Über die Natur der Dinge. Lukrez
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Lukrez
Über die Natur der Dinge
Ausgewählt und aus dem Lateinischen übersetzt von Eva Marie Noller
Reclam
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2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961823-4
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014046-8
[7]Einleitung
»Nahezu unlesbar«? – De rerum natura und die Herausforderungen der Lektüre
»Es ist ein seltsames Verhängnis, dass dieses ungemeine, an ursprünglicher poetischer Begabung den meisten, wo nicht allen seinen Vorgängern weit überlegene Talent in eine Zeit gefallen war, in der es selber sich fremd und verwaist fühlte und infolgedessen in der wunderlichsten Weise sich im Stoffe vergriffen hat.« So äußerte sich der Althistoriker Theodor Mommsen im Jahr 1856 in seiner Römischen Geschichte (S. 260) über den Dichter Lukrez und sein Werk De rerum natura. Mommsens Urteil spiegelt in exemplarischer Weise das (scheinbare) Paradox wider, das von der Antike bis in die moderne Forschung hinein den Blick auf dieses Gedicht bestimmt hat: Wie ist die hochpoetische Form in lateinischen Hexametern mit seinem Inhalt in Einklang zu bringen, der nach Mommsen »undankbarer« nicht hätte sein können? Dieser »undankbare Inhalt« des Gedichts lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Lukrez stellt das System der epikureischen Philosophie dar und rückt dabei besonders die Physik ins Zentrum, das heißt die Lehre von der Natur und ihren Erscheinungen.
Blendet man jene kritischen Perspektiven einmal aus und fragt nicht danach, was und wie Dichtung sein muss, sondern danach, was Dichtung kann, so wird deutlich: De rerum natura macht das Unsichtbare anschaulich. Die epikureische Physik basiert nämlich auf der Annahme, dass die gesamte Welt – bis hin zur Seele des Menschen – aus [8]unsichtbar kleinen Atomen aufgebaut ist. Die Herausforderung besteht nun darin, diese nicht sichtbare Ebene der Welt so zu beschreiben, dass man sie sich vorstellen und sie verstehen kann. De rerum natura wird daher der Gattung des Lehrgedichts zugeordnet, also einer Form der Dichtung, die darauf ausgerichtet ist, einem Rezipienten Wissen über einen bestimmten Sachverhalt zu vermitteln. Diese Gattung hat in der griechisch-römischen Antike eine lange Tradition,1 das Lehrgedicht des Lukrez aber ist das früheste vollständig überlieferte Lehrgedicht in lateinischer Sprache.
Um besser zu verstehen, welches Konfliktpotential Form und Inhalt von De rerum natura bergen, gilt es, sich näher mit der philosophischen Schule des Epikureismus zu befassen und darauf aufbauend genauer in den Blick zu nehmen, wie Lukrez diese Philosophie in seinem Werk zur Darstellung bringt.
Doch zuvor zum Autor selbst.
Titus Lucretius Carus – eine (un)mögliche Biographie
Trotz der zeitlichen Distanz erscheinen uns manche Autoren der Antike recht greifbar. Diese Nähe ist wohl in erster Linie darauf zurückzuführen, dass neben den von ihnen selbst verfassten Werken auch Zeugnisse anderer Autoren über sie überliefert sind oder wir, wie im Fall Ciceros, sogar [9]seine umfangreiche Briefkorrespondenz lesen können. Freilich sollte man in all diesen Fällen eine gewisse kritische Vorsicht walten lassen: Auch wenn ein »Ich« spricht bzw. schreibt, haben wir es doch mit (literarischen) Texten zu tun, und es ist nicht unproblematisch, diese Texte als uneingeschränkt glaubwürdige, historische Quelle zum Beispiel für »den Menschen« Cicero, wie er »wirklich« war, zu lesen. Es ist immer zu bedenken, dass Texte (nicht nur solche, die Aussagen über Personen treffen) unterschiedliche Aspekte in den Vorder- bzw. Hintergrund stellen und Informationen vorenthalten können; sie können beschönigen, verzerren oder erfinden. Für Lukrez gibt es nur sehr spärliche biographische Zeugnisse.
