Der Hund der Baskervilles. Arthur Conan Doyle
Читать онлайн книгу.denn – angenommen, daß die Buchstaben C.C.H. wirklich Charing Cross Hospital bedeuten, welche weiteren Schlüsse können wir daraus ziehen?«
»Drängen sich denn keine auf? Sie kennen meine Methoden. Wenden Sie sie an!«
»Ich kann nur zu dem offensichtlichen Schluß kommen, daß der Mann in der Stadt praktiziert hat, ehe er auf das Land gegangen ist.«
»Ich glaube, wir können sogar einen Schritt weiter gehen. Betrachten Sie die Sache von folgendem Standpunkt aus. Was wäre wohl die wahrscheinlichste Gelegenheit zu einer solchen Widmung? Wann täten sich seine Freunde zusammen, um ihm ein solches Unterpfand ihres guten Willens zu geben? Doch wohl in dem Augenblick, da Dr. Mortimer den Dienst im Krankenhaus aufgibt, um eine eigene Praxis zu gründen. Wir wissen, daß ein Geschenk gemacht worden ist. Wir nehmen an, daß es einen Wechsel von einem Krankenhaus in der Stadt zu einer Praxis auf dem Land gegeben hat. Ist die Voraussetzung, daß dieser Wechsel die Ursache zu diesem Geschenk war, zu weit hergeholt?«
»Es scheint mir sogar sehr wahrscheinlich.«
»Nun müssen Sie in Betracht ziehen, daß er nicht Mitglied des Ärztepersonals dieses Krankenhauses gewesen sein kann, da nur ein Arzt mit einer gutetablierten Londoner Praxis eine solche Stellung einnehmen könnte, und ein solcher Mann würde sich nicht aufs Land zurückziehen. Was also war seine Stellung? Wenn er im Krankenhaus gearbeitet hat, aber nicht Mitglied des Ärztestabs war, kann er nur Assistenzchirurg oder Internist gewesen sein – wenig mehr als ein älterer Student. Und er hat das Krankenhaus vor fünf Jahren verlassen – das Datum ist auf dem Stock eingraviert. So löst sich Ihr Hausarzt gesetzten Alters in Luft auf, und ein junger Mensch unter dreißig taucht auf, liebenswürdig, ohne Ehrgeiz, zerstreut, und Besitzer eines Lieblingshundes, den ich grob als größer denn einen Terrier und kleiner denn eine Bulldogge beschreiben möchte.«
Ich lachte ungläubig, während sich Sherlock Holmes auf dem Kanapee zurücklehnte und kleine Rauchringe zur Zimmerdecke hinauf blies.
»Was den zweiten Teil betrifft, habe ich keine Möglichkeit, ihn zu überprüfen«, sagte ich. »Aber wenigstens ist es nicht schwer, Genaueres über das Alter und die berufliche Karriere dieses Mannes herauszufinden.«
Ich nahm das Ärzteverzeichnis von meinem kleinen Regal mit medizinischen Werken und schlug den Namen nach. Es gab mehrere Mortimers, aber nur einer kam als unser Besucher in Frage. Ich las die Stelle aus dem Buche laut vor.
Mortimer, James, M.R.C.S., 1882, Grimpen, Dartmoor, Devon. Assistenzchirurg 1882–1884 am Charing Cross Hospital. Gewinner des Jackson-Preises für Vergleichende Pathologie für eine Abhandlung, betitelt ›Ist Krankheit ein Atavismus?‹ Korrespondierendes Mitglied der Schwedischen Gesellschaft für Pathologie. Autor von ›Einige sonderbare Fälle von Atavismus‹ (Lancet 1882), ›Machen wir Fortschritte?‹ (Journal of Psychologe, März 1883), Gemeindearzt für Grimpen, Thorsley und Highbarrow.
»Keine Erwähnung einer örtlichen Jagdgesellschaft, Watson«, sagte Holmes mit einem spitzbübischen Lächeln. »Aber er ist Landarzt, wie Sie so scharfsinnig bemerkt haben. Ich glaube, daß meine Annahmen einigermaßen berechtigt waren. Bei den Eigenschaften habe ich, wenn ich mich recht erinnere, gesagt: liebenswürdig, ohne Ehrgeiz und zerstreut. Meiner Erfahrung nach ist es nur ein liebenswürdiger Mensch, der beschenkt wird, nur ein ehrgeizloser, der seine Karriere in London gegen das Land eintauscht, und nur ein zerstreuter, der seinen Stock und nicht seine Visitenkarte zurückläßt, wenn er eine Stunde in Ihrem Domizil gewartet hat.«
»Und der Hund?«
»Ist daran gewöhnt, diesen Stock seinem Herrn nachzutragen. Da es ein schwerer Stock ist, hält ihn der Hund fest in der Mitte, und die Spuren seiner Zähne sind sehr gut sichtbar. Der Kiefer des Hundes, wie man aus dem Abstand zwischen diesen Zahnspuren schließen kann, ist meiner Meinung nach zu breit für einen Terrier und nicht breit genug für eine Bulldogge. Es könnte sein – ja, bei Jupiter! Es ist ein kraushaariger Spaniel!«
Er war aufgestanden und im Zimmer auf und ab gegangen, während er sprach. Nun stand er in der Fensternische. Aus seiner Stimme klang solche Überzeugung, daß ich überrascht aufsah.
