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Mari Jungstedt
An einem einsamen Ort - Ein Schweden-Krimi
Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs
Saga
An einem einsamen Ort - Ein Schweden-Krimi ÜbersetztGabriele Haefs Copyright © , 2019 Mari Jungstedt und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726342956
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Für meine liebsten Augensterne,
meine geliebten Kinder
Rebecka Jungstedt und Sebastian Jungstedt
PROLOG
Tagundnachtgleiche, Samstag, 20. märz
Aus der Ferne war nur ein schwaches Leuchten zu sehen. Igors Bleidelis entdeckte es durch sein Fernglas, als der estnische Frachter beim Verlassen des Hafens von Visby die Pier passierte. Er stand backbords an Deck, die Dämmerung hüllte den menschenleeren Hafen ein, und die kalten Laternen des Fährterminals wurden nach und nach eingeschaltet.
Das Frachtschiff ließ die mittelalterliche Stadt mit ihren Kaufmannshäusern, der sechs Meter hohen Stadtmauer und dem in den Himmel ragenden schwarzen Turm des Doms hinter sich zurück. Die Hafengebäude schienen leer zu sein, ihre Fenster klafften wie blinde schwarze Augen in den Fassaden. Nur wenige Fischkutter dümpelten unruhig am Kai auf und ab.
Um diese Jahreszeit waren fast alle Restaurants geschlossen. Kein Mensch war auf der Straße zu sehen, nur einige einsame Wagen standen vor dem Fährterminal. So lebendig die Stadt im Sommer war, so tot war sie im Winter.
Igors Bleidelis fröstelte in seinem Ölzeug. Seine Nase lief Die Luft war feucht und kalt, und wie immer wehte ein scharfer Wind. Der Drang nach Nikotin hatte ihn an Deck getrieben. Hinter dem Schornstein fand er eine einigermaßen windgeschützte Stelle und fischte ein zerknülltes Päckchen aus der Brusttasche. Nach mehreren Versuchen konnte er sich eine Zigarette anzünden. Der Wind war eiskalt auf seinem Gesicht, und die Kälte fraß sich erbarmungslos unter seinen Kragen.
Er sehnte sich nach einem warmen Bett und nach der weichen Umarmung seiner Frau. Er war schon seit zehn Tagen unterwegs, doch es kam ihm länger vor.
Er hob das Fernglas und schaute zur Küste hinüber. Die Klippen fielen steil ins Meer ab. Hinter dem Hafen gab es nur noch wenige Häuser. Er ließ das Fernglas an den Felswänden entlang wandern. Von hier aus wirkte die Insel karg und ungastlich.
Es wurde schnell dunkel. Er warf die Kippe über Bord und wollte gerade wieder unter Deck gehen, als das ferne Leuchten plötzlich stärker wurde. Hohe Flammen waren hinter einem aufs Meer hinausragenden Felsen zu sehen. Eilig hob er das Fernglas ein weiteres Mal. Stellte die Schärfe ein, so gut er konnte. Ganz hoch oben auf dem Felsen loderte ein Feuer in den finsteren Himmel. Wie ein Walpurgisfeuer im März. Er glaubte Menschen zu erkennen, wie Schattenrisse um dieses Feuer, sie hielten offenbar Fackeln in den Händen. Jemand hob etwas in die Luft und ließ es in die Flammen fallen. Genaueres konnte er aus dieser Entfernung nicht erkennen. Dann war das Schiff schon weiter gefahren und der Lichtschein verschwand aus seinem Blickfeld.
Igors Bleidelis ließ das Fernglas sinken und warf einen letzten Blick zu den Felsen hinüber, dann öffnete er die Tür zu seiner Kajüte und ging hinein ins Warme.
MONTAG 28. JUNI
Unterhalb der Kirche von Fröjel breiteten Rapsfelder und Wiesen sich wie gelbe und grüne Matten zum Meer hinunter aus. Am einen Rand lag das Grabungsgelände. In regelmäßigen Abständen hob sich ein Kopf aus dem hohen Gras, wenn jemand sich aufrichtete, um schmerzende Glieder zu recken oder die Stellung zu wechseln. Eine weiße Schirmmütze, ein Strohhut, ein Seeräuberkopftuch, lange Haare, die aus dem Nacken gehoben wurden in dem Versuch, sich für einen Moment Kühlung zu verschaffen, die dann aber wieder auf die Schultern fielen. Hinter den krummen Rücken zeichnete sich das glitzernde Wasser der Ostsee als blauer, verheißungsvoller Hintergrund ab. Hummeln und Wespen summten im leuchtend roten Mohn, der Hafer wogte gemächlich hin und her, wenn eine leichte Brise darüber hinwegstrich. Ansonsten stand die Luft fast still. Ein Hochdruckgebiet aus Russland hing seit einer Woche über Gotland fest.
