John Lennon. Nicola Bardola
Читать онлайн книгу.schwankt der grüblerische Songwriter mit außerordentlich starken Ausschlägen nach oben und unten, die er für seine Kreativität nutzt, indem er sie thematisiert, indem er sie in Musik gießt.
Und es ist mein Kopf, mein Geist, mein Denken. Und es gibt keine Zeit, in der ich alleine bin, klagt er in »There’s A Place«.
Der Kontrast: »Twist And Shout«.
C’mon, c’mon, c’mon, c’mon and twist a little closer!
Nähe und Ferne im raschen Wechsel.
And let me know you’re mine! Wuuuu!
Kopfschütteln.
Shake it up baby!
Kopfschütteln.
Kopfschütteln als Aufforderung.
Kopfschütteln als Bekräftigung.
Kopfschütteln im Takt mit Ringos Drums.
Kopfschütteln als Zeichen der Ekstase.
Gemeinsames Kopfschütteln als Zeichen der Zugehörigkeit zu etwas Größerem.
Kopfschütteln und wehende Haare.
Kopfschütteln auf der Bühne und im Publikum.
Kopfschüttelnde Männer und Frauen.
Gleichzeitiges Kopfschütteln und Kreischen als Gemeinschaftserlebnis.
John Lennon beginnt schon bei »Twist And Shout« und den »Please Please Me«-Live-Auftritten den Kopf zu schütteln und sein markantes Schreien verschmilzt mit massentauglicher Popmusik. Der Song steigt selbst Jahrzehnte später immer wieder in die Hitparaden, beispielsweise 1986 aufgrund des Kinofilms »Ferris Bueller’s Day Off« von John Hughes mit Matthew Broderick in der Hauptrolle, worin »Twist And Shout« den Höhepunkt darstellt: Die Melodie führt zu einem gewaltigen kollektiven Rausch in Chicagos Straßen; zudem wird in dieser Performance dem Kopfschütteln noch das passende Stampfen zugefügt. Lennons Stimmgewalt aber, 1962 auf Vinyl gebannt, von ihm selbst später selbstkritisch als überspannt beschrieben, prägt sich in das universelle musikalische Gedächtnis – sein Timbre ist unverwechselbar.
Mit seinem Gesang verschafft sich der 22-jährige Liverpooler nicht nur beim Publikum Respekt, sondern vor allem auch bei den Kollegen und insbesondere bei seinen Idolen von Chuck Berry über Elvis Presley und Jerry Lee Lewis bis Gene Vincent. Ab jetzt ist alles möglich – auch gemeinsame Auftritte und gegenseitige Anerkennung. Mit diesem Polster an Selbstvertrauen, mit dem danach stetig wachsenden Erfolg, mit der zunehmenden Bestätigung von außen und dem Auslaufen sämtlicher vertraglicher Verpflichtungen, Schallplatten zu produzieren, kann Lennon 13 Jahre später dem Showbusiness adieu sagen, um bei seinem zweiten Sohn Sean seine Pflichten als Vater auf eine intensive und seiner Zeit weit vorauseilenden Weise wahrzunehmen; Vaterpflichten, die er bei seinem ersten Sohn Julian vernachlässigen muss, weil das allgemeine Lob, die steigenden Plattenumsätze und die damit verbundene steile Karriere der Beatles und der hohe Erwartungsdruck eines weltweiten Publikums kaum Zeit für ein Privatleben lassen.
Schon die Kritiken zur Single »Please Please Me« sind durchweg positiv: »Eine wirklich erfreuliche Platte voller Kraft und Vitalität«, schreibt der »New Musical Express«. »Twist And Shout« ist die emotionale Steigerung. 1963 touren die Beatles als »supporting act« mit Roy Orbison durch England. Der amerikanische Brillenfetischist gibt den englischen Jungs wertvolle Tipps, wie sie mit ihrer Musik in den USA erfolgreich sein könnten. Brian Epstein und die Beatles halten sich daran und bleiben ihrem Mentor verbunden. 1980 nennt Lennon »Starting Over« einen »Elvis Orbison« und 1988 formt George Harrison mit Bob Dylan, Tom Petty und Jeff Lynne eine Supergroup rund um Roy Orbison: die Traveling Wilburys.
Die »Please Please Me«-Magie wirkt auch noch im 21. Jahrhundert. Es klingt nur seltsam, wenn Paul McCartney das Lied auf seinen Konzerten zunehmend live spielt. Seine Stimme passt nicht zu den Versen: I know you never even try, girl. You don’t need me to show the way, love. Why do I always have to say »love«? Das sind John Lennons Worte, und sie zeigen sein Dilemma.
Warum muss ich immer »Liebe« sagen?
Mutterliebe.
Vaterliebe.
Tantenliebe.
Onkelliebe.
Frauenliebe.
