Reichsgräfin Gisela. Eugenie Marlitt

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Reichsgräfin Gisela - Eugenie Marlitt


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Der alte Soldat watete bis über die Knöchel in dem zwischen den Furchen liegengebliebenen Schnee und hatte schwer zu kämpfen mit dem Sturm, der hier widerstandslos über den baumlosen Wiesenabhang hinpfiff. Aber schon brauste es schutzverheißend von droben herab – wohl heult der Sturm auf ein altes Schloß in einer ganz besonderen Tonart; allein nicht weniger ergreifend klingen seine Stimmen, wenn er die Waldwipfel schüttelt, wenn er jedes dürre, zusammengekrümmte Eichenblatt zu seinem Sprachrohr macht und die leblose Blätterleiche zwingt, klagend mitzusingen von toter Waldesherrlichkeit, von Lenzesliebe und Sommertraum, aber auch von alten, alten Zeiten, da das Trara aus dem Hifthorn des Knappen scholl und das goldige Haar der pirschenden Edeldame über dem Dickicht wehte.

      Für Sievert klang auch noch anderes mit in dem Tosen, das jetzt über seinem Haupte hinzog. Die zürnenden Stimmen der alten gestrengen Herren von Zweiflingen – sie hatten hier geherrscht mit dem ganzen Gewicht feudaler Macht und Rechte, sie hatten oft unerbittlich grausam und blutig gerichtet über den Walddieb und Wilderer in ihrem Revier –, und jetzt mußte der alte Soldat auf dem nun fremden Grund und Boden die dürren Reiser auflesen, um den letzten Nachkommen des glänzenden Geschlechts eine warme Stube zu verschaffen; er war noch vor kurzem in dem Untergehölz, inmitten der scheelsehenden Bettelkinder des Dorfes, umhergekrochen und hatte von dem scharlachnen Teppich der Preiselbeeren ein paar Körbe voll eingeheimst, zur Erquickung der letzten Frau von Zweiflingen.

      Der Alte pfiff leise zwischen den Zähnen, wie einer, der ein bitteres Auflachen verbeißen will. Plötzlich blieb er stehen – ein zornig knurrender Ton entschlüpfte seinen Lippen –, von fern flimmerte ein matter Lichtpunkt durch die Flocken, die in diesem Augenblick minder dicht niederfielen.

      »Aha, da hängt wieder einmal die Decke nicht vor dem Fenster! Bei dem Wind!« murmelte er grimmig. »Das wird ja hübsch durch die Stube pfeifen!... Nun fehlt nur noch, daß sie auch den Ofen vergessen hat.«

      Er lief vorwärts und lachte plötzlich auf – der Wind trug ihm einzelne volle Klavierakkorde entgegen.

      »Nun ja, da haben wir's – sie rast wieder einmal –, konnte mir's schon denken!« grollte er weiterlaufend. Alle Selbstbetrachtungen waren im Nu verflogen vor dem Ärger, der sich des alten Soldaten bemächtigte. Was kümmerten ihn jetzt noch die wehklagenden und zürnenden Schatten der längst vermoderten Herren von Zweiflingen – er hörte nur die allmählich zur rauschenden Melodie werdenden Töne und sah den Lichtschein, der, unruhig hin und her flackernd, in der Tat aus einem unverhüllten Turmfenster fiel und dessen Eisenvergitterung in schwankenden, mattgezeichneten Umrissen auf die Schneedecke draußen warf.

      Die Fassade des Waldhauses trat um einige Schritte hinter die Türme zurück; vor ihr hinlaufend und um eine Anzahl Stufen erhöht, verband eine Galerie die beiden Türme. Der unmittelbar vom Waldboden hinaufführenden Treppe gegenüber, die das Steingeländer der Galerie in seiner Mitte durchbrach, erhob sich eine ungeheure Doppeltür, die direkt in die große Halle führte. Bei Sieverts Hinaufsteigen floß der Laternenschein über zwei lebensgroße Steinfiguren, die auf der Brüstung zu beiden Seiten der Treppe standen, geschmeidige Jünglingsgestalten in Edelknabentracht. Das umlockte Haupt zurückgeworfen und mit hochgehobenem Arm das steinerne Horn an den Mund setzend, bliesen sie seit Jahrhunderten das Halali hinaus in den Wald... Was für eine Versammlung wäre das geworden, wenn der Ruf all die toten Schläfer geweckt hätte, die hier, trunken von Wein und Jagdlust, als Gebieter auf der Terrasse gestanden und in stolzer Unantastbarkeit ihr weites Waldrevier überschaut hatten, all die Vertreter so vieler Generationen, grundverschieden in Tracht, Sitten und Anschauungen, aber heute wie immer zweifellos einig in dem einen Gedanken: um jeden Preis das Heft in der Hand behalten, herrschen und abermals herrschen, nicht um Haarbreite abgehen von den verbrieften Vorrechten, wohl aber sie ausdehnen und erweitern, wo irgend die Gelegenheit sich bietet!

      Das unerhebliche Geräusch des Aufschließens dröhnte verzehnfacht drin im Hause wieder, und als Sievert den Türflügel öffnete, da tat sich die Halle in ihrer kolossalen Tiefe auf wie ein unergründlicher Schlund. Sieverts erste Schritte galten dem Ofen; er schlug eine Tür zurück – die Kaminöffnung gähnte ihn in schwarzer Finsternis an.

      »Richtig – kein Funken Feuer! 's ist eine Sünde und Schande!« zürnte er. Im Nu hatte er sich der mitgebrachten Sachen entledigt, und gleich darauf prasselte ein tüchtiges Feuer im Ofen.

      Der Sturm fährt durch den Schornstein und jagt die Flammenzungen weit in die Halle herein. Dann fliegen jedesmal gelbrote Lichter über die gegenüberliegende Wand, und aus verwitterten Rahmen treten, dicht nebeneinander gereiht, lebensgroße Männergestalten. Sie alle sind im Jägerkleide und meist in Situationen gemalt, welche den Mut und das aristokratische Blut der Zweiflingen kennzeichnen sollen – der Kampf mit riesigen Ebern und Bären ist als Sujet am meisten vertreten. Über der Bilderreihe aber tauchen Hirschköpfe auf, die stolze Last seltener Geweihe tragend; weiße Tafeln mit schwarzer Inschrift besagen, wann und von wem jedes der edlen Tiere erlegt worden ist, und greifen dabei in eine so graue Vergangenheit zurück, daß ein altadliges Herz einen wahren Wonneschauer darüber empfinden könnte. Auch ein Orchester wird sichtbar; hier hatten einst die Trompeten geschmettert und mit lustigen Weisen die edlen Herren »ergötzet« beim üppigen Jagdschmause – jetzt klang ein leises Meckern von dorther, der Bretterverschlag unter der Tribüne war zum Ziegenstall degradiert worden.

      Sievert stellte einen Dreifuß in das Feuer und einen Topf voll frischen Wassers darauf – es war die primitivste Kücheneinrichtung, die sich denken läßt –, dann steckte er eine der mitgebrachten Talgkerzen auf einen Messingleuchter. Während dieser Verrichtungen wich ein stereotypes grimmiges Lächeln nicht einen Augenblick von seinem Gesicht. Durch die Wand klang nämlich das Klavierspiel immer voller und rauschender. Der alte Soldat war offenbar kein Musikschwärmer, sonst hätte er doch wenigstens die unglaubliche Fingerfertigkeit und Sicherheit an dem Spiel bewundern müssen – diese perlenreinen Triller und Läufe konnten sich vor dem ausgesuchtesten Konzertpublikum hören lassen. Gleichwohl hatte der alte feindselige Kritiker nicht ganz unrecht mit der naiven Bezeichnung »Rasen«. Die brillante Tarantella wurde in schwindelnd schnellem Tempo genommen – die Töne sprühten, aber wie sogenannte kalte Funken, sie zündeten nicht und ließen den Zuhörer in Zweifel, ob in den flinken, aber automatenhaft gleichförmig herunterspielenden Fingern auch wirklich lebenswarmes Blut pulsiere.

      Der alte Soldat nahm die Kerze und öffnete die Türe, die in das Erdgeschoß des südlichen Turmes führte. Welche Gegensätze trennte diese Tür! Draußen die öde, leere Halle mit dem schauerlich widerhallenden Steinfußboden und dem Mangel an jeglichem Gerät, und hier ein Gemach, angefüllt mit einer wahrhaft kostbaren Möbeleinrichtung. Wir müssen sagen »angefüllt«, denn das Zimmer war ziemlich klein und umfaßte die vollständige Ausstattung eines ehemaligen großen Salons. Das war der letzte Rest alter Herrlichkeit, den die Witwe zu behaupten gewußt hatte. Im ersten Augenblick blendete diese unerwartete Pracht, aber bald wich die Überraschung einem Gefühl der Wehmut, des tiefen Mitleids. Diese geschnitzten Palisanderetageren und -tische, diese Sofas und Sessel mit dem aprikosenfarbenen Seidendamastbezug standen an Wänden, die eine uralte, brüchige Ledertapete bedeckte; die gepreßten, ehemals vergoldeten Arabesken in derselben hatten längst ein schmutziges Braun angenommen und traten um so widerwärtiger da hervor, wo sie mit der blinkenden Einfassung des deckenhohen Spiegels oder dem Goldrahmen eines Ölbildes in Berührung kamen; vor den Fenstern aber hingen bunte Zitzgardinen, und der riesige, dunkle Ofen ragte grob und ungeschlacht in die zierliche Ausstattung und nahm ihr den letzten Anschein von Harmonie.

      Sievert zerdrückte den im letzten Stadium aufflackernden und qualmenden Lichtdocht zwischen den Fingern und stellte dafür die frische Kerze auf den Tisch.

      Die Frau, die einsam, in sich zusammengesunken in einem Sessel kauerte, bemerkte den wohltuenden Wechsel nicht – denn sie war blind – »blind geweint hat sich die arme Frau!« sagten die Leute, und sie hatten wohl nicht unrecht. Auch sie erhöhte den peinlichen Eindruck, den das Zimmer in seinen Widersprüchen erweckte; sie war mehr als einfach gekleidet, ihr dunkles, baumwollenes Kleid breitete sich förmlich hohnvoll über die strahlenden Polster des Lehnstuhles.

      »Sind Sie endlich da, Sievert?« sagte sie verdrießlich mit schwacher, aber scharfklingender Stimme. »Sie brauchen ja immer eine halbe Ewigkeit zu Ihren Ausgängen!


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