Die Kunst der Bestimmung. Christine Wunnicke

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Die Kunst der Bestimmung - Christine Wunnicke


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denn stets blieb ein wenig im Dunkeln, welchen Platz Gott der Herr fand in jenem Koordinatensystem und welchen die christliche Demut, und es hatte auch bisweilen den Anschein, als sei dem Autor die unsterbliche Seele abhandengekommen bei all seinen Vergleichen zwischen Pflanze, Tier und Mensch.

      «Das soll vorkommen», seufzte Dr. Grew.

      «Nun denn, die Seele ...», gähnte Mr. Aubrey.

      «Dafür gibt es die Kirche», meinte Dr. Croune, «teuer genug wird sie ja bezahlt.»

      Weder Moos noch Rationes waren der Grund, weshalb man im Gresham College über Dr. Chrysander beriet. Er klassifizierte, so Sir Christopher, wie ein Engel, und das Kabinett bedurfte in der Tat eines klassifizierenden Geistes. Die Sammlungen wurden größer von Woche zu Woche und hatten weder Ordnung noch Katalog. Ein Mann wie Chrysander, der ausfegte und aufräumte in den Reichen der Natur, und der seine Seele, wie Mr. Aubrey dies ausdrückte, schon vor Jahren dem Ordnungsteufel verkauft hatte unter Umgehung des ersten Buches Mose, schien vielen der richtige für diese Aufgabe.

      Man sang schon Spottverse über das liederliche Kabinett der Royal Society. Vor kurzem erst hatte Mr. Hooke wutschnaubend die Komödie verlassen, als der Hanswurst ein Lied anstimmte, das von dem Liebesspiel eines schiefen Professors, zweier brasilianischer Moorhennen und einer gewachsten Gallenblase erzählte, welche in ihrer Glut über faulige Föten und namenlose Nüsse stolperten; und solche Scherze waren zäh und fruchtbar wie Ratten.

      Ratten lebten auch im Kabinett. Man fand immer wieder geheimnisvolle Objekte im Treppenhaus, herausgenagt aus größeren Geheimnissen, verdreckt und verschleppt und verloren. Ein solches Überbleibsel schickte Mr. Aubrey eines Tages nach Uppsala, um zu prüfen, ob Dr. Chrysanders Gaben seinem Ruf entsprächen. Postwendend erhielt man die Antwort: Partikel eines Hodens eines Bären, benagt von einer Ratte. Man setzte das Examen fort. Klaglos folgte Bestimmung auf Bestimmung, Gewebe des menschlichen Dünndarms, Kralle einer Fledermaus, Meerwurmnest verbacken mit Teer, Rose von Jericho, Ziegenhorn mit Spuren von Feile und Leim. Sir Christopher Wren hatte nach dem letzten Brief eigenmächtig einen gehörnten Hasen aus Sachsen fortgeworfen und plädierte seitdem dafür, Dr. Chrysander einzuladen, um in der Frist eines halben Jahres dem Kabinett mit seinem Wissen und seiner kurz angebundenen Gefälligkeit zu einem Glanz zu verhelfen, welchen es, so Sir Christopher, wahrscheinlich verdiente, aber ohne Kurator wohl nicht bekommen würde bis zum Jüngsten Tag.

      «In den Augen der Welt», sagte Sir Christopher sanft, «erscheinen die Wangen der Royal Society ein wenig blass in diesen Tagen.»

      «Und Dr. Chrysander», fragte Mr. Colwall, «wäre nun das Schminköl, um dem beizukommen?»

      «Ein Öltuch gegen den Regen der Verleumdung?», schlug Dr. Croune vor.

      «Pariser Öl gegen Altersfalten?», bot Mr. Aubrey an.

      «Die letzte Ölung, gegebenenfalls», murmelte Mr. Hooke.

      «Zumindest ein wenig Rosenöl wäre durchaus vonnöten im Kabinett», meinte Mr. Aubrey, «seit Mr. Hooke das Terpentinöl ausgegangen ist. Allerdings bewies auch Herkules seine Stärke zunächst in einem Misthaufen.»

      «Mit einem Ölbaum als Keule», setzte Dr. Crew hinzu.

      «Terpentin?», fauchte Mr. Hooke. «Ich präpariere in Wachs, Sir, und ich präpariere, wann ich will!»

      So sprachen die Herren und so schrieb Josiah Blane, und eine unsichtbare Sonne wanderte draußen über den Himmel. Zwei Stunden später warf Sir Christopher sein nussbraunes Haar über die linke Schulter zurück. Dies war das Signal für Josiah, ein Ergebnis zu notieren. Wie so oft, hatte er dessen Geburt nicht zu folgen vermocht. Schwer schlugen Sir Christophers Locken gegen seinen samtenen Rücken, das teuerste Haar der Gesellschaft. Josiah schnitt die Feder nach. Der Vorsitzende diktierte: Die anwesenden Mitglieder beschlössen, dem Konzil zu empfehlen, Dr. Simon Chrysander für das Gehalt eines Ordinarius nach London zu bitten, um die Objekte der Sammlungen im Gresham College zu sichten, zu bestimmen, zu beschriften, zu vergleichen, einzuteilen, zurechtzumachen und übersichtlich aufzustellen, wie dies ihrer Form, Art, Natur und Bedeutung entspreche. Die Empfehlung sei einstimmig, diktierte Sir Christopher. Mr. Hooke zog dazu ein Gesicht, das Josiah nicht hätte zu Protokoll nehmen mögen. Sir Christopher machte sein Kompliment und beendete die Sitzung.

