Reden an die deutsche Nation. Johann Gottlieb Fichte

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Reden an die deutsche Nation - Johann Gottlieb Fichte


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eb Fichte

      Reden an die deutsche Nation

      Erste Rede

      Vorerinnerungen und Uebersicht des Ganzen

      Als eine Fortsetzung der Vorlesungen, die ich im Winter vor drei Jahren allhier an derselben Stätte gehalten, und welche unter dem Titel: »Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters« gedruckt sind, habe ich die Reden,1 die ich hiermit beginne, angekündigt. Ich hatte in jenen Vorlesungen gezeigt, daß unsre Zeit in dem dritten Hauptabschnitte der gesamten Weltzeit stehe, welcher Abschnitt den bloßen sinnlichen Eigennutz zum Antriebe aller seiner lebendigen Regungen und Bewegungen habe; daß diese Zeit in der einzigen Möglichkeit des genannten Antriebes sich selbst auch vollkommen verstehe und begreife; und daß sie durch diese klare Einsicht ihres Wesens in diesem ihren lebendigen Wesen, tief begründet und unerschütterlich befestigt werde.

      Mit uns gehet, mehr als mit irgendeinem Zeitalter, seitdem es eine Weltgeschichte gab, die Zeit Riesenschritte. Innerhalb der drei Jahre, welche seit dieser meiner Deutung des laufenden Zeitabschnittes verflossen sind, ist irgendwo dieser Abschnitt vollkommen abgelaufen und beschlossen. Irgendwo hat die Selbstsucht durch ihre vollständige Entwicklung sich selbst vernichtet, indem sie darüber ihr Selbst, und dessen Selbständigkeit, verloren; und ihr, da sie gutwillig keinen andern Zweck, denn sich selbst, sich setzen wollte, durch äußerliche Gewalt ein solcher andrer und fremder Zweck aufgedrungen worden. Wer es einmal unternommen hat, seine Zeit zu deuten, der muß mit seiner Deutung auch ihren Fortgang begleiten, falls sie einen solchen Fortgang gewinnt; und so wird es mir denn zur Pflicht, vor demselben Publikum, vor welchem ich etwas als Gegenwart bezeichnete, dasselbe als vergangen anzuerkennen, nachdem es aufgehört hat, die Gegenwart zu sein.

      Was seine Selbständigkeit verloren hat, hat zugleich verloren das Vermögen einzugreifen in den Zeitfluß, und den Inhalt desselben frei zu bestimmen; es wird ihm, wenn es in diesem Zustande verharret, seine Zeit, und es selber mit dieser seiner Zeit, abgewickelt durch die fremde Gewalt, die über sein Schicksal gebietet; es hat von nun an gar keine eigne Zeit mehr, sondern zählt seine Jahre nach den Begebenheiten und Abschnitten fremder Völkerschaften und Reiche. Es könnte sich erheben aus diesem Zustande, in welchem die ganze bisherige Welt seinem selbsttätigen Eingreifen entrückt ist, und in dieser ihm nur der Ruhm des Gehorchens übrigbleibt, lediglich unter der Bedingung, daß ihm eine neue Welt aufginge, mit deren Erschaffung es einen neuen und ihm eignen Abschnitt in der Zeit begönne, und mit ihrer Fortbildung ihn ausfüllte; doch müßte, da es einmal unterworfen ist fremder Gewalt, diese neue Welt also beschaffen sein, daß sie unvernommen bliebe jener Gewalt, und ihre Eifersucht auf keine Weise erregte, ja, daß diese durch ihren eignen Vorteil bewegt würde, der Gestaltung einer solchen kein Hindernis in den Weg zu legen. Falls es nun eine also beschaffene Welt als Erzeugungsmittel eines neuen Selbst und einer neuen Zeit, geben sollte, für ein Geschlecht, daß sein bisheriges Selbst und seine bisherige Zeit und Welt verloren hat, so käme es einer allseitigen Deutung selbst der möglichen Zeit zu, diese also beschaffene Welt anzugeben.

      Nun halte ich meines Orts dafür, daß es eine solche Welt gebe, und es ist der Zweck dieser Reden, Ihnen das Dasein und den wahren Eigentümer derselben nachzuweisen, ein lebendiges Bild derselben vor ihre Augen zu bringen, und die Mittel ihrer Erzeugung anzugeben. In dieser Weise demnach werden diese Reden eine Fortsetzung der ehemals gehaltenen Vorlesungen über die damals gegenwärtige Zeit sein, indem sie enthüllen werden das neue Zeitalter, das der Zerstörung des Reichs der Selbstsucht durch fremde Gewalt unmittelbar folgen kann und soll.

      Bevor ich jedoch dieses Geschäft beginne, muß ich Sie ersuchen vorauszusetzen, also daß es Ihnen niemals entfalle, und einverstanden zu sein mit mir, wo und inwiefern dies nötig ist, über die folgenden Punkte:

