Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon

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Die Farbe der guten Geister - A. A. Kilgon


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ins Herz anfühlten. In diesem Moment war sie an einem absoluten Tiefpunkt angekommen.

      Unerwartet klingelte ihr Telefon. Widerwillig stellte Tilda sich ihre Handtasche auf den Schoß und kramte darin herum. Irgendwann hatte sie das Telefon gefunden, doch im selben Moment verstummte das Klingeln. Ludwig hatte sie angerufen. Sie konnte es auf dem Display sehen. Entschlossen stellte sie ihr Telefon auf stumm und verbannte es zurück in die Abgründe ihrer Handtasche. Sie wollte nicht mit Ludwig sprechen. Jetzt nicht. Vielleicht später. Tildas Blick ging über die Rabatten hinweg auf die große Rasenfläche, wo ein Herr mittleren Alters mit einem Hund Stöckchen-Holen übte. Das musste wohl der Hund gewesen, dessen Gebell sie vorhin gehört hatte. Es war ein kleiner Jack Russel, der vollkommen außer Rand und Band zu sein schien. Eigentlich wollte sie später auch immer einen Hund haben. Dazu würde es nun wohl nicht mehr kommen. Die Vorstellung schnitt wie ein Messer in ihr Fleisch. Plötzlich war der noch nicht zu Ende gedachte Gedanke von vorhin wieder in ihrem Kopf. Wenn also alle Menschen oder fast alle Menschen, die Krebs hatten, früher oder später daran starben, obwohl sie alle angebotenen Therapien gemacht hatten, dann würde das sicher nicht der richtige Weg für sie sein. Möglicherweise gab es mehr Menschen, die ihren Krebs überlebt hatten. Vielleicht. Nur sie kannte außer Margarete und Marion eben keinen von ihnen. Sie kannte dafür allerdings sechs Menschen, die gestorben waren. Zwei zu sechs, das war keinesfalls das, was man eine einigermaßen gute Prognose nennen konnte. Tilda holte tief Luft. Die angenehme Frische des Frühlingstages strömte in ihre Lungen. Zwei zu Sechs. Diese Vorstellung machte sie verzagt. Eine Gänsehaut breitete sich in Sekundenschnelle über ihren gesamten Körper aus.

      Zwei junge Mädchen liefen kichernd auf dünnen Beinen vorbei, tuschelten und neckten sich. Tilda beneidete sie um ihre Unbeschwertheit. Als sie in diesem Alter gewesen war, dachte sie auch noch an nichts Böses und war gesund. In diesem Alter machte man sich keine Gedanken um Krankheit oder Tod. Tilda lauschte in sich hinein. Wie lange würde sie noch leben? Wie lange würde sie noch atmen können? Wie lange reichte ihre Kraft noch? Bauchspeicheldrüsenkrebs hatte eine sehr hohe Sterblichkeitsrate. Sogar ohne nachlesen zu müssen, wusste sie das. Noch deutlicher machte ihr das bewusst, wie schlecht ihre Aussichten waren. Verzweifelt richtete sie ihren Blick in die Ferne und fragte sich, was sie jetzt wohl tun sollte. Niemand würde ihr die Entscheidung abnehmen, wie es für sie weiterging. Das jetzt selbst festlegen zu müssen war für Tilda eine unerträgliche Vorstellung. Sie beschloss erst einmal, sich auf keinen Fall zu etwas drängen zu lassen. Wenn sie ihren gesunden Menschenverstand zu Rate zog, so stand sie der angebotenen Therapie mehr als skeptisch gegenüber.

      Und doch musste sie für sich einen Weg aus dem Dilemma finden. Es würde ihr nichts anderes übrig bleiben. Sie selbst würde die Konsequenzen für all das tragen müssen, was sie bezüglich ihrer Krankheit entschied. Auch dann, wenn sie sich für die Chemotherapie entschied. Die Klink würde keine Verantwortung für ihre Therapie übernehmen, weder für den Erfolg, noch für den Misserfolg und auch nicht für die körperlichen Folgeschäden, die sie möglicherweise davontrug. Vorausgesetzt natürlich immer der Fall, dass sie überleben würde. Das alles war ein einziger Alptraum. Tilda wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich daraus zu erwachen.

      Was sie verwunderte war, dass sie das alles plötzlich so klar und realistisch betrachten konnte. Es war wohl einfach ein Instinkt des Menschen, der dafür verantwortlich war. Ein Instinkt, der den Menschen zwang, realistisch zu werden, wenn er seinen Tod so unmittelbar vor Augen hatte. Tilda fischte den Patientenbrief für Dr. Umlauf aus ihrer Handtasche. Er war zugeklebt. Vorsichtig öffnete sie ihn auf der Rückseite, faltete dann die drei Bögen Papier auseinander und versuchte, sich durch den Text mit den medizinischen Fachausdrücken zu arbeiten. Eine Böe erfasste das Papier und riss es ihr fast aus den Händen. Tilda las das Schriftstück dreimal von Anfang bis zum Ende durch. Da stand zweifellos genau das, was ihr der Onkologe vorhin schon erklärt hatte. Ein Tumor in der Bauchspeicheldrüse und verdächtige Areale, dazu ein infiltriertes Bauchfell. Was das bedeutete, konnte Tilda nur erahnen. Therapieempfehlung: da inoperabel Empfehlung zu mehrerer Zyklen Chemotherapie mit „Gemcitabin“ als Palliativtherapie, außerdem Radiotherapie nach weiterer Entwicklung. Beginn: umgehend, nach Festlegung der genauen Dosierung durch die Tumorkonferenz in der nächsten Woche. Gezeichnet, Unterschrift, Anhänge…. Tilda war schweißgebadet. Ihre Bluse klebte ihr unter der Jacke am Körper. Schweißperlen waren auf ihre Stirn getreten. Sie bemerkte, wie ein knoblauchartiger Geruch sich um sie herum ausbreitete. Selbst durch all ihre Sachen hindurch nahm sie ihn deutlich wahr. Ihr Schweiß stank ekelerregend, einfach krank. Es war nicht ihr erster Schweißausbruch an diesem Tage, aber es war der Schlimmste. Selbst als sie vorhin im Krankenhaus gefroren hatte, hatte sie gleichzeitig geschwitzt. Aber da hatte sie noch nicht so gestunken.

      Der Inhalt des Arztbriefes war entsetzlich. Sie starrte auf das Papier, das von der Windböe einen Knick quer über das ganze Blatt bekommen hatte. Im Klartext las sie aus diesem Brief heraus: Die Patientin hat eine aggressive Form von Krebs und wir werden die übliche Therapie machen, um ihren Tod eventuell noch etwas aufzuhalten. Wieviel Chemie sie deshalb bekommt legen wir später noch fest. Tilda starrte auf das Schreiben. Wieso hatte Dr. Schnitzer bei so einer Prognose so gelassen bleiben können? Er hatte nicht ein einziges tröstendes Wort für sie gehabt. Er hatte es noch nicht einmal versucht. War er durch seine Arbeit schon so abgebrüht? Kein Wort davon, dass es eine Chance auf Heilung für sie gab, wenn sie vielleicht auch noch so klein war. Sie hatte aber auch nicht danach gefragt. Irgendetwas hatte sie davon abgehalten. Es war wohl die Antwort gewesen, die sie nicht hören wollte. Tilda hatte Angst vor dieser Antwort gehabt. Wer wollte schon hören, dass es keine Chance gab, seine Krankheit zu überleben? Palliativ, das war für Tilda ein entsetzliches Wort. Sie hatte es früher schon nicht gemocht. Es bedeutete nichts anderes, als dass es nicht mehr um die Heilung der Krankheit ging, sondern nur noch darum, die Symptome zu lindern bis es dann vorbei war.

      Mit ihren Gedanken beschäftigt saß Tilda noch immer auf der Bank im Park. Seit mehr als einer Stunde saß sie nun schon dort und konnte sich nicht zum Weitergehen aufraffen. Ihr Herz trommelte gegen ihre Brust. Es fühlte sich so an, als hätte sich ein ungeheurer Druck in ihrem Kopf aufgebaut, der alle Gedanken daraus verdrängte. Es war mit einem Schlage plötzlich kein Platz mehr für Klarheit. Das einzige, was sie verspürte, war Übelkeit und ein nagendes Hungergefühl. Sie erhob sich langsam. Ohne irgendetwas wahrzunehmen, was um sie herum geschah, machte sie sich wie hypnotisiert auf den Heimweg.

      An jenem Abend saßen Tilda, Ludwig und ihre Eltern Thomas und Brigitte zusammen. Es war alles andere, als eine lustige Runde. Der Schock lähmte sie. Tildas Mutter Brigitte begann immer wieder von neuem wie aus dem Nichts heraus hemmungslos zu schluchzen. Auch ihr Vater Thomas hatte ganz rote Augen, kämpfte aber eisern um seine Fassung. Ludwig hatte zu Hause, nachdem er den Befund von Tilda gelesen hatte, welchen sie ihm wortlos gegeben hatte, sofort ihre Eltern angerufen. Tilda hatte das zu diesem Zeitpunkt noch nicht getan. Sie wollte eigentlich mit niemandem darüber sprechen. Der einzige, der in dieser angespannten Situation wirklich die Ruhe bewahrt hatte, war Ludwig. Vielleicht war er mental so stark, vielleicht hatte er die wahre Botschaft des Befundes auch noch gar nicht vollständig verinnerlicht. Oder es war das, was Tilda längst wusste: Ludwig war nicht sensibel, außer bei sich selbst. Hier ging es aber nicht um ihn. Das ließ ihn bemerkenswert entspannt bleiben.

      An diesem Abend waren sich alle Beteiligten außer Tilda einig, dass sie das Wenige, das man aus Sicht der Medizin für sie tun konnte, auch in Anspruch nehmen sollte. Wenn die angebotene Chemotherapie das Einzige war, was Tilda zur Verfügung stand, dann war es besser, wenigstens die zu machen, als gar nichts. Tilda selbst war sich keineswegs sicher, ob sie diese Chemotherapie wollte. Jedoch fühlte sie sich in diesem Moment außerstande, sich dem Druck ihrer Familie zu widersetzen. Vielleicht gab es tatsächlich eine Chance, durch Chemotherapie wieder gesund zu werden.

      Die Geschehnisse der letzten vierundzwanzig Stunden war bei Weitem das größte Desaster, das Tilda in ihrem ganzen bisherigen Leben erlebt hatte. Immer wieder kreiste die Frage in ihrem Kopf, warum sie diesen Krebs überhaupt bekommen hatte. Sie war sich keiner Schuld bewusst. Ganz im Gegenteil: War sie nicht immer um eine gesunde Lebensführung bemüht gewesen? Waren vielleicht die Impfungen gegen Hepatitis an ihrer Misere schuld, die sie sich auf Empfehlung ihres Arbeitgebers, der Schule, hatte geben lassen? Sie hatte von Anfang an kein gutes Gefühl dabei gehabt. Hatte ihr Immunsystem sie nicht


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