An die zwanzig Studierende der Archäologie waren damit beschäftigt, einen tausend Jahre alten Wikingerhafen systematisch auszugraben. Es war eine schwere Arbeit, die viel Geduld erforderte.
Die Niederländerin Martina Flochten hockte in ihrem Schacht und kratzte mit ihrem Spatel zwischen Steinen und Erde herum. Sie arbeitete eifrig, aber vorsichtig mit dem kleinen Werkzeug, um eventuelle Funde nicht zu beschädigen. Ab und zu hob sie einen Stein hoch und ließ ihn in den schwarzen Plastikeimer fallen, der neben ihr stand.
Jetzt begann der Teil der Arbeit, der Spaß machte. Nach zwei Wochen ergebnisloser Grabungen hatte sich ihre Mühe endlich bezahlt gemacht. Martina hatte einige Tage zuvor mehrere Silbermünzen und Glasperlen gefunden. Dinge in der Hand zu halten, die seit dem neunten oder zehnten Jahrhundert kein Mensch mehr berührt hatte, machte auf sie immer wieder einen starken Eindruck. Es setzte Phantasien frei über die Menschen, die an diesem Ort gelebt hatten: Welche Frau hatte diese Perlen getragen? Wer war sie gewesen und welche Gedanken hatten sie bewegt?
Fast die Hälfte der Kursteilnehmer stammte wie Martina Flochten nicht aus Schweden: Zwei kamen aus den USA, es gab eine Britin, einen Franzosen, einen indischen Kanadier, zwei Deutsche und einen Australier, Steven. Die Ausgrabung war Teil seiner Weltreise. Steven besuchte weltweit Orte von archäologischem Interesse, seine Eltern schienen vermögend zu sein und ließen ihm freie Hand. Martina selbst studierte Archäologie an der Universität Rotterdam und hatte dort von den Kursen in archäologischer Feldmethodik gehört, die von der Hochschule Visby organisiert wurden. Die zehn Punkte, die dieser Kurs ihr einbrachte, wurden an ihrer niederländischen Universität anerkannt. Außerdem war Martina Halbschwedin. Ihre Mutter stammte von Gotland, doch Martina hatte ihr Leben bisher in den Niederlanden verbracht. Sie fuhren zwar in den Ferien regelmäßig auf die Insel, auch nachdem Martinas Mutter zwei Jahre zuvor bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, aber die Möglichkeit, sich dort über eine längere Zeit ihrer Lieblingsbeschäftigung zu widmen, wollte sie auf keinen Fall verpassen.
Bisher hatte der Kurs alle Erwartungen übertroffen. Es war lustig, mit den anderen zusammenzuarbeiten, und die meisten waren in ihrem Alter; nur einer, der Amerikaner, Bruce, war um die fünfzig und ging seiner eigenen Wege. Er hatte erzählt, dass er als Computertechniker arbeitete, dass sein großes Interesse aber der Archäologie galt. Und die Britin war um die vierzig, tippte Martina, und wirkte ziemlich eigen.
Martina gefiel diese schwedisch-internationale Mischung. In der Gruppe herrschte eine derbe, aber herzliche Stimmung. Oft hallte das Lachen über dem Feld wider, wenn Witze über die unterschiedlichen Ausgrabetechniken und das wechselhafte Grabungsglück gerissen wurden. Die arme Katja aus Göteborg zum Beispiel hatte bisher nur Tierknochen erbeutet, die massenhaft vorhanden waren. Ihr Schacht schien nichts anderes zu enthalten, aber die Arbeit musste ja trotzdem getan werden. Und da saß sie nun, tagaus, tagein, schwitzte und fand nichts Interessantes. Martina hoffte, dass Katja bald ein anderer Schacht zugewiesen werden würde.
Der Ausgrabungskurs hatte mit zwei Wochen Theorie in den Räumlichkeiten der Hochschule in Visby angefangen, darauf folgten nun acht Wochen Ausgrabungen in Fröjel an der gotländischen Westküste. Da Martina sich sehr für die Wikingerzeit interessierte, hätte sie es gar nicht besser treffen können. Das ganze Gelände hier war wohl damals bewohnt gewesen. Hier waren bei den verschiedenen Grabungen Funde gemacht worden, die von der frühen Wikingerzeit im neunten Jahrhundert bis zum Ende der Epoche im zwölften Jahrhundert