      Die Herren brachen auf, um in Garraways Kaffeehaus hinter der Börse den Abend zu beschließen. Nur Mr. Aubrey machte sich davon zu einem Lokal mit allen Lizenzen. Er zwinkerte Josiah zu, als er am Stenographenpult vorüberkam, schnitt sogar eine Grimasse; ein Scherz, ähnlich jenem, mit dem ein Hagestolz einen Säugling neckt.

      Josiah Blane stand auf und verharrte verbeugt, bis er alleine war. Dann bündelte er seine Niederschriften. Nun würde er also kommen, Dr. Chrysander aus Uppsala, dessen Liebe der Ordnung galt, den Rationes und einem dürftigen Moos aus Lappland. Bald wäre er hier und Josiah könnte ihn zeichnen. Würde Dr. Chrysander London gefallen? Josiah bezweifelte das. Auf dem Tisch stand der Kübel mit dem Aal. Er zuckte in seinem kleinen Gefängnis, fast hob er den Deckel. Josiah schloss leise sein Tintenfass. Er lauschte. Ein Aal, der pocht, bedeckt mit Schleim. Josiah kratzte eine Weile seinen Nacken, dann nahm er den Kübel und brachte ihn in die Küche. Später aß er den Aal zu Abend.

      II

      IM NOVEMBER 1678 bezog Simon Chrysander sein Quartier in London. Robert Hooke, der Sekretär der Royal Society, hatte in dem Haus, das die Throgmorton Street mit der Broad Street verband, das erste Stockwerk für ihn herrichten und möblieren lassen, das er nun, wenn alles nach Wunsch verlief, zusammen mit seinem Diener Kauppi und einer Köchin namens Peg, die ihm ebenfalls Mr. Hooke überlassen hatte, ein halbes Jahr lang bewohnen würde. Wenn Dr. Chrysander aus dem Fenster blickte, sah er zur Linken die Kirche St. Peter Le Poor, zur Rechten die Steuerbehörde, und dahinter, tief im Nebel, die Schornsteine des Gresham College.

      Chrysander war ein grobknochiger Mann in den Dreißigern, von mittlerer Statur, kantigen Zügen und einem dunklen, fast südländischen Teint. Seine Augen standen ein wenig eng, die Brauen berührten sich und der Bartschatten widerstand jeder Rasur. Das Haar, schwarz mit dem ersten Grau, trug er nackenlang; Kauppi schnitt es unter einem Topf. Schwarze Haare wuchsen auch auf Chrysanders Händen und bildeten um die Knöchel kleine Wirbel. Seine Finger waren kurz und gedrungen, zwei Nägel der Rechten dafür lang, einer flach gefeilt, der andere spitz, Werkzeuge für unterwegs. In Uppsala hatten ihn manche für einen Bauern gehalten, zumal er sich oft nicht sorgfältig kleidete; die Engländer verwechselten ihn mit einem Priester oder Schlimmerem. Erst hatte er jedermanns «Hochwürden» korrigieren müssen, später sah er verwundert, wie ihn fremde Passanten mit der Geste für Galgenstrick begrüßten oder sogar Kot nach ihm warfen. Erst allmählich begriff er, dass hier ein schwarzer Rock und kurzes Haar Bekenntnisse waren, für allzu viel Frömmigkeit und gegen den Hof mitsamt der französischen Mode. Chrysander wusste, warum er in England publizierte. Dass Gottesfurcht mit Kotwerfen geahndet wurde, befremdete ihn allerdings doch.

      Vor drei Tagen war er in London eingetroffen. Übermorgen würde er die Royal Society besuchen. Eine außerordentliche Sitzung war anberaumt, um den Kurator des Kabinetts zu begrüßen. Chrysander würde sprechen müssen. Darauf freute er sich nicht. Er freute sich allerdings auf Mr. Hookes Fossilien und auf die Farne und Pilze aus Übersee.

      Kauppi rückte mit finsterer Miene das Mobiliar. Wahrscheinlich versuchte er, Chrysanders Wohnung in Uppsala nachzustellen, denn Kauppi fühlte sich in London nicht wohl. Er war ein Lappe von ungefähr sechzehn Jahren, kurz und rundlich, mit flachem Gesicht, der nur selten sprach und nie fragte; Chrysander schätzte dies sehr. Vor fünf Jahren hatte er Kauppi gefunden, ein herrenloses Kind auf einem Hügel bei Jukkasjärvi, den der Professor erklomm auf der Suche nach den Geheimnissen der nordischen Fauna und Flora. Er hatte das Kind zur Seite geschoben, was es sich leise fauchend gefallen ließ, und unter ihm jenes Moos entdeckt, das er später Chrysandria taufte. Beide hatte er nach Süden gebracht und behalten, den lappischen Knaben und das lappische Moos, und während der Erste soeben einen englischen Teetisch aus seinem Blickfeld zu entfernen suchte, lebte das Zweite, flach hingeduckt auf einen Granitstein, unter einem Glassturz in Chrysanders Arbeitszimmer und zeigte sich keineswegs beeindruckt


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