Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер
Читать онлайн книгу.innere oder äußere Spur übrigleibt. Dies kann man am deutlichsten an den großen Beispielen der Geschichte sehen. Die Tausende, welche Philipp der Zweite verbrennen ließ, haben ihm gewiß längst verziehen und betrachten ihn wie einen andern Mann, der gefehlt hat, während die Millionen Protestanten, welche leben, ihm immer noch nicht verzeihen können, weil die Wirkungen seiner Tat noch täglich vor unser aller Augen sind, und ihn selbst betreffend, ist es gar nicht denkbar, daß er sein weltgeschichtliches Unrecht habe vergessen können; denn wenn er auch mit seinem Tode als König abgesetzt und in den Wirbel der anderen Wesen gerissen wurde, so hörte er darum nicht auf, Philipp der Zweite zu sein, vielmehr, wenn er es je gewesen ist, wird er es ewig bleiben. Dadurch aber, daß nur die vom Unrecht Betroffenen unmittelbar verzeihen, was man so verzeihen nennt, bleibt zuletzt doch kein Haß übrig als derjenige gegen das Böse, das man in sich selber hat; denn das Nichtverzeihen der übrigen ist wieder etwas anderes.
Es ist merkwürdig, daß die Menschen immer nur große Dummheiten, die sie begangen, glauben nicht vergessen zu können, sich bei deren Erinnerung vor den Kopf schlagen und kein Hehl daraus machen, zum Zeichen, daß sie nun klüger geworden; begangenes Unrecht aber machen sie sich weis allmählich vergessen zu können, während es in der Tat nicht so ist, schon deswegen, weil das Unrecht mit der Dummheit nahe verwandt und ähnlicher Natur ist. Ja, dachte ich, so unverzeihlich mir meine Dummheiten sind, wird es auch mein Unrecht sein! Was ich an Römer getan, werde ich von nun an nie mehr vergessen und, wenn ich unsterblich bin, in die Unsterblichkeit hinübernehmen, denn es gehört zu meiner Person, zu meiner Geschichte, zu meinem Wesen, sonst wäre es nicht passiert! Meine einzige Sorge wird sein, zu trachten, daß ich noch so viel Rechtes tue, daß mein Dasein erträglich bleibt!
Ich sprang auf und verkündete der Judith diese Ausführung und Anwendung ihrer einfachen Worte; denn es dünkte mir ein wichtiges Ereignis, so für immer auf das Vergessen einer Übeltat zu verzichten. Judith zog mich nieder und sagte mir ins Ohr »Ja, so wird es sein; du bist jetzt erwachsen und hast in diesem Handel schon deine moralische Jungfernschaft verloren! Nun kannst du dich in acht nehmen, Bürschchen, daß es nicht so fort geht!« Der drollige Ausdruck, den sie gebrauchte, stellte mir die Sache noch in ein neues und lächerlich deutliches Licht, daß ich einen großen Ärger empfand und mich einen ausgesuchten Esel, Laffen und aufgebläheten Popanz schalt, der sich so blindlings habe übertölpeln lassen. Judith lachte und rief »Denke daran, wenn man am gescheitesten zu sein glaubt, so kommt man am ehesten als ein Esel zum Vorschein!« – »Du brauchst nicht zu lachen!« erwiderte ich ärgerlich, »ich habe dir soeben, als ich kam, auch einen Tort angetan ich habe gefürchtet, daß du vielleicht einen fremden Mann bei dir haben könntest!«
Sie gab mir sogleich eine Ohrfeige, doch, wie es mir schien, mehr aus Vergnügen als aus Zorn und sagte »Du bist ein recht unverschämter Gesell und glaubst wohl, du brauchst deine schändlichen Gedanken nur einzugestehen, um von mir absolviert zu sein! Freilich sind es nur die beschränkten und vernagelten Leute, welche nie etwas eingestehen wollen; aber die übrigen machen deswegen damit auch nicht alles gut! Zur Strafe gehst du mir jetzt gleich zum Tempel hinaus und machst, daß du nach Hause kommst! Morgen des Nachts darfst du dich wieder zeigen!« Sie trieb mich unerbittlich aus dem Hause; denn sie hatte jetzt genugsam gemerkt, daß es mich stark zu ihr hinzog und daß ich eifersüchtig auf sie war.
