Der Geliebte der Verlobten. Laura Lippman
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Der Geliebte der Verlobten
Tess Monaghans erster Fall
Aus dem amerikanischen Englisch von Gerhard Falkner und Nora Matocza
Kampa
Meinen Eltern
Von allen Fluchtreaktionen ist Tod die wirkungsvollste.
H.L. MENCKEN, »Ein Buch der Burlesken«
Obwohl ich die gute alte Stadt Baltimore sehr liebe, und viele ihrer Bewohner noch mehr, lehrt mich die Vergangenheit, dass sie, was ihre kollektiven oder öffentlichen Fähigkeiten angeht, eine Ansammlung der dümmsten, gedankenlosesten, unentschlossensten, unpraktischsten und krankhaftesten Zweibeiner ist, die es je unter der Sonne gegeben hat. In ihrer Einbildung, auf die sie stolz sind, ertragen sie keinerlei Rat, sei er auch noch so überlegt und ausgereift, von keinem Menschen, und lassen sich stets von ihren eigenen primitiven und unüberlegten Vorurteilen leiten und nicht von dem, was der gesunde Menschenverstand nahelegen würde, der doch nur aus dem geduldigen Ausüben von Urteilskraft, Beobachtung und Nachdenken erwachsen kann.
DR. THOMAS HEPBURN BUCKLER aus Baltimore, in einem Brief aus seinem selbst gewählten Exil in Paris, erschienen in: »Baltimore: Seine Interessen – Vergangenheit, Gegenwart, und Zukunft« (1873)
Im schönsten Dreck lag ich und lachte
vor Glück, doch als ich dann erwachte
sah ich des Himmels Morgenröte schon
o Mann, dann war dies alles nur der Lüge Lohn
die Welt war immer noch die alte
ich war noch ich, nur die Klamotten nass und kalte
und mir blieb weiter nichts zu spinnen
als mit dem gleichen Spiel von vorne zu beginnen
ALFRED EDWARD HOUSMAN, »Terence, Das ist dummes Zeug«
1
Am letzten Abend im August ging Tess Monaghan in einen Drugstore und kaufte sich ein Schreibheft – eins mit einem schwarz-weiß marmorierten Umschlag. Das tat sie jedes Jahr im Herbst, schon seit sie sechs Jahre alt war, und sie sah auch keinen Grund, daran etwas zu ändern, obwohl inzwischen 23 Jahre vergangen waren. Ungeachtet dessen, dass sie einen Computer mit großem Speicher besaß, dem sie absolut alles hätte anvertrauen können, was sie aufzeichnen wollte, legte sie diese Gewohnheit nicht ab. Ungeachtet auch dessen, dass sie bis zum Rite Aid gehen musste, weil »Weinstein Drugs« von ihrem Großvater schon lange in den Ruin geführt worden war. Und schließlich auch ungeachtet dessen, dass sie nicht mehr zur Schule ging, keinen Job mehr hatte und das Ende des Sommers für sie wenig Bedeutung besaß. Doch Tess glaubte an Routine und Rituale. Also kaufte sie ein Schreibheft für einen Dollar neunundsechzig, nahm es mit nach Hause, schlug die erste Seite auf und schrieb:
Ziele im Herbst:
1. 60 Kilo Bankdrücken.
2. 1000 Meter in viereinhalb Minuten laufen.
3. Don Quijote lesen.
4. Einen Job finden, usw.
Sie saß an ihrem Schreibtisch und las noch einmal, was sie eben geschrieben hatte. Die ersten beiden Punkte waren machbar, wenn auch mit Anstrengung: Sie konnte die fünfzig Kilo bis zu zehnmal heben und brauchte fünf Minuten für tausend Meter. Der Don Quijote hatte sie zwar beim ersten Mal noch besiegt, aber diesen Herbst fühlte sie sich ihm gewachsen.
Punkt 4 war da schon problematischer. Vor allem würde sie sich vorher überlegen müssen, was für einen Job sie überhaupt wollte, ein Dilemma, das sie bereits seit zwei Jahren lähmte, seit nämlich Baltimores vorletzte Zeitung, der Star, eingegangen war und die nunmehr letzte Zeitung, der Beacon, sie nicht hatte anstellen wollen.
Tess schlug das Heft zu, steckte es ins Regal neben die 22 anderen – alle leer bis auf die erste Seite –, stellte den Wecker und war binnen fünf Minuten eingeschlafen. Es war der Abend vor dem ersten Schultag und die Stadt begann, die Schläfrigkeit des Augusts abzuschütteln und frisch in den Herbst einzusteigen. Vielleicht würde das ja auch Tess mitreißen.
