KLEINER DRACHE. Norbert Stöbe
Читать онлайн книгу.ging durch die Menge der Zuschauer. Als der Kranwagen abfuhr und hinter der Platzabsperrung auf die Straße einbog, wurde gerufen. Viele Menschen weinten. Bewegung entstand, zeitgleich an mehreren Orten – erst ein Wogen auf der Stelle, dann bekam es Richtung und entwickelte Kraft. Während die fünfzehn knienden Mönche unverdrossen weitersangen, drängte die Menge gegen die Absperrung vor. Die Polizisten und Soldaten lösten die Tränengasmasken vom Gürtel und setzten sie auf. Schüsse fielen. Sirenenlärm näherte sich.
Der Einsatzleiter, ein dünner Mann in einer zu weiten Uniform, hatte einen Auftrag. Die Einsatzregeln waren eindeutig. Er hob das Com an den runden Gasmaskenfilter: »Die Situation gerät außer Kontrolle.«
Es roch nach Angst. Sie war in den fleckigen Betonwänden aufgespeichert, im dunkel gebeizten Schreibtisch und vor allem in dem Stuhl, auf dem er saß. Durch die harte Sitzfläche mit den schmerzhaften Wulsten am Rand sickerte sie in ihn ein und füllte ihn aus, bis er kaum mehr Luft bekam.
Vor ihm hatten schon viele hier gesessen wie er, hatten sich gefragt, weshalb sie hier waren und was sie erwartete. Er hatte sich doch nichts zuschulden kommen lassen. Er war ein alter Mann, an dem das Leben längst vorbeigezogen war. Er hatte sich abgefunden mit dem Tod seiner Frau und der Verpflanzung in die Glückliche Familie. Er hatte seinen Frieden gemacht mit der Welt – auch wenn ihn das nicht davon abhielt, sich Gedanken zu machen, denn wozu war der Kopf denn sonst da? Aber er behielt die Gedanken für sich, und das war das Entscheidende. Er redete nicht über Politik. Er tat niemandem etwas zuleide. Er war ein alter Mann, und er wusste nicht, weshalb man ihn zu dieser kleinen Nachbarschaftswache gebracht hatte. Er wusste nur, dass sie nicht für ihn zuständig war. Für das Viertel, in dem er wohnte, war die Wache in der Seepferdchenstraße zuständig. Das deutete vielleicht darauf hin, dass es sich um einen Irrtum handelte, dass man ihn mit jemand anderem verwechselt hatte. Dieser Gedanke machte ihm ein bisschen Hoffnung.
Hinter ihm ging die Tür auf, jemand trat ein. Die Tür wurde von außen geschlossen. Nach kurzem Innehalten trat ein Mann in einem dunklen Anzug um den Schreibtisch herum. Das Sakko spannte über seinem Bauch, sein rundes, pausbäckiges Gesicht schimmerte matt vor Gesundheit, unter seiner voluminösen AR-Brille funkelten kleine Äuglein hervor. Er legte einen kleinen Koffer auf den Schreibtisch und klappte ihn auf. An der Innenseite des Deckels befanden sich ein Display und mehrere Drehregler.
»Ich bin Chen Ren«, sagte er. »Und Sie nennt man Onkel Wu?«
Onkel Wu nickte.
»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen«, sagte der Mann im Anzug. Er fühlte sich sichtlich unwohl im Verhörraum. Er war eindeutig kein Polizist, sondern wirkte eher wie ein Verkäufer oder wie ein billiger Anwalt. Onkel Wu beobachtete voll Argwohn, wie Chen Ren etwas aus dem Koffer nahm, das einer großen, labbrigen Badehaube glich. An der einen Seite hatte sie mehrere spitz zulaufende Fortsätze, wie eine stachlige Frucht.
»Keine Sorge«, sagte Chen Ren, der Onkel Wus Blick bemerkt hatte. »Das dient nur der Überprüfung Ihrer Angaben. Es tut nicht weh, Sie werden kaum etwas davon bemerken.« Er trat neben Onkel Wu und setzte ihm die Haube auf, mit den Stacheln nach innen. Onkel Wu, der sich unwillkürlich gegen den erwarteten Schmerz gewappnet hatte, stellte zu seiner Erleichterung fest, dass die Stacheln weich waren. Es waren … wie hieß das Wort noch gleich … Noppen. Es war beruhigend, dass ihm das Wort eingefallen war. Er hatte doch nichts getan. Er war doch unschuldig.
