Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon
Читать онлайн книгу.um sie herum war eigentlich wunderschön. Warum war ihr das seit Monaten überhaupt nicht mehr aufgefallen? Hier, in ihrem Viertel, war sie mitten in Hamburg und gleichzeitig auch irgendwie auf dem Dorf. Jeder kannte hier jeden. Hier gab es kleine Vorgärten und mehrgeschossige Wohnblocks mit Kinderspielplätzen, den kleinen Kiosk um die Ecke und den großen Supermarkt am Ende der Straße. Da waren postmoderne Häuser aus Glas und Beton neben alten Gemäuern, die liebevoll restauriert und saniert waren. Hier gab es Wasser und Wind, Bäume und Beete, Kultur und Unkultur, Intelligenz und Dummheit, Reichtum und Armut, breite Straßen und verträumte, schmale Wege. Alles war hier vorhanden.
Es war später Nachmittag geworden. Tilda blickte nach oben in den blassblauen Himmel, der sich schon auf den Abend vorzubereiten schien. Einige Federwolken zogen schnell vorbei, so als wären sie auf der Durchreise und hätten es eilig. Wolken waren immer auf der Durchreise. Sie richtete ihren Blick wieder nach vorn und gab sich einen Ruck, steckte das Taschentuch zurück in ihre Handtasche und zog den Reißverschluss zu. Wie auch immer es kommen würde, sie musste jetzt da durch. Es gab keine andere Möglichkeit für sie.
Mit beschleunigtem Schritt bog sie um die Ecke. Drei kleine, etwa sechsjährige Mädchen mit fliegenden Röcken und ein etwa ebenso alter Junge in einer blauen Latzhose und einem orangefarbenen T-Shirt hüpften lachend über die mit bunter Kreide bemalten Platten des Gehweges. Tilda machte einen großen Bogen um sie, um das Kreidekunstwerk nicht zu beschädigen. Eines der Mädchen mit weizenblonden, langen Zöpfchen kicherte halblaut ein „Dankeschön!“ hinter ihr her. Ein Hund kläffte in der Nähe. Sie erkannte ihn sofort. Es war der Hund aus dem Nachbarhaus. Ein rostbrauner, halbhoher Mischling mit weißen und schwarzen Flecken, der ganz offensichtlich aus ungezählten Hunderassen hervorgegangen war. Es war ein Hund mit dickem Körper, kurzen Stummelbeinchen und zwei überdimensionalen Schlappohren. Zwei freundliche, schwarze Knopfaugen und eine schwarze Nase rundeten seine ungewöhnliche Erscheinung ab. Dieser Hund hörte auf den Namen „Struppi“. Der Name stimmte insofern, weil Struppi die meiste Zeit des Jahres unter irgendeiner Hautkrankheit litt. Während dieser Zeit machte Struppi seinem Namen alle Ehre. Am anderen Ende der Leine ging „Struppis Herrchen, Günter Schröder. Tilda kannte den Mann aus dem Nachbarhaus nur vom Sehen. Er war undefinierbaren Alters und hatte eine erstaunliche Ähnlichkeit mit seinem Hund, was den dicken Bauch und die kurzen Stummelbeine anging. Bei den Ohren gab es allerdings einige Abweichungen und auch seine Nase hatte eine andere Farbe. Es war kein Wunder, dass alle in der Umgebung Struppis Herrchen hinter vorgehaltener Hand nicht „Herr Schröder“ nannten, sondern „Herr Struppi“. Tilda war sich ziemlich sicher, dass er nichts davon wusste. Sogar ein kleines Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, jetzt, wo sie daran dachte.
Einen Augenblick später war sie vor dem Haus mit der Nummer 125 in der Wentorfer Straße angekommen, in dem sie gemeinsam mit Ludwig eine Dreizimmerwohnung im vierten Stock bewohnte. Sie blieb einen Moment lang vor der Haustür stehen und suchte in den Abgründen ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. An dieser Stelle stand sie mindestens einmal täglich und wühlte in ihrer Handtasche. Es war schon fast ein Ritual, das zwar nie geplant war, aber trotzdem jeden Tag wieder stattfand.
Während sie den Haustürschlüssel bereits im Schloss drehte, streifte ein kurzer Blick die Fassade des Hauses. Es sah ehrwürdig und gediegen aus mit seiner liebevoll sanierten, roten Backsteinfassade und den gemauerten Zierverbänden darin. Es war ein Schmuckstück aus einem anderen Jahrhundert, das nichts von seinem Glanz verloren hatte. Sie schloss die weiße, hölzerne Tür auf. Im Treppenahaus roch es nach frisch aufgebrühtem Kaffee und einem Putzmittel mit Blütenduft. Tilda nahm den Lift in den vierten Stock. Normalerweise nahm sie immer die Treppe, aber jetzt fühlte sie sich zu schwach dafür.
Ludwig war schon zu Hause, als sie die Tür zur Wohnung aufschloss. Er war gerade damit beschäftigt, seine Sporttasche zu packen und kam ihr sofort entgegen.