Der Wecker klingelte sieben Stunden später, um Viertel nach fünf. Sie zog sich schnell an und lief zu ihrem Auto, wobei sie in die Luft schnüffelte, um herauszufinden, ob der Herbst in diesem Jahr zeitig einsetzen würde. Die Luft aber war bedrückend dick und zäh und scherte sich keinen Deut um Tess’ Erwartungen. Ihr elf Jahre alter Toyota, das Zuverlässigste in ihrem Leben, sprang sofort an. »Danke, mein Schatz«, sagte sie, tätschelte das Armaturenbrett und lenkte den Wagen durch die verlassenen Straßen der Innenstadt.
Auf der anderen Seite des Hafens lag das Bootshaus noch im Dunkeln. Das war morgens um halb sechs oft so, denn für den Hausmeister stellte sein mickriger Lohn keinen besonders großen Anreiz dar, das Bett zu verlassen und noch vor Tagesanbruch in Cherry Hill einzutreffen. Aus diesem Viertel waren die Obstbäume, die ihm einst den Namen gegeben hatten, längst verschwunden, und es galt inzwischen als eine zu jeder Tages- und Nachtzeit üble Gegend. Und obwohl seine sanften Abhänge einen herrlichen Blick auf Hafen und Skyline von Baltimore boten, kam doch niemand wegen der Aussicht nach Cherry Hill.
Zum Glück hatte Tess einen eigenen Schlüssel zum Bootshaus, so wie die meisten Unentwegten unter den Ruderern. Sie sperrte auf, verstaute ihren Schlüsselbund in einem Schließfach im Umkleideraum, rannte die Treppe hinunter und packte ihre Ruder, weil sie unbedingt noch vor den Collegestudenten auf dem Wasser sein wollte. Sie mochte nicht in einen Topf geworfen werden mit Leuten, die sie bei sich die J.-Crew-Meute nannte, diese grünen Jungs mit ihrem ewigen Gequassel von den Prüfungen, die sie so blendend bestanden, und den Bierfässern, von denen sie so viele angestochen hatten. Aber ebenso deplatziert fühlte sie sich unter den erwachsenen Mitgliedern des Baltimore Ruderclubs, diesen tüchtigen Berufstätigen, die nach dem Morgentraining zur Arbeit davoneilten, und zwar zu einer richtigen, im Krankenhaus und im wissenschaftlichen Labor, in der Anwaltskanzlei und an der Börse.
»Pass auf meine Schnur auf, Mädel«, rief ein Krebsfischer, dessen Stimme von der feuchten Morgenluft ganz belegt klang.
»Seh ich schon«, sagte sie, während sie ihren Alden Ocean Shell über dem Kopf balancierte und das Dock hinunterging, vorbei an dem ganzen Durcheinander der Krebsfischer, das aus Leinen, Hühnerhälsen und 35- Liter-Eimern bestand. Die Krebsfischer – Leute aus Baltimore, die ihre Sozialhilfe durch die Gaben des Patapsco River aufbesserten – hatten heute Morgen Glück, auch wenn der größte Teil ihres Fangs illegal war: eiertragende Weibchen oder Krebse, die insgesamt weniger als zwölf Zentimeter lang waren. Tess würde sie nicht verpfeifen. Ihr war das egal. Sie aß grundsätzlich nichts aus den heimischen Gewässern.
Zumindest ließ sich der Alden, der städtisches Eigentum war, leicht im Wasser aufsetzen. Die Sonne lugte gerade erst hinter der Francis Scott Key Bridge hervor, als Tess in dem kabbeligen Wasser losruderte und Kurs Richtung Fort McHenry nahm. Fast automatisch summte sie »Star-Spangled Banner«. Oh say can you see? Immer wieder ertappte sie sich dabei, hörte zu singen auf, fing dann aber ganz automatisch wieder an; schließlich ruderte sie ja auch auf die Geburtsstätte dieser Hymne zu. And the rockets’ red glare, the bombs bursting in air …
Das Wasser war an diesem Morgen sehr wellig, und das machte Tess nervös. Ein Alden kenterte zwar nur schwer, aber unmöglich war es nicht, und sie wollte unter keinen Umständen mit der trüben Brühe hier im mittleren Arm des Patapsco Bekanntschaft machen. Einmal hatte sie ein paar Spritzer Flusswasser in eine Wunde an ihrer Hand bekommen, und die war dann drei Monate lang nicht mehr zugeheilt. Am besten erst mal langsam rangehen, sich aufwärmen und die morgensteifen Muskeln entspannen und dehnen. Auf dem Rückweg konnte sie sich dann ja richtig reinlegen und wie in einem Rennen rudern.
Das war Tess’ Routine, ihre einzige, seit der Star eingestellt worden war. Sechs Tage die Woche ruderte sie morgens und lief abends. Dreimal die Woche ging sie zum Krafttraining in eine altmodische Boxschule in Ost-Baltimore. Am siebten Tag ruhte sie, weichte ihren langen Körper in einer heißen Wanne ein und träumte von einem Mann, der ihr gleichzeitig die Füße und den Nacken massieren konnte.
Auf