»So, wir können«, sagte Chen Ren, nachdem er sich eine Weile an der Innenseite des Kofferdeckels zu schaffen gemacht hatte. »Antworten Sie kurz und wahrheitsgemäß, dann sind wir bald fertig. Sie hatten Besuch von einer jungen Dame?«
»Ja«, antwortete Onkel Wu. »Von Xialong.«
»Antworten Sie nur auf meine Fragen«, sagte der Mann. »Was wollte die junge Dame von Ihnen?«
»Sie … sie wollte bei mir übernachten.«
»Weshalb wollte Sie bei Ihnen übernachten?«
»Weil … also, das habe ich nicht ganz verstanden. Sie hat gemeint, man habe sie nicht ins Geschäft gelassen.«
»Hat sie gesagt, weshalb man sie nicht eingelassen hat?«
»Ja … das heißt nein … oder vielmehr habe ich auch das nicht verstanden. Sie war durcheinander.«
»Durcheinander«, wiederholte Chen Ren. »Und am nächsten Tag?«
»Ist sie weggegangen.«
»Wohin?«
»Das … das weiß ich nicht.« Jetzt spürte er die Noppen. Sie waren immer noch weich und abgerundet, aber sie drückten gegen seinen Schädel, und das war unangenehm.
»Sagen Sie die Wahrheit.«
»Ich … ich weiß nicht, wohin sie gegangen ist.« Der Druck gegen die Schädeldecke steigerte sich jäh. Die Noppen waren auf einmal hart und spitz und bohrten sich in Haut und Knochen. Er schrie unterdrückt.
»Wohin ist sie gegangen?«, fragte Chen Ren, ohne die Stimme zu heben.
»Zu Kung«, plapperte Onkel Wu. »Das ist der junge Mann, der mir den Fernseher eingerichtet hat. Er ist immer so freundlich, ein netter Bursche, höflich und hilfsbereit. Er hilft mir, wenn etwas nicht funktioniert, weil der Hausmeister nicht kommt, wenn man ihn braucht. Ich habe Xialong gesagt, Kung könnte ihr vielleicht helfen.« Mit jedem seiner Worte hatte der Druck auf seinen Schädel ein wenig mehr nachgelassen, bis er nur noch die weiche Anwesenheit der Noppen spürte.
»Die Adresse«, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch.
Onkel Wu nannte sie ihm.
»Danke«, sagte Chen Ren. »Sie waren mir eine große Hilfe.« Er erhob sich, kam um den Schreibtisch herum und nahm Onkel Wu die Haube ab. Es waren keine Blutstropfen an der Innenseite, nur die sauberen weichen Noppen. Er legte die Haube in den Koffer und klappte ihn zu.
»Bitte«, sagte Onkel Wu und wischte sich mit zitternder Hand den kalten Schweiß von der Stirn. »Wie … wie geht es jetzt weiter?«
»Vermutlich wird man Sie wegen staatsfeindlicher Propaganda anklagen, möglicherweise auch wegen Beihilfe zum Terrorismus. Aber das ist Sache des Staates. Was mich betrifft: Ich bin gar nicht hier. Ich war nie hier. Niemand hat mich gesehen – auch Sie nicht, Onkel Wu. Haben Sie das verstanden?«
Onkel Wu nickte benommen, dann ging der Mann hinaus.
Es war eine kleine und alte Wache, und die Zelle war noch kleiner und stammte anscheinend aus der Zeit der Kulturrevolution. Neben den zu einem fleckigen Braunton verblassten Parolen (Das Volk hat immer recht! Von Datschai lernen heißt siegen lernen!) waren verzweifelte Botschaften der früheren Insassen eingeritzt. Auf dem Metalltisch standen eine Wasserflasche und ein Pappbecher, auf der Pritsche lag eine zusammengefaltete braune Decke. Onkel Wu saß auf dem Stuhl, den Kopf an die Tür gelegt. Der Schließmechanismus der Türklappe war defekt, und durch die Öffnung konnte er auf den Flur und bis in den Bereitschaftsraum sehen, wo zwei Polizisten vor einer Videowand saßen. Es lief eine Magazinsendung des staatlichen Fernsehens. In einem hell ausgeleuchteten Labor wurde die Gebetsmühle vom Potala-Platz untersucht. Die rot verzierte lehmfarbene Walze hing an einem Haken von der Decke, den Leichnam des Kleinen Mönchs hatte man offenbar bereits weggebracht. An der Unterseite waren außen kleine Räder angebracht, weiter in der Mitte gab es ein kreisrundes Loch. Zwei Techniker in weißen Kitteln hoben eine Scheibe mit einem Zapfen vom Podest und zeigten auf das Loch. Dann zeigte die Kamera einen Elektromotor, der die Scheibe mit dem Zapfen über einen Keilriemen in Drehung versetzt hatte. Einer der Techniker sprach mit triumphierender Miene in die Kamera. Onkel Wu wandte sich ab, setzte sich auf die Pritsche und schlug die Hände um den Kopf.
War wirklich alles nur ein billiger Trick der Mönche gewesen? Hatten sich die Menschen verführen lassen und an einer Lüge gewärmt? Er wusste nicht, was er glauben sollte. Das Schauspiel auf dem Potala-Platz hatte ihn nach und nach in Beschlag genommen, mit jedem Tag ein bisschen mehr. Erst hatte er Anteil genommen, dann war er gebannt gewesen, bis er das Gefühl gehabt hatte, als