Während er seine Arme ausbreitete, um sie zu begrüßen, sagte er vorwurfsvoll: „Na endlich, da bist du ja! Wo warst du denn nur so lange? Warst Du schon bei Dr. Umlauf? Was sagt er?“ Tilda befreite sich aus seiner Umarmung und zuckte mit den Schultern. „Ja, ich war da. Was er sagt? Nichts!“ Tilda hob erneut ihre Schultern. „Er hat nichts gesagt. Aber er hat mich für morgen zum MRT überwiesen.“ Ludwig nahm sie noch einmal in die Arme und drückte sie fester an sich. Er roch nach frischem Kaffee und irgendwie auch nach Schokolade und nach Erdnüssen. Er strich ihr eine blonde Haarsträhne aus der Stirn und sah sie fragend an. Seine wasserblauen Augen blickten besorgt auf sie herab. „Was soll das heißen, er hat nichts gesagt? Also weißt Du noch gar nichts?“ Er sah sie aufmerksam an. Sofort schossen ihr wieder die Tränen in die Augen, so wie vorhin auf der Straße. Ludwig hielt sie an beiden Schultern fest, verstummte und runzelte besorgt die Stirn, während er weitersprach: „Das sind aber irgendwie keine guten Nachrichten. Leg´ dich erstmal hin. Du siehst müde aus!“ Er ging wortlos ins Schlafzimmer und holte die neue Wolldecke mit dem rot/blau/weißen Schottenkaromuster aus dem großen Kleiderschrank, die seine Eltern ihnen von ihrer Schottlandreise im letzten Herbst mitgebracht hatten. Tilda fröstelte. Die Decke kratzte zwar ein wenig, aber sie wärmte ganz ausgezeichnet. Es war eine großartige Decke, auch wenn Tilda die Eltern von Ludwig wegen ihrer Spießigkeit und wegen ihrer aufgeblasenen Art nicht besonders gern mochte. Jetzt zog sie ihre dunkelblaue Jacke aus. Während Ludwig sie an die Garderobe hängte sagte er: „Ich muss zwar gleich los, bin eigentlich schon weg. Aber soll ich dir noch einen Tee machen bevor ich gehe?“, Tilda nickte langsam, während sie sich wie ein Stein auf die hellgraue Couch im Wohnzimmer fallen ließ. Im Grunde war es ihr ganz recht, dass er jetzt zum Sport gehen wollte, obwohl sie auch irgendwie auf seinen Beistand gehofft hatte und ein wenig enttäuscht war. Bevor Ludwig in die Küche ging, um Tee zu machen, breitete er die Schottenkaro-Decke über ihr aus. Tilda schloss die Augen. Sie war innerlich so unruhig, dass sie unmöglich schlafen konnte. Kalte Schweißperlen traten auf ihre Stirn. Sie lag ganz still und wartete, bis ihr Atem und ihr Geist sich beruhigt hatten. Sie lag einfach nur so da und öffnete wieder die Augen. Irgendwann begannen die in dem gemütlichen Wohnzimmer umher zu wandern. Ein kleines Lächeln trat auf ihr Gesicht. Das Lächeln war winzig klein, aber es fühlte sich gut an und sah noch besser aus. Leider war da niemand, der es sehen konnte. Es war das erste Lächeln nach den vielen Stunden der Anspannung an diesem Montag.
Tilda war einfach nur glücklich, wieder zu Hause zu sein. Sie liebte ihre gemütliche Wohnung über alle Maßen. Ludwig und sie hatten hier so viel Liebe, Zeit und ihre gesamten Ersparnisse investiert. Das konnte man sehen und auch fühlen. Tilda liebte ihr großes Wohnzimmer. Diesen hellen, sonnendurchfluteten, freundlichen Raum mit den vielen Büchern, dem Holzdielen-Fußboden, den weißen Möbeln und dem Sammelsurium aus bunten Blumentöpfen vor der riesigen Fensterfront, die hinaus auf die Dachterrasse führte. Dort sah sie, wie sich die blau-weiß gestreifte Markise im Wind der frühen Dämmerung wiegte. Offenbar hatte Ludwig sie geöffnet, als er nach Hause gekommen war und die Nachmittagssonne mit Kraft gegen die großen Glasscheiben geschienen hatte. Schnell konnte es auf diese Art unerträglich warm im Raum werden. In Gedanken ging Tilda jetzt weiter durch ihre Wohnung. Sie schloss die Augen und ging hinaus aus der Wohnzimmertür, durch den Flur, hinein in die kleine Küche mit den schicken Einbaumöbeln, den vielen Gewürzen, dem Chaos der vielen Kochutensilien und den großen Dachfenstern, dem gemütlichen Essplatz in der Ecke mit den Familienfotos und dem Gummibaum, der mittlerweile schon bis zur Decke reichte. Nachdem sie in Gedanken einmal den Gummibaum umrundet hatte, spazierte sie wieder durch den Flur zurück, huschte an den eingebauten Schränken aus Lärchenholz vorbei und stand wenig später mitten im Schlafzimmer. Sie konnte in Gedanken alles haargenau vor ihrem geistigen Auge sehen. Hier standen die gediegenen, alten Möbel, die sie gemeinsam mit Ludwig in München auf einem Flohmarkt gekauft hatte und die ein Schulfreund von ihr mit viel Sachkenntnis und Liebe zu einem zweiten Leben erweckt hatte. Den großen Schrank mit den vier Türen und den Verzierungen, das Doppelbett mit dem würdevoll geschwungenen Giebel, die Kommode mit den Schmuckelementen aus Perlmutt und die alte Seefahrertruhe, in der sie ihre Wintersachen aufbewahrte. Einen Moment lang sinnierte Tilda darüber, ob es tatsächlich stimmte, dass an alten Möbeln immer noch die Energien der Vorbesitzer hingen und so Unglück ins Haus gebracht werden konnte. Tatsache war allerdings, dass es wohl in ihrem Falle nette und freundliche Leute gewesen sein mussten, denen die Möbel in ihrem ersten Leben gehört hatten. Von Negativität hatte Tilda noch nie etwas gespürt. Und doch: War sie am Ende vielleicht