose Art. Sie hatte sich wirklich oft genug entsetzlich gefühlt in den letzten Monaten. Sie hatte Bauchschmerzen, Übelkeit, Durchfall, Appetitlosigkeit und Schwäche klaglos ertragen. Sie war trotzdem ihrer Arbeit in der Schule nachgegangen, hatte den Haushalt in Schuss gehalten und war fast immer optimistisch gewesen. Sie hatte sich nie beklagt. War es tatsächlich so schlimm, wenn sie abends ab und zu das rote Ungetüm trug, so wie neulich? Hatte Ludwig überhaupt jemals versucht,