Das Wagnis, ein Einzelner zu sein. Michael Heymel
Читать онлайн книгу.den bei deutschen Theologen üblichen Lesegewohnheiten, Kierkegaard als einen Schriftsteller zu lesen, dem es sowohl in seinen erbaulichen Reden wie auch in seinen pseudonymen |44| philosophischen Schriften um Probleme der christlichen Verkündigung und ihrer individuellen Aneignung unter Bedingungen der Moderne geht. Aber in der Kierkegaard-Rezeption gab es schon früh Ansätze dazu.
Einen Vertreter dieser Lesart, der in Deutschland wenig bekannt ist, will ich zum Schluss mit einem Zitat vorstellen: »Obwohl seine Schriften oft glänzend poetisch und oft tief philosophisch sind, war Kierkegaard weder ein Poet noch ein Philosoph, sondern ein Prediger, ein Ausleger und Verteidiger christlicher Lehre und christlicher Lebensführung.« So charakterisiert der englische Schriftsteller Wystan Hugh Auden (1907–1973) Kierkegaard. Wie viele polemische Autoren habe Kierkegaard das Schicksal erlitten, auf die falsche Weise oder von den falschen Leuten gelesen zu werden. Man müsse ihn, so meint Auden, als Prediger für Gläubige lesen. Die Aufgabe eines christlichen Predigers sei es, »erstens die christlichen Gebote zu bestätigen und das Bewusstsein der Sünde zu wecken und zweitens die Beziehung des Einzelnen zu Christus wirklich, d. h. heutig oder gleichzeitig zu machen«.61 Genau das hat Kierkegaard mit Leidenschaft getan.
Michael Heymel
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Teil B
1 Der Streit des Gebets (1844)
A »Der rechte Beter streitet im Gebet und siegt – dadurch, daß Gott siegt«62
Mein Leser, hast Du nie mit einem Menschen gesprochen, der an Weisheit weit überlegen Dir doch wohlwollend war, ja mehr oder doch besser (und also mehr) um dein Wohl bekümmerter als du selber; hast du das nicht, nun so bedenke wohl, was dir oder mir begegnen könnte, wie ich es nun darstellen will.
[Streit mit einem Weisen – ein Gleichnis]
Sieh, am Anfang waren wir ganz uneinig; was der Weise sagte, kam mir wie eine sonderbare Rede vor; doch hatte ich das Vertrauen zu ihm, daß er seine Überlegenheit nicht missbrauchen würde, sondern sich überzeugen lasse und selbst mir zur Beseitigung des Missverständnisses behilflich wäre. So sprachen wir da miteinander und wechselten manches Wort im Streit der Rede. Der Weise muß die Übersicht vermutlich sich bewahrt haben, denn er blieb ruhig, während ich, ohne recht zu merken, wie und ohne mich darüber zu schämen, dabei fast heftig wurde, weil es mir so wichtig war, daß der Weise meine Ansicht teilen sollte, daß ich sie ohne die Einigkeit mit ihm nicht hätte festhalten dürfen – wohl aber ihn angreifen, um ihn zur Einigkeit zu bewegen. Und musste mich dies nicht auch heftig machen, denn das war ja ein Selbstwiderspruch, auf tückische Art durch meine Tüchtigkeit (als sei ich der Stärkere) den Weisen für meine Meinung gewinnen zu wollen, und dann erst recht wieder von der Richtigkeit der Meinung überzeugt zu sein im Vertrauen darauf, daß es die Meinung des Weisen sei, da er ja der Stärkere war; denn dies Vertrauen hatte ich doch beständig zu ihm, und die Einigkeit mit ihm war für mich das Entscheidende. Endlich, nachdem ich lange gleichsam unstet im Gespräch geschwankt, und öfter versucht und gelitten hatte, stand plötzlich so deutlich vor mir, was ich sagen wollte, daß ich in aller Kürze und im Besitz einer unerklärlichen Stärke meine Meinung kundtat, sicher darin, daß ich ihn überzeugen müsse. Und sieh, der Weise gab mir |46| recht und gab mir seine Zustimmung. Aber da er doch wohlwollend gegen mich war, und glaubte, ich könne die Erklärung ertragen, da drohte er mit dem Finger und sagte: was du nun meinst, ist ja gerade das, was ich zu Anfang sagte, da du mich nicht verstehen konntest und wolltest. Wohl erwachte nun die Beschämung in meiner Seele, so daß ich mich über mein früheres Benehmen schämte, aber sie raubte mir doch nicht den Freimut, mich über die verstandene Wahrheit zu freuen, wenn ich auch weit entfernt war, den Weisen überwunden zu haben, da ich nur selbst durch den Streit überzeugt und gestärkt worden war. Wie erstaunlich! Aber es war doch ein Glück, daß ich nicht einen anderen Weg einschlug, nicht hitzig wurde, den Streit nicht abbrach, nicht den Weisen beschimpfte, als sei er mein Feind, weil er mir nicht nachgeben wollte, in hohen Tönen über seine Eigenliebe schrie, weil er mir nicht recht geben, sondern dagegen mich besser lieben wollte, als ich selbst verstand. Und die Beschämung befreite mich davon, was ich vielleicht sonst getan, wenn ich den Streit abgebrochen und später selbst das Wahre eingesehen hätte, daß ich weiter den Weisen als meinen Feind betrachtete, ungeachtet dessen, was er gerade gesagt hatte; daß ich sogar ihn hätte kränken wollen durch den trotzigen Hinweis, ich hätte die Wahrheit ohne ihn verstanden, und ihm zum Trotze, obgleich er mir grade helfen wollte, durch mich selbst das Wahre zu sehen, und obwohl er als einziger mich daran hätte hindern können, indem er Ja sagte und dadurch von meinen Kränkungen sich freigekauft und meine Dankbarkeit sich erkauft hätte.