Ich begab mich nun, sooft es anging, des Nachts zu ihr; sie brachte den Tag meistens allein und einsam zu, während ich entweder weite Streifzüge unternahm, um zu zeichnen, oder in des Schulmeisters Haus, als in einer Schule des Leidens, mich still und gemessen halten mußte. So hatten wir in diesen Nächten vollauf zu plaudern und saßen oft stundenlang am offenen Fenster, wo der Glanz des nächtlichen Himmels über der sommerlichen Welt lag, oder wir machten dasselbe zu, schlossen die Laden und setzten uns an den Tisch und lasen zusammen. Ich hatte ihr im Herbst auf ihr Verlangen nach einem Buche eine deutsche Übersetzung des Rasenden Roland zurückgelassen, welchen ich selbst noch nicht näher kannte; Judith hatte aber den Winter über oft darin gelesen und pries mir jetzt das Buch als das allerschönste in der Welt an. Judith zweifelte nicht mehr an Annas baldigem Tod und sagte mir dies unverhohlen, obgleich ich es nicht zugeben wollte; durch diesen Gegenstand und meine Berichte von jenem Krankenlager wurden wir trübselig und düster, jedes auf seine Weise, und wenn wir nun im Ariost lasen, so vergaßen wir alle Trübsal und tauchten uns in eine frische glänzende Welt. Judith hatte das Buch erst ganz volkstümlich als etwas Gedrucktes genommen, wie es war, ohne über seinen Ursprung und seine Bedeutung zu grübeln; als wir aber jetzt zusammen darin lasen, verlangte sie manches zu wissen, und ich mußte ihr, so gut ich konnte, einen Begriff geben von der Entstehungsweise und der Geltung eines solchen Werkes, von dem Wollen und den bewußten Absichten des Dichters, und ich erzählte, soviel ich wußte, von Ariost. Nun wurde sie erst recht fröhlich, nannte ihn einen klugen und weisen Mann und las die Gesänge mit verdoppelter Lust, da sie wußte, daß diesen so heiteren und so tiefsinnigen Wechselgeschichten eine helle und tiefgefühlte Absicht zugrunde lag, ein Wollen, Schaffen und Gestalten, eine Einsicht und ein Wissen, das ihr in seiner Neuheit wie ein Stern aus dunkler Nacht erglänzte. Wenn die in Schönheit leuchtenden Geschöpfe rastlos an uns vorüberzogen, von Täuschung zu Täuschung, und, leidenschaftlich sich jagend und haschend, immer eins dem andern entschwand und ein drittes hervortrat, oder wenn sie in kurzen Augenblicken bestraft und trauernd ruheten von ihrer Leidenschaft oder vielmehr sich tiefer in dieselbe hineinzuruhen schienen an klaren Gewässern, unter wundervollen Bäumen, so rief Judith »O kluger Mann! Ja, so geht es zu, so sind die Menschen und ihr Leben, so sind wir selbst, wir Narren!«
Noch mehr glaubte ich selbst der Gegenstand eines poetischen Scherzes zu sein, wenn ich mich neben einem Weibe sah, welches ganz wie jene Fabelwesen auf der Stufe der voll entfalteten Kraft und Schönheit stillzustehen und dazu angetan schien, unablässig die Leidenschaft fahrender Helden zu erregen. An ihrer ganzen Gestalt hatte jeder Zug ein siegreiches festes Gepräge, und die Faltenlagen ihrer einfachen Kleider waren immer so schmuck und stattlich, daß man durch sie hindurch in der Aufregung wohl goldene Spangen oder gar schimmernde Waffenstücke zu ahnen glaubte. Entblößte jedoch das üppige Gedicht seine Frauen von Schmuck und Kleidung und brachte ihre bloßgegebene Schönheit in offene Bedrängnis oder in eine mutwillig verführerische Lage, während ich mich nur durch einen dünnen Faden von der blühendsten Wirklichkeit geschieden sah, so war es mir vollends, als wäre ich ein törichter Fabelheld und das Spielzeug eines ausgelassenen Dichters; nicht nur das platonische Pflicht- und Treuegefühl gegen das von christlichen Gebeten umgebene Leidensbett eines zarten Wesens, sondern auch die Furcht, schlechtweg durch Annas krankhafte Träume verraten zu werden, legten ein Band um die verlangenden Sinne, während Judith aus Rücksicht für Anna und mich und aus dem Bedürfnisse sich beherrschte, in dem zierlich platonischen Wesen der lugend noch etwas mitzuleben. Unsere Hände bewegten sich manchmal unwillkürlich nach den Schultern oder den Hüften des andern, um sich darumzulegen, tappten aber auf halbem Wege in der Luft und endigten mit einem zaghaften abgebrochenen Wangenstreicheln, so daß wir närrischerweise zwei jungen Katzen glichen, welche mit den Pfötchen nacheinander auslangen, elektrisch zitternd und unschlüssig, ob sie spielen oder sich zerzausen sollen.
In solchen Augenblicken rafften wir uns auf; Judith zog ihre Schuhe an und begleitete mich in die Sommernacht hinaus; es reizte uns, ungesehen ins Freie zu gelangen und auf nächtliche Abenteuer durch den Wald und über die Höhen zu gehen. Solche romantische Gewohnheiten vergnügten meine Begleiterin um so mehr, als sie ihr neu waren und sie noch nie ohne einen bestimmten und außerordentlichen Zweck nächtlicherweise aus dem Dorfe gegangen war. Sie freuete sich aber dieser Freiheit um ihrer selbst willen und nicht aus Naturschwärmerei, weil sie einmal ein abgesondertes und eigenes Leben führte, obgleich ursprünglich niemand besser als sie zu einem frischen Zusammenleben geschaffen war. Sie stellte daher keine gefühlvollen Betrachtungen über den Mondschein an, sondern sie rauschte mutwillig und rasch durch die Gebüsche oder knickte halb unmutig manchen grünen Zweig, mit dem sie mir ins Gesicht schlug, als ob sie damit alles wegzaubern wollte, was zwischen mir und ihr lag, die Jahre, die fremde Liebe und den ungleichen Stand. Sie wurde dann ganz anders, als sie erst in der Stube gewesen, und förmlich boshaft, spielte mir tausend Schabernack, verlor sich im dunklen Dickicht, daß ich sie plötzlich zu fassen bekam, oder hob beim Springen über einen Graben das Kleid so hoch, daß ich in Verwirrung geriet. Einmal erzählte ich ihr das Abenteuer, das ich als kleiner Junge mit jener Schauspielerin gehabt, und