Das Wagnis, ein Einzelner zu sein. Michael Heymel

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Das Wagnis, ein Einzelner zu sein - Michael Heymel


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sage ich: Freuet euch‹. Nicht eine Freude über dies oder jenes, sondern der Seele vollgültiger Ausruf ›mit Zung und Mund und aus Herzens Grund‹: ›ich freue mich an meiner Freude, aus, in, bei, an, durch und mit meiner Freude‹ – ein himmlischer Kehrreim, der gleichsam plötzlich unseren übrigen Gesang abschneidet; eine Freude, die gleich einem Windhauch kühlt und erfrischt, ein Stoß des Passats, der vom Hain Mamre zu den ewigen Hütten weht«.21

      Die sich überschlagende Sprache zeigt an, dass es um das überwältigende Widerfahrnis einer »unbeschreiblichen Freude« geht, für die Kierkegaard kaum noch Worte findet, so dass er Anleihen bei Paulus in Phil 4,4 und Gen 18,1 machen muss, das Gleichnis eines Windhauches bzw. einen »Stoß des Passats« bemüht, um anzudeuten, dass er vom Heiligen Geist als einem Geist der Freude erfüllt worden ist. Das bringt ihn kurz darauf zu dem Entschluss: »Ich will mir Mühe geben, in ein weit innerlicheres Verhältnis zum Christentum zu kommen«.22 Bisher sei er eigentlich nur ein Simon von Kyrene im äußerlichen Kreuztragen Christi gewesen. Nun aber komme es ihm auf innerliche Nachfolge Jesu an.

      Was also von innen her schon vorbereitet ist, wurde durch den Tod des Vaters zu einem festen Vorsatz, mit den ihm geschenkten väterlichen Gaben der Dialektik, der Rhetorik und der Einbildungskraft für ein »Christentum mit Leidenschaft« zu arbeiten. Umgehend begann er seine Examensvorbereitung, um die Theologische Staatsprüfung abzulegen und in ein Pfarramt einzutreten. Als Viertbester bestand er zwei Jahre darauf die Prüfung und begann |26| eine Magisterarbeit »Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates«, die er am 29.9.1841 vor der Universität erfolgreich verteidigte.

      Kurz nach seiner Theologischen Staatsprüfung verlobte er sich mit der zehn Jahre jüngeren Regine Olsen, in die er sich seit drei Jahren mehr und mehr verliebt hatte. Es schien so, als ob nun bei Kierkegaard alles in geordnete Bahnen auf dem Weg zu einem Pfarramt kam. Auch die zukünftige Pfarrfrau schien gefunden. Doch es schien nur so, während in Wirklichkeit in dem Verlobten ein Konflikt ausbrach, der seine Anlage zur Schwermut erneut weckte und ihn in tiefe Ratlosigkeit stürzte: Einerseits sah er sich durch seine grenzenlose Liebe zu Regine und durch seine Vorstellung von einer radikalen Offenheit gegenüber seiner zukünftigen Ehefrau verpflichtet, ihr sein Inneres und seine ganze Familiengeschichte zu offenbaren; andererseits fühlte er sich außerstande, ihr den Fluch und die daraus resultierende Schwermut zu gestehen