So mit dem Streitenden, wenn er nicht die Innerlichkeit aufgibt, welche die Bedingung dafür ist, daß man wirklich sagen könne, er streite im Gebet. Sage nicht, mein Leser, das sei eine fromme Einbildung, berufe dich nicht auf die Erfahrung, es gehe so im Leben nicht zu; denn das ist ja gleichgültig, wenn es doch so zugehen kann, und du nötigst mich nur, dir recht zu geben, zu sagen, es gehe im Leben wohl anders zu, weil es nämlich so zugeht, daß die Menschen lau und kalt und gleichgültig werden, so daß sie weder das erste noch das letzte spüren, und vergessen, so daß sie nicht mehr daran denken, wie es am Anfang war, wenn sie an den Schluß gekommen sind, und tückisch und launisch und frech sind, so daß sie Gott anklagen, daß er ihnen nicht helfe, und Gott trotzen, daß sie sich selber helfen könnten, wobei das erste eine ewige Lüge ist und das letzte, wenn überhaupt, Wahrheit darin stecken soll, der Mensch allein von Gott gelernt haben kann.
[Sich innerlich in Gott hineinarbeiten]
Wer aber die Innerlichkeit nicht aufgibt, durch seinen Streit sich nicht aus dem Gottesverhältnis hinausstreitet, sondern sich in Gott hineinarbeitet, dem geht es so, wie es erklärt wurde, indem die Gottinnigkeit des Gebetes zu einer Hauptsache wird und nicht ein Mittel zur Erreichung einer Absicht. Oder sollte es so wesentlich zum Gebet gehören, daß man um etwas betet, so daß das Gebet desto innerlicher wird, je mehr man zu erbitten habe, oder doch je weitschweifender man in Worten sei; sollte der |47| nicht ein Beter, ja, der rechte Beter sein, der sagte: Herr, mein Gott, ich habe eigentlich gar nichts dich zu bitten; würdest du auch die Erfüllung aller Wünsche mir geloben, ich könnte doch eigentlich gar keinen anführen, nur daß ich bei dir bleiben darf, so nahe wie es in dieser Zeit der Trennung möglich ist, in der du lebst und ich, und ganz bei dir in alle Ewigkeit? Und so weit der Beter seinen Blick zum Himmel wendet, sollte der dann der Beter sein, oder der rechte Beter, dessen unruhige Augen beständig Trost für die einzelne Sorge, einige Erfüllung für den einzelnen Wunsch holten; und nicht eher der, dessen ruhige Augen nur Gott suchten? Dazu muß es auch kommen, wenn die Innerlichkeit nicht aufgegeben, sondern unverändert bewahrt und als ein heiliges Feuer im Menschen bewacht wird; denn der Wunsch, die irdische Begierde, der weltliche Kummer ist das Zeitliche, stirbt gewöhnlich vor dem Menschen, auch wenn er das Ewige nicht ergreift, wie sollte er da das Ewige aushalten können! Da verliert der Wunsch mehr und mehr an Glut, zuletzt ist seine Zeit vorbei, da stirbt der Wurm der Begierde nach und nach, und die Begierde stirbt aus, da schlummert die Wachheit des Kummers nach und nach ein, um nie wieder zu erwachen, aber die Zeit der Innerlichkeit ist nie vorbei.
Wer hat nun gesiegt? Das hat Gott, dem der Beter durch seine Gebete die Erfüllung nicht abnötigen konnte. Aber der Beter hat ja auch gesiegt. Oder heißt das siegen, daß man recht bekommt, wenn man unrecht hat, daß man die Erfüllung eines irdischen Wunsches erhält als sei dies das höchste, einen Beweis dafür, daß man zu Gott gebetet und recht gebetet habe, einen Beweis dafür, daß Gott Liebe war, und der Betende im Einverständnis mit ihm, daß der Beter vielmehr für sein ganzes Leben dem zu Dank verpflichtet war, den er durch sein Gebet und durch seinen Dank selber zu einem Abgott machte.
[Wer wurde durch das Gebet verändert: Gott, der Beter oder beide?]
Welches ist nun der Sieg, worin unterscheidet sich der Zustand der Sieger von dem der Streiter? Wurde Gott verändert? Eine bejahende Antwort scheint eine schwierige Rede, und doch ist es so, er wurde verändert; denn nun hat sich gerade gezeigt, daß Gott unveränderlich ist. Doch ist jene Unveränderlichkeit nicht jene eisige Gleichgültigkeit, jene tödliche Erhabenheit, jene zweideutige Ferne, die der verhärtete Verstand anpries, nein, im Gegenteil,