Aus meinem Jugendland. Isolde Kurz

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Aus meinem Jugendland - Isolde Kurz


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mich nur geneckt zu haben. Die Bücher waren ihr Eigentum, über das sie frei verfügen konnte. Der Herr, dessen sinnreiche Einfälle übrigens bekannt waren, hatte einmal mit seiner Frau als Gast bei meiner damals noch unverheirateten Mutter gewohnt, und da er eben nicht bei Kasse war, Josephine jene unbenützten Bücher statt eines anderen Entgelts für ihre Dienste hinterlassen.

      Die vielen bei Tage ausgestandenen Ängste, die ich meist aus unüberlegten Reden der Erwachsenen schöpfte — auch die Furcht, eines meiner Lieben zu verlieren, gehörte dazu, obwohl ich vom Tode noch nichts wußte —, kehrten bei Nacht in abenteuerlichen Vermummungen wieder und machten mir oft genug den Schlaf zu einer ganz bedenklichen Angelegenheit. Das ging bis zu Sinnestäuschungen im vermeintlich wachen Zustand. So sah ich eines Nachts im Mondschein ganz deutlich meine Mutter im langen weißen Hemd vom Lager steigen, sich neben meinem Bettchen einen Strumpf knüpfen, und als ich erwartete, daß sie sich jetzt über mich beugen werde, lautlos hinter den Ofen gleiten. Als sie gar nicht zurückkommen wollte, kroch ich nach längerem Warten ängstlich aus dem Bett und sah den Raum hinter dem Ofen leer. Eine schreckliche Unruhe befiel mich, aber als ich nun vor ihr Lager schlich, lag sie in festem Schlafe. Eine solche kindliche Halluzination hätte vielleicht im Mittelalter genügt, eine unglückliche Frau der Hexerei und der Schornsteinfahrt zu überführen.

      Aber diesen Kinderleiden, von denen die Erwachsenen nichts zu ahnen pflegen, hielt eine unermeßliche Kinderseligkeit die Waage. Solche Fest- und Wonnetage wie unsere Geburtstage konnte das spätere Leben aus all seinem Reichtum nicht mehr hervorbringen. Der feierlichste war der meinige, der Thomastag; da er in die Weihnachtswoche fiel, wurde an diesem Abend der Baum angezündet und die Bescherung gehalten. Schon viele Tage vorher hantierte unsere Josephine mit köstlichen süßen Teigen und stach mit den hochehrwürdigen alten Modeln, die ich immer irgendwie mit unseren altgermanischen Göttern in Zusammenhang bringen mußte — vielleicht hatte unser Vater einmal die Bemerkung gemacht, daß die „Springerlein“ Wodans Roß bedeuten —, das herrlichste Backwerk aus. Es wurde in überschwenglichen Mengen hergestellt und mit den Freundeshäusern korbweise als Geschenk getauscht. Mama saß mit befreundeten Damen und „dockelte“ heimlich, d. h. sie nähte aus bunten Seidenlappen die schönsten Puppenkleider. Immer hing da und dort ein goldener Faden, der diese feenhafte Tätigkeit verriet. Die übrigen Lappen hütete ich in einer Pappschachtel, sie waren mir als Stoff zu künftiger Gestaltung fast noch werter als die fertigen Kleidchen. Die Großen begriffen nicht, warum diese Schachtel jede Nacht an meinem Bett stehen mußte, aber ich wußte recht wohl, was ich tat, denn wer hätte sie sonst gerettet, falls des Nachts ein Brand ausbrach? Ich hatte schon den Griff eingeübt, womit ich sie fassen wollte, während ich im anderen Arm die Puppen hielt, um durch die Flammen zu springen. Man sage noch, daß kleine Kinder keine Voraussicht hätten! — Wenn dann nach einer herzklopfenden Erwartung endlich die Tür des Weihnachtszimmers aufging und der Duft und Glanz des mit goldenen Nüssen behangenen Baums uns entgegenströmte, dann war mit dem ersten seligen Aufatmen auch der Höhepunkt des Glückes überschritten. So herrlich Puppenstube, Küche, Kaufladen mit ihrem Inhalt waren, der Gedanke, daß auch dieser Abend unaufhaltsam zu Ende gehen mußte wie jeder andere, machte den Besitz im voraus zunichte. Das Schönste an dem Fest war jedesmal der letzte Augenblick der Erwartung.

      An den Geburtstagen der Brüder wurden immer alle Geschwister mitbeschenkt. Man erwachte früh bei noch geschlossenen Läden voll Hoffnung und Ungeduld, stellte sich aber schlafend und blinzelte nur nach den Dingen, die da kommen sollten, während mütterliche Hände ganz leise vor jedes Kinderbett ein Tischchen rückten. Da standen dann im Morgenlicht bezaubernde Dinge wie Farbenschachteln, bunte Bleistifte, goldgeränderte Tassen, für mich eine Glasschachtel mit goldenen, silbernen und farbigen Perlen zum Sticken und Anreihen, und was mich immer am höchsten beglückte: ein blühendes Rosenstöckchen mit vielen Knospen, das ich selber pflegen durfte. Vor dem Geburtstagskind aber brannten die Jahreskerzen über dem Kuchen. — Wenn ich meine seligen Obereßlinger Erinnerungen gegen die Briefe meiner Mutter aus jener für sie so schweren und düsteren Zeit halte, so kann ich erst ganz die Größe dieser unendlichen Liebe ermessen, die den Himmel über unseren jungen Häuptern so rein und blau erhielt. Obereßlingen war die Sandbank, auf die politische Verfemung und literarisches Nichtverstandensein meinen Vater geworfen hatten. Sein Genius büßte dort in der Enge des Daseins und der Eintönigkeit der Landschaft, die dabei nichts Großartiges hatte, die Schwungkraft ein. Aber das Kind sah anders. Ihm war die bloße Berührung des ungepflasterten Erdbodens und seine grüne Nähe Glückes genug, der Hopfsche Garten, wo man Stachel- und Johannisbeeren pflücken und der Henne ins Nest gucken durfte, das Paradies. Ein ungewöhnlich entwickeltes Geruchsvermögen machte mir auch all die hundert Kräutlein im Grase zu lauter kleinen Persönlichkeiten, mit denen ich in Beziehung trat.

      Edgar und ich hielten in der Kinderschar am engsten zusammen, weil wir zuerst vor allen anderen dagewesen waren und uns eine gemeinsame Welt erbaut hatten. Daß ich aber auch noch als Sechsjährige am liebsten mit ihm von einem Teller aß und in einem Bettchen schlief, wobei wir bis zum Einschlafen zusammen Verse verfertigten, weiß ich nicht mehr aus eigener Erinnerung, sondern aus Briefen der Mutter. Und daß an diesen Versen, wie sie schrieb, nichts Gutes war als die Leichtigkeit des Reims, ist nicht zu verwundern. Unseren Spielen hatten sich bald zwei andere Brüder, Alfred und Erwin, gesellt, ohne daß sich mir der Zeitpunkt ihres ersten Erscheinens eingeprägt hätte. Mit Bewußtsein erlebte ich nur die Geburt des Jüngsten, der im Jahre 1860 zur Welt kam und nach Mamas Lieblingshelden Garibaldi genannt wurde. Im Familienkreise hieß er nie anders als Balde. Ich brachte ihm zunächst keine große Begeisterung entgegen, denn ich hatte aus unvorsichtigen Reden Erwachsener entnommen, daß seine bevorstehende Ankunft häusliche Sorgen bereitete, und das machte mich zunächst ein wenig zuhaltend. Daß ich, statt wie bisher die wilden Spiele der Brüder im sommerlichen Garten zu teilen, jetzt nachmittagelang sitzen und seinen Schlaf hüten sollte, stimmte mich auch nicht froher. Aber als ich eines Tages eine Fliege in den offenen Mund des Kindes kriechen sah und alle Mühe hatte, sie herauszubringen, ohne ihn zu wecken, da wurde mir seine ganze Hilflosigkeit klar; von Stunde an liebte ich ihn zärtlich und widmete ihm auch gerne meine Zeit.

      Es mag in jenem Jahre oder auch etwas früher gewesen sein, daß ich zum erstenmal meine eigene Bekanntschaft machte. Im großen Zimmer in Obereßlingen waren zwischen den Fenstern zwei lange schmale Wandspiegel eingelassen, die auf einem niedrigen, rings umlaufenden Sockel ruhten. Eines Tages, ob es nun Wirkung der Beleuchtung oder sonst ein Zufall war, blieb ich plötzlich betroffen mitten im Zimmer stehen und starrte in einen dieser Spiegel, der mir mein eigenes Bild entgegenhielt. Ein leiser Schauder überlief mich, und ich dachte einen niegedachten Gedanken: Also das bin ich! Zwischen Scheu und Wißbegier trat ich ganz nahe hinzu und musterte das schmale, durchscheinende Kindergesicht, das fast nur aus Augen bestand, aus großen, erstaunten Augen, die mich rätselhaft und forschend anblickten, wie ich sie: Also das sind meine Augen, meine Stirn, mein Mund! Mit diesem Gesicht, mit diesen Gliedern muß ich nun immer beisammen sein und alles mit ihnen gemeinsam erleben! — Dieser Frater Corpus, der „Bruder Leib“, den ich da plötzlich vor mir sah, schien mir aber keineswegs mein Ich zu sein, sondern ein eben auf mich zugetretener Weggenosse, mit dem ich jetzt weiterzupilgern hätte. Und es kam mir vor, als wäre eine Zeit gewesen, wo wir zwei uns noch gar nichts angingen. Bisher war mir nämlich meine Körperlichkeit nur bewußt geworden, wenn ich mir eine Beule an die Stirn rannte oder mit der großen Zehe gegen einen Stein stieß. Es war auch bloß ein kurzer Augenblick der Befremdung, in dem mich dieses unfaßbare Zweisein berührte. Die frühe Kindheit mag solchen halb metaphysischen Empfindungen zugänglicher sein als die reifgewordene Jugend, die im unbändigen Stolz ihrer physischen Kraft und Herrlichkeit vielmehr den Bruder Leib für den eigentlichen Menschen ansieht.

      In die gleiche Zeit fiel eine andere erschütterndere Entdeckung. Ich sah eines Tages durchs Fenster eine Schar schwarzgekleideter Männer vorübergehen und einen mit schwarzem Tuch verhüllten Gegenstand tragen, der mir wie ein großer Koffer erschien. Der Anblick berührte mich peinlich, und Christine, unser neues Kindermädchen, das seit kurzem im Hause war, sagte auf meine Frage, das sei eine Leiche, mit der die Leute auf den Kirchhof gingen. — Was ist eine Leiche? fragte ich mit Widerwillen, denn ich hatte das Wort noch nie gehört, und es klang mir fremd und unheimlich. Sie antwortete, das sei ein toter Mensch. Ich wunderte mich, daß auch Menschen sterben sollten, denn ich hatte gemeint, das sei ein übler Zufall, der nur Vögel, Hunde, Katzen


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