»Lieber Freund, wie können Sie dessen so sicher sein?«
»Aus dem sehr einfachen Grund, daß ich den Hund soeben vor unserer Haustüre sehe, und sein Besitzer läutet gerade. Gehen Sie bitte nicht weg, Watson, er ist ein Kollege von Ihnen, und Ihre Gegenwart kann hilfreich für mich sein. Es ist immer ein dramatischer, schicksalhafter Moment, Watson, wenn Sie auf der Treppe einen Schritt hören, der in Ihr Leben einzutreten im Begriff ist, und Sie wissen nicht, ob es zum Guten oder zum Bösen sein wird. Was kann Dr. James Mortimer, der Mann der Wissenschaft, von Sherlock Holmes, dem Sachverständigen für Verbrechen, wollen? Herein!«
Das Auftreten unseres Besuchers war eine Überraschung für mich, da ich einen typischen Landarzt erwartet hatte. Er war sehr groß, sehr schlank, mit einer langen Nase, die wie ein Schnabel zwischen den nahe beieinanderliegenden scharfen grauen Augen hervorragte, die hell hinter einer goldgefaßten Brille funkelten. Er war seinem Beruf entsprechend, aber ziemlich unordentlich gekleidet, denn sein Gehrock war schmutzig und seine Hose abgetragen. Trotz der Jugend war sein langer Rücken schon gebeugt, und er ging mit vorgestrecktem Kopf, was den Eindruck neugierigen Wohlwollens hervorrief. Als er eintrat, fiel sein Blick auf den Stock in Holmes' Hand; er stürzte sich mit einem freudigen Ausruf darauf.
»Da bin ich aber froh«, sagte er. »Ich war nicht sicher, ob ich ihn hier oder bei der Schiffahrtsgesellschaft gelassen hatte. Ich möchte um nichts in der Welt diesen Stock verlieren.«
»Ein Geschenk, wie ich sehe«, sagte Holmes.
»Ja, Sir.«
»Vom Charing Cross Hospital?«
»Von einem oder zwei Freunden dort anläßlich meiner Hochzeit.«
»O weh, o weh, das ist aber schlecht«, sagte Holmes und schüttelte den Kopf.
Dr. Mortimer blinzelte in milder Verwunderung hinter seinen Brillengläsern hervor.
»Warum sollte das schlecht sein?«
»Nur weil Sie unsere netten Deduktionen zunichte gemacht haben. Ihre Hochzeit, sagen Sie?«
»Ja, Sir. Ich habe geheiratet und deshalb das Krankenhaus und damit auch jede Aussicht auf eine Konsultationspraxis verlassen. Ich mußte eben meinen eigenen Hausstand gründen.«
»So, so, wir haben uns also doch nicht vollkommen geirrt«, lächelte Holmes. »Und nun, Dr. James Mortimer ...«
»Mister, Sir, Mister – ein schlichtes Mitglied des Royal College of Surgeons. M.R.C.S.«
»Und anscheinend ein Mann von exaktem Wissen.«
»Ein Amateurwissenschaftler, Mr. Holmes, ein Mann, der Muscheln am Strand des weiten, unbekannten Ozeans aufhebt. Ich nehme doch an, daß ich mit Mr. Sherlock Holmes spreche und nicht mit ...?«
»Nein – dies hier ist mein Freund Dr. Watson.«
»Nett, Sie kennenzulernen, Sir. Ich habe Ihren Namen im Zusammenhang mit dem Ihres Freundes gehört. Sie interessieren mich sehr, Mr. Holmes. Ich hätte kaum eine so ausgesprochene Langschädelformation und so stark entwickelte Jochbogen bei Ihnen erwartet. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mit dem Finger Ihre Scheitelnaht entlangfahre? Ein Abguß Ihres Schädels, Sir, wäre, solange nicht das Original zur Verfügung steht, die Zierde jedes anthropologischen Museums. Plumpe Schmeichelei ist nicht meine Absicht, aber ich gestehe, daß ich auf Ihren Schädel Lust bekomme.«
Mit einer Handbewegung lud Sherlock Holmes unseren seltsamen Besucher zum Sitzen ein.
»Sie sind offenbar in Ihrer Sparte ein ebensolcher Enthusiast wie ich in meiner«, sagte er. »Ich sehe an Ihrem Zeigefinger, daß Sie Ihre Zigaretten selbst drehen. Lassen Sie sich nicht davon abhalten, eine anzuzünden.«
Der Mann zog Papier und Tabak hervor und drehte mit überraschender Fingerfertigkeit eine Zigarette. Seine langen, behenden Finger waren beweglich und rastlos wie die Fühler eines Insekts.
Holmes