Männerliebe.
Blinde Liebe.
Verlorene Liebe.
Verborgene Liebe.
Alles, was du brauchst, ist Liebe.
Die Antwort ist Liebe.
Das Wort ist Liebe.
Liebe. Liebe. Liebe.
Vielleicht, weil die Sehnsucht nach Liebe stärker ist als alles andere. Sie überdauert Gewalt und Kriege und findet in Lennons Ausprägung immer wieder Eingang in das künstlerische Werk seiner Verehrer bis in die Gegenwart. Der amerikanische Singer-Songwriter Jackson Browne covert 2007 »Oh My Love« von der »Imagine«-Platte und würdigt auf seinem Album »Time The Conqueror« 2008 John Lennon als Vorbild: »If we could just believe in one another as much as we believed in John.«
Browne ist am selben Tag wie sein Idol, am 9. Oktober, in Heidelberg geboren, acht Jahre nach John und 27 Jahre vor Sean Lennon (was Astrologen zu ausführlichen Vergleichen zwischen den Dreien animiert). Jackson Browne hat bei John Lennon gelernt und engagiert sich wie dieser unermüdlich gegen Krieg und für die Umwelt. Ende der 1970er Jahre ist Browne Mitinitiator der Initiative »MUSE« (Musicians United For Safe Energy) und tritt bei den »No Nukes«-Konzerten auf. Sein Einsatz geht so weit, dass er während eines nicht genehmigten Auftritts festgenommen und kurzfristig inhaftiert wird. 2010 engagiert er sich unter anderem mit Quincy Jones für den »John Lennon Educational Tour Bus«. Im selben Jahr nimmt er anlässlich des »30th Annual John Lennon Tribute« im Beacon Theatre in New York Lennons Song »You’ve Got To Hide Your Love Away« auf. Bei Präsidentschaftswahlen setzt er sich für die Demokraten ein, tritt auf Benefizveranstaltungen auf und unterstützt Charity-Aktionen.
Wie Lennons musikalisches Werk pendelt auch Brownes Arbeit zwischen Liebe und Politik, zwischen Privatleben und öffentlichem Protest. Dabei scheut er selbst juristische Auseinandersetzungen mit Regierungskreisen nicht. Als der republikanische Präsidentschaftskandidat John McCain 2008 seinen Song »Running On Empty« als Eigenwerbung in seiner Wahlkampagne einsetzt, prozessiert er dagegen mit Erfolg.
Die Zeitschrift »Rolling Stone« interviewt im Jahr 2008 im Rahmen einer Umfrage Experten und erstellt daraufhin eine Liste der »100 besten Sängerinnen und Sänger aller Zeiten«. John Lennon nimmt hinter Aretha Franklin, Ray Charles, Elvis Presley und Sam Cooke Platz fünf ein – vor Marvin Gaye, Bob Dylan, Otis Redding, Stevie Wonder, James Brown, Paul, Little Richard, Roy Orbison, Al Green, Robert Plant, Mick Jagger, Tina Turner, Freddie Mercury, Bob Marley, Smokey Robinson, Johnny Cash, Etta James, David Bowie, Van Morrison, Michael Jackson in dieser Reihenfolge und 75 weiteren Stars. Die Laudationes verfassen aktuelle Künstler von Rang und Namen, für John Lennon ist es Jackson Browne. Er betont die Vertrautheit, Innigkeit, Intimität, verbunden mit einem herausragenden Intellekt, die Lennons gesamtes Werk kennzeichnen, das mache ihn zu einem so großen Sänger. Und Browne erinnert sich an das erste Mal, als er 1966 »Girl« hört, an die hohe und stählern klingende Stimme – Is there anybody going to listen to my story …? –, an das Gefühl, jemand trete aus dem Schatten in den Raum zu den Hörern. Aber dann spricht Lennon nicht etwa zum Publikum, sondern direkt zum Mädchen.
Als Teenager ist Jackson Browne wie vom Donner gerührt, John Lennons Musik verkörpert, was der Jugendliche fühlt. Aggression, Liebe, Hass bis hin zum Hilferuf »Help!«, oder gar das Eingeständnis eigener Schüchternheit, eigener Unsicherheit. Das ist es, was Jackson am meisten an John bewundert und in seiner Würdigung schildert. Aber auch auf das Politisch-Soziale geht er ein: Durch den Erfolg erhält der Musiker aus einer der ärmeren Gegenden Großbritanniens zwar Zugang zu hohen gesellschaftlichen Schichten, aber er bleibt seinen Wurzeln treu, ist stolz auf seine Herkunft, verschleiert nicht die Geschichte seiner Kindheit in Liverpool. Er hat den Mut, sich nicht anzupassen. Die Kraft seines Gesangs gründe in Lennons Nähe zu sich selbst, so Browne.