Seine Lebensdaten lassen sich ungefähr für den Zeitraum 98–55 v. Chr. ansetzen. Lukrez lebte in der späten römischen Republik, einer Zeit, die von großen politischen Konflikten und Umwälzungen geprägt war und an deren Ende der Übergang zur Staatsform des Prinzipats stand. Das Ende der Republik ist vor allem mit Gaius Iulius Caesar (100–44 v. Chr.) verbunden, der als Mitglied des ersten Triumvirats und späterer Alleinherrscher eine immer stärkere Machtkonzentration in Rom herbeiführte. Ungefähr zu dieser Zeit, zu der das endgültige Ende der Republik sich durch die anhaltende, auch gewaltsame Destabilisierung anbahnte, starb Lukrez.
Auch in der lange andauernden Phase der politischen Krise entstand in Rom Literatur, darunter die Dichtungen des Catull, insbesondere aber die umfangreichen Prosaschriften Ciceros (vor allem Reden und philosophische Schriften), Caesars (unter anderem die Commentarii de bello Gallico) und Sallusts (Geschichtsschreibung). Auch [10]Lukrez war kein Unbekannter, wie sich aus einem Brief Ciceros an seinen Bruder Quintus (2,10; datiert auf das Jahr 54 v. Chr.) rekonstruieren lässt. In diesem Brief hebt der berühmte Redner die besondere Begabung (ingenium) und Kunstfertigkeit (ars) hervor, die aus Lukrez’ Versen ersichtlich werde. Auch bekannte Autoren späterer Zeit, wie Vergil oder Ovid, nehmen implizit oder explizit Bezug auf De rerum natura. Über Lukrez und sein Leben ist daraus aber so gut wie nichts zu erfahren. Es hat fast den Anschein, als existierte er außerhalb seiner Dichtung nicht.
Wie so häufig trägt der Mangel an greifbaren Fakten zur Legendenbildung bei. Im 4. Jahrhundert schrieb der Kirchenvater Hieronymus in seiner Chronik auch über Lukrez. Im Eintrag zum Jahr 94 v. Chr. heißt es: »Der Dichter T. Lucretius wird geboren. Er verfiel später durch einen Liebestrank dem Wahnsinn. Und nachdem er in den Zeiten zwischen seinen Wahnanfällen eine größere Anzahl von Büchern geschrieben hatte [gemeint ist De rerum natura], die Cicero später herausgab, tötete er sich im 44. Jahr seines Lebens selbst« (Hieronymus wertete den erwähnten Brief Ciceros an seinen Bruder als Indiz dafür, dass Cicero die Texte herausgegeben habe).
Schenkt man Hieronymus Glauben, so ist De rerum natura das Werk eines Liebeskranken. Lukrez habe in den Phasen geistiger Zurechenbarkeit daran gearbeitet. Wie kam Hieronymus zu einer solchen Annahme? Wahrscheinlich durch seine Lektüre von De rerum natura. Es scheint, als habe der Kirchenvater einen Teil besonders genau gelesen, nämlich eine Passage im 4. Buch, in der Lukrez die Liebe und die daraus entstehenden Leiden beschreibt (s. S. 56 f.). Hieronymus zieht aus dem Werk Rückschlüsse [11]auf dessen Autor, deutet es also biographisch. Ohne die eigene Erfahrung, so nahm er vielleicht an, könne es kaum möglich sein, so eindrücklich über die abgründigen und gefährlichen Seiten der Liebe zu schreiben. Wenn wir die aus literaturwissenschaftlicher Sicht fragwürdige Vermischung von Dichtung und Leben einmal außer Acht lassen – diese Form der Rezeption durch Hieronymus macht eines deutlich: De rerum natura ist ein Werk, dessen Lektüre Eindruck hinterlässt.
De rerum natura von außen – Titel, Geschichte, philosophischer Hintergrund
De rerum natura ist der Titel, unter dem das Gedicht des Lukrez firmiert, und zwar schon in den ältesten erhaltenen Abschriften (sonst wurden antike Werke häufig schlicht nach ihren Anfangsworten bezeichnet – eigene Buchtitel, wie wir sie heute kennen, waren eigentlich kaum gebräuchlich). Wie er adäquat ins Deutsche zu übertragen ist, dafür gibt es unterschiedliche Lösungen. Wörtlich übertragen bedeutet De rerum natura »Über die Natur der Dinge«, die rerum natura ist aber auch schlicht der lateinische Ausdruck für das, was wir als »Schöpfung« bezeichnen. Im Wort natura schwingen nämlich weit mehr Bedeutungen mit als in unserem Wort »Natur«: