Gesammelte Erzählungen von Anatole France. Anatole France
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Anatole France
Gesammelte Erzählungen von Anatole France
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2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-0885-2
Inhaltsverzeichnis
Der fliegende Händler und mehrere andere nützliche Erzählungen
Nützliche und erbauliche Meinungen des Herrn Abbé Jérôme Coignard
Der fliegende Händler und mehrere andere nützliche Erzählungen
Der kleine Schornsteinfeger oder Wohlangebrachte Mildtätigkeit
Crainquebille
Die Majestät der Justiz herrscht in ihrer ganzen Größe in jedem einzelnen Urteil, welches der Richter im Namen des souveränen Volkes verkündet. Jeremias Crainquebille, ein herumziehender Gemüsekrämer, sollte erfahren, wie erhaben das Gesetz ist, als er wegen Beleidigung eines öffentlichen Staatsbeamten vor Gericht geführt wurde.
Nachdem er in dem prächtigen und düsteren Saale auf der Anklagebank Platz genommen hatte, sah er voll staunender Bewunderung auf die Richter und Advokaten in ihren Roben, auf den Gerichtsdiener mit der Kette, auf die Polizisten und auf die Zuschauer, die bloßen Hauptes schweigend hinter einer Scheidewand saßen.
Er sah sich selbst auf einem erhöhten Sitz und empfand es als eine hohe Ehre, als Angeklagter vor dem Tribunal erscheinen zu dürfen.
Im Hintergrund des Saales zwischen den beiden beigeordneten Richtern thronte der Präsident Bourriche, auf dessen Brust die Ehrenabzeichen der Akademie prangten.
Eine Büste der Republik und ein Christus am Kreuze schmückten die Rückwand des Saales, so daß alle göttlichen und menschlichen Gesetze über Crainquebilles Haupt schwebten.
Er empfand es mit wahrem Schrecken. Denn da er durchaus nicht philosophisch veranlagt war, fragte er sich nicht, was diese Büste und dieses Kruzifix hier bedeuten sollten und in welcher Beziehung eigentlich wohl Jesus und Marianne zu dem Gericht stehen konnten.
Dennoch gab es einem zu denken, denn die päpstliche Lehre und das kanonische Recht stehen in vielen Punkten im Widerspruch zu der Verfassung der Republik und dem Zivilrecht.
So viel man weiß, sind die Dekretalen nicht aufgehoben worden.
Die Kirche Christi lehrt wie früher, daß nur solche Mächte eine legitime Gültigkeit haben, die sie selbst eingesetzt hat. Aber die französische Republik erhebt den Anspruch, keineswegs von der päpstlichen Macht abhängig zu sein.
Füglich hätte Crainquebille mit einigem Recht sagen können:
Meine Herren Richter, da der Präsident Loubet nicht gesalbt ist, so verwirft dieser Christus, der zu euren Häuptern hängt, kraft des Konzils und der päpstlichen Gewalt eure Macht.
Entweder ist er hier, um euch an die Macht der Kirche zu erinnern, die eure Macht vermindert, oder seine Gegenwart hier hat absolut keinen vernünftigen Sinn.
Daraufhin hätte der Präsident Bourriche vielleicht geantwortet:
Angeklagter Crainquebille, Frankreichs Könige haben immer in Unfrieden mit dem Papst gelebt.
Wilhelm von Nogaret wurde exkommuniziert, aber um solcher Kleinigkeit willen dankte er nicht ab.
Der Christ hier im Gerichtssaal ist nicht der Christ Gregors VII. und Bonifacius VIII. Er ist, sozusagen, der Christ des Evangeliums, der nichts vom kanonischen Recht wußte und niemals etwas von den verwünschten Dekretalen gehört hat.
Dann lag es bei Crainquebille, ihm zu antworten:
Der Christ des Evangeliums war ein Menschenfreund.
Und außerdem erlitt er eine Verurteilung, die alle christlichen Völker seit neunzehn Jahrhunderten als einen großen Irrtum der Justiz anerkannt haben. Ich rate Ihnen daher, mein Herr Präsident, mich in seinem Namen nicht einmal zu vierundzwanzig Stunden Gefängnis zu verurteilen.
Aber Crainquebille machte weder historische oder politische, noch soziale Betrachtungen. Er verharrte in stummem Staunen. Der Apparat, der ihn umgab, flößte ihm eine hohe Bewunderung für die Justiz ein.
Er war so von Ehrerbietung durchdrungen, so überwältigt von Angst und Schrecken, daß er die Entscheidung über seine Schuld ganz den Richtern anheim stellte.
In seinem innersten Gewissen zwar fühlte er sich unschuldig, aber was war das Gewissen eines einfachen Gemüsekrämers gegenüber dem Gesetz und den Verwaltern der öffentlichen Strafgewalt. Schon sein Advokat hatte ihn halbwegs davon überzeugt, daß er nicht unschuldig sei. Eine kurze summarische Untersuchung hatte die ihn belastenden Anklagen ergeben.
Crainquebilles Abenteuer.
Jeremias Crainquebille, seines Zeichens ein herumziehender Gemüsehändler, zog tagaus tagein