Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon
Читать онлайн книгу.ihres Patientenbriefes beschäftigt. Eine gewisse Betroffenheit war ihm anzumerken. Er machte sich auch keine Mühe, sie zu verbergen. Auf seinem Schreibtisch lag eine ähnliche braune Akte, wie Tilda sie bereits bei Dr. Schnitzer in der Onkologie gesehen hatte. Der Aktendeckel war aufgeklappt. Darin lag ganz oben ein Schreiben des Krankenhauses. Tilda erkannte den Kopfbogen. Dr. Umlauf schaute es sich eine kurze Zeit lang aufmerksam an. Seine Augen folgten den Zeilen. Dann wandte er sich an Tilda, indem er sie über den Rand seiner Brille ansah. „Frau Johannsen, das sind leider keine guten Nachrichten für sie, die ich hier lese. Ihr Befund ist bedauerlicherweise gar nicht gut. Sie wissen das ja schon.“ Er hielt inne und blätterte in der Mappe auf seinem Schreibtisch umher.
„Ich habe hier auch schon den Behandlungsplan für ihre Chemotherapie. Den hat mir gestern Abend noch die Onkologie des Krankenhauses zugemailt.……. Sie sollen mit Gemcitabin behandelt werden.“ Er sah sie erneut prüfend an und schien auf ihre Antwort zu warten. Tilda war verblüfft darüber, dass der Arzt bereits ihren Behandlungsplan vor sich hatte. Immerhin war sie doch erst gestern im Krankenhaus gewesen. Da hieß es noch, dass ihr Fall in der kommenden Woche bei der Tumorkonferenz besprochen werden sollte. Tilda war irritiert. Was hatte das zu bedeuten? Ein Verdacht keimte in ihr auf. Dass der Plan jetzt schon vorlag, sprach in ihren Augen nicht dafür, dass sich jemand ernsthaft Gedanken über ihre Behandlung gemacht hatte.
Tilda war vielmehr überzeugt davon, dass die Onkologen sie nach einem Einheits-Plan behandeln wollten, den sie buchstäblich „aus der Schublade“ gezogen hatten. Ein entsetzlicher Gedanke keimte in ihr auf. Sie schauderte, während eine eisige Welle durch ihren Körper lief. Das schwer Vorstellbare traf sie wie eine Betonkugel am Kopf, der plötzlich schmerzte, als wollte er zerbersten. War es am Ende so, dass es sich bei ihr vielleicht gar nicht mehr lohnte, einen individuellen Plan zu erstellen? Sollte sie nicht ohnehin nur noch eine Palliativ-Therapie bekommen, die ihre Heilung gar nicht mehr zum Ziel hatte? Tilda schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Sie verspürte ein Prickeln in ihren Armen und Beinen. Vor ihren Augen wurde es für den Bruchteil einer Sekunde schwarz. Sie umklammerte mit beiden Händen die Armlehnen des Stuhles, auf dem sie saß so heftig, dass ihre Fingerknöchel ganz weiss aussahen. Nach zwei weiteren tiefen Atemzügen ging es ihr ein wenig besser. Der Arzt ihr gegenüber schaute sie beobachtend an.
Entmutigt wich Tilda seinem Blick aus. Tief in ihrem Innern hatte sich alles verkrampft, so als würde ein starker Druck ihren Körper zusammenpressen wie in einer Vakuumkammer. Sogar in ihren Ohren war dieser dumpfe Druck zu spüren. Ihr war, als säße sie in einem rasch sinkenden Flugzeug. Kam das etwa auch schon vom Krebs oder spielten nur ihre Nerven verrückt? Während Tilda darauf wartete, dass der Arzt wieder das Wort an sie richtete, fühlte sie, dass ihr Vertrauen in diese Art von Medizin noch mehr dahinschmolz. Das geplante Standard- Prozedere der Onkologie, das sich jetzt mit ihr in Gang setzen sollte, verstörte sie. Wollten die Onkologen ihren Fall einfach nur noch abarbeiten, damit sie und ihre Angehörigen das Gefühl hatten, es sei alles versucht worden? Nicht umsonst hieß es ja in Mediziner-Kreisen, heutzutage stünde hinter jedem Patienten möglicherweise ein Rechtsanwalt. Was ging da vor? Tilda war vollkommen verunsichert und am Ende ihrer Kräfte. War sie vielleicht schon so verrückt, dass sie sich das alles nur einbildete, dass sie all diese Dinge völlig überspitzt sah?
Nach all dem konnte sich Tilda nicht mehr vorstellen, dass das Krankenhaus auf ihrer Seite war. Alles, was sie wahrnahm vermittelte ihr nur noch mehr das Gefühl, als würde es von Beginn an keine Chance für sie geben. Es schien beschlossene Sache zu sein. Auch Dr. Umlauf gab ihr keinen fühlbaren Anlass zu der Hoffnung, dass sie sich irrte. Das passte mit ihrer kleinen, unvollständig gebliebenen Recherche über Bauchspeicheldrüsenkrebs zusammen, die sie in der Kürze der Zeit begonnen hatte. So gut wie keiner der Betroffenen schien diese Krankheit zu überleben. Insofern war Optimismus wohl wirklich fehl am Platze. Nach allem, was sie herausgefunden hatte, waren sämtliche Therapieversuche nur eine Verlangsamung des Sterbeprozesses, der sich lange vor der Diagnosestellung in Gang gesetzt hatte. Tilda drängten sich die grauenvollen Konsequenzen wie ein abscheulicher Film auf. Sie saß stocksteif da und starrte auf ihre weißen, eiskalten Hände unter dem Tisch.
Dr. Umlauf ahnte wohl, was in ihr vorging. Mit Sicherheit war sie nicht sein erster Fall dieser Art. Er schaute nachdenklich auf das Stück Papier vor sich, tippte mit dem Zeigefinger darauf und atmete geräuschvoll ein, bevor er sagte: „Das wir ihren Behandlungsplan schon haben, Frau Johannsen, hat möglicherweise damit zu tun, dass die Kollegen in der Klinik neue Erkenntnisse darüber haben, was am besten hilft. Dann erübrigt sich die Tumorkonferenz manchmal…... Wissen sie?“
Seine Worte klangen wenig überzeugend. Sie klangen vielmehr so, als würde er selbst nach einer plausiblen Erklärung suchen, damit seine ärztlichen Kollegen nicht in ganz so schlechtem Licht dastanden. Tilda versuchte währenddessen ein gequältes Lächeln. In Wahrheit war ihr zum Heulen zumute. Sie entgegnete, wobei sie sich eine ihrer blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht strich und sie hinter das Ohr schob: „Was am besten hilft? Soviel ich weiß gar nichts - bei Bauchspeicheldrüsenkrebs“. Sie machte mit den Händen eine hilflose Geste und fuhr dann bitter fort: „Zumindest nach allem, was ich bisher in Erfahrung bringen konnte.“ Einen Moment lang presste sie ihre Zähne ganz fest aufeinander, um ihre Fassung nicht zu verlieren. Dann fügte sie angstvoll hinzu: „Gibt es denn überhaupt eine Chance für mich, die Krankheit zu überleben?“ Der Arzt sah sie an, als wäre das die ungewöhnlichste Frage auf der Welt. So, als hätte er nie im Leben mit etwas Derartigem gerechnet. Zögerlich entgegnete er, wobei er es vermied, sie anzusehen und den Blick auf die Akte vor sich gerichtet hielt: „Eine Chance gibt es immer, Frau Johannsen. Ja, die gibt es immer. Aber ihre Chance ist klein. Sehr klein! …….. Leider.“ Sein Blick streifte sie etwas unsicher. „Wir müssen sehen, was die Zukunft bringt. Wunder können wir wohl leider kaum erwarten. Es sei denn, sie belehren mich eines besseren…. Dagegen hätte ich nichts einzuwenden.“
Er richtete seinen Blick auf Tildas Gesicht, ohne ihr dabei in die Augen zu sehen. Nachdenklich fügte er noch hinzu: „Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas Anderes sagen! Es ist auf jeden Fall empfehlenswert, wenn sie sich noch ein paar schöne Tage mit ihrer Familie machen. Und wenn sie ihre persönlichen Angelegenheiten in Ordnung bringen. Nur sicherheitshalber, wenn sie verstehen was ich meine.“ Er ergriff seinen Kugelschreiber und drehte ihn einige Male nervös zwischen den Fingern hin und her. Dann gab er sich plötzlich einen Ruck und setzte seine Unterschrift entschlossen unter ihren Krankenschein. „Wenn sie die Chemotherapie nicht machen möchten, so kann sie niemand dazu zwingen, wissen sie? Aber es ist das einzige, was die Medizin Ihnen anbieten kann.“ Er machte eine kurze Pause und sagte dann, während er Tilda die Hand zum Abschied reichte: „Setzen sie mich bitte in Kenntnis, wie sie sich entschieden haben. Alles Gute für sie, Frau Johannsen!“
Tilda bedankte sich leise und ging hinaus. Irgendwie hatte sie das Gespräch noch mehr verunsichert. Sie hatte nun erst recht keine Ahnung mehr, was sie tun sollte. Tatsache war, dass sie eine Chemotherapie aus der Schublade bekommen sollte. Es war den Ärzten in der Onkologie offenbar klar, dass sie ein aussichtsloser Fall war. Ein Fall, für den sich der Aufwand einer individuellen Therapie nicht mehr lohnte. Bei diesem furchtbaren Gedanken erschrak sie über sich selbst. Es war ihr, als würde sich die Erde auftun und sie hinabziehen. Hinabziehen in ein riesiges, schwarzes Loch - unaufhaltsam, immer tiefer und tiefer. Welches grausame Schicksal war ihr beschieden, das sie schon mit dreißig Jahren sterben ließ? Niemanden der Mediziner schien sich wirklich dafür zu interessieren. Es kam Tilda so vor, als habe sie mit ihrer Diagnose eine medizinische Maschinerie in Bewegung gesetzt, die ihre Arbeit zwar verrichtete, der es aber vollkommen an Empathie und Optimismus fehlte und für die die Erfolglosigkeit ihrer Behandlung bereits unabänderlich feststand.
Als Ludwig von der Arbeit kam fand er Tilda in Tränen aufgelöst in der Ecke der Couch hockend vor. Sie hatte ihre nackten Füße unter der schottischen Wolldecke vergraben, die zusammengelegt neben ihr lag. Seit Stunden hatte Sie dort wie erstarrt gesessen. Sie wusste selbst nicht mehr wie lange. Ihre Augen waren gerötet und geschwollen vom Weinen. Ihre blaue Jacke lag noch immer achtlos hingeworfen auf dem Fußboden im Flur. Ihre Schuhe standen daneben, mitten im Weg. Draußen begann es bereits ein wenig zu dämmern. Im Raum war es fast dunkel. Tilda hatte das Licht nicht eingeschaltet. Alles, was sie noch zu fühlen imstande war, war die Unausweichlichkeit ihres nahenden Todes.