      1. Ich rede für Deutsche schlechtweg, von Deutschen schlechtweg, nicht anerkennend, sondern durchaus beiseite setzend und wegwerfend alle die trennenden Unterscheidungen, welche unselige Ereignisse seit Jahrhunderten in der einen Nation gemacht haben. Sie, E. V., sind zwar meinem leiblichen Auge die ersten und unmittelbaren Stellvertreter, welche die geliebten Nationalzüge mir vergegenwärtigen, und der sichtbare Brennpunkt, in welchem die Flamme meiner Rede sich entzündet; aber mein Geist versammelt den gebildeten Teil der ganzen deutschen Nation, aus allen den Ländern, über welche er verbreitet ist, um sich her, bedenkt und beachtet unser aller gemeinsame Lage und Verhältnisse, und wünscht, daß ein Teil der lebendigen Kraft, mit welcher diese Reden vielleicht Sie ergreifen, auch in dem stummen Abdrucke, welcher allein unter die Augen der Abwesenden kommen wird, verbleibe, und aus ihm atme, und an allen Orten deutsche Gemüter zu Entschluß und Tat entzünde. Bloß von Deutschen und für Deutsche schlechtweg, sagte ich. Wir werden zu seiner Zeit zeigen, daß jedwede andre Einheitsbezeichnung oder Nationalband entweder niemals Wahrheit und Bedeutung hatte, oder, falls es sie gehabt hätte, daß diese Vereinigungspunkte durch unsre dermalige Lage vernichtet, und uns entrissen sind, und niemals wiederkehren können; und daß es lediglich der gemeinsame Grundzug der Deutschheit ist, wodurch wir den Untergang unsrer Nation im Zusammenfließen derselben mit dem Auslande, abwehren, und worin wir ein auf ihm selber ruhendes, und aller Abhängigkeit durchaus unfähiges Selbst, wiederum gewinnen können. Es wird, sowie wir dieses letztere einsehen werden, zugleich der scheinbare Widerspruch dieser Behauptung mit anderweitigen Pflichten, und für heilig gehaltenen Angelegenheiten, den vielleicht dermalen mancher fürchtet, vollkommen verschwinden.

      Ich werde darum, da ich ja nur von Deutschen überhaupt rede, manches, das von den allhier Versammelten nicht zunächst gilt, aussprechen, als dennoch von uns geltend, so wie ich andres, das zunächst nur von uns gilt, aussprechen werde, als für alle Deutsche geltend. Ich erblicke in dem Geiste, dessen Ausfluß diese Reden sind, die durcheinander verwachsene Einheit, in der kein Glied irgendeines andern Gliedes Schicksal, für ein ihm fremdes Schicksal hält, die da entstehen soll und muß, wenn wir nicht ganz zugrunde gehen sollen – ich erblicke diese Einheit schon als entstanden, vollendet, und gegenwärtig dastehend.

      2. Ich setze voraus solche deutsche Zuhörer, welche nicht etwa mit allem was sie sind, rein aufgehen in dem Gefühle des Schmerzes über den erlittenen Verlust, und in diesem Schmerze sich wohlgefallen, und an ihrer Untröstlichkeit sich weiden, und durch dieses Gefühl sich abzufinden gedenken mit der an sie ergehenden Anforderung zur Tat; sondern solche, die selbst über diesen gerechten Schmerz zu klarer Besonnenheit und Betrachtung sich schon erhoben haben, oder wenigstens fähig sind, sich dazu zu erheben. Ich kenne jenen Schmerz, ich habe ihn gefühlt wie einer, ich ehre ihn; die Dumpfheit, welche zufrieden ist, wenn sie Speise und Trank findet, und kein körperlicher Schmerz ihr zugefügt wird, und für welche Ehre, Freiheit, Selbständigkeit leere Namen sind, ist seiner unfähig: aber auch er ist lediglich dazu da, um zu Besinnung, Entschluß und Tat uns anzuspornen; dieses Endzwecks verfehlend, beraubt er uns der Besinnung, und aller uns noch übriggebliebenen Kräfte, und vollendet so unser Elend, indem er noch überdies, als Zeugnis von unsrer Trägheit und Feigheit, den sichtbaren Beweis gibt, daß wir unser Elend verdienen. Keineswegs aber gedenke ich Sie zu erheben über diesen Schmerz, durch Vertröstungen auf eine Hilfe, die von außen her kommen solle, und durch Verweisungen auf allerlei mögliche Ereignisse, und Veränderungen, die etwa die Zeit herbeiführen könne; denn, falls auch nicht diese Denkart, die lieber in der wankenden Welt der Möglichkeiten schweift, als auf das Notwendige sich heften mag, und die ihre Rettung lieber dem blinden Ohngefähr, als sich selber, verdanken will, schon an sich von dem sträflichsten Leichtsinne, und der tiefsten Verachtung seiner selbst zeugte, so wie sie es tut, so haben auch noch überdies alle Vertröstungen und Verweisungen dieser Art durchaus keine Anwendung auf unsre Lage. Es läßt sich der strenge Beweis führen, und wir werden ihn zu seiner Zeit führen, daß kein Mensch, und kein Gott, und keines von allen im Gebiete der Möglichkeit liegenden Ereignissen uns helfen kann, sondern daß allein wir selber uns helfen müssen, falls uns geholfen werden soll. Vielmehr werde ich Sie zu erheben suchen über den Schmerz, durch klare Einsicht in unsre Lage, in unsre noch übriggebliebene Kraft, in die Mittel unsrer Rettung. Ich werde darum allerdings einen gewissen Grad der Besinnung, eine gewisse Selbsttätigkeit, und einige Aufopferung anmuten, und rechne darum auf Zuhörer, denen sich soviel anmuten läßt. Uebrigens sind die Gegenstände dieser Anmutung insgesamt leicht, und setzen kein größeres Maß von Kraft voraus, als man, wie ich glaube, unserm Zeitalter zutrauen kann; was aber die Gefahr betrifft, so ist dabei durchaus keine.

      3. Indem ich eine klare Einsicht der Deutschen, als solcher, in ihre gegenwärtige


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Diese Reden sind im Jahre 1808 zum erstenmal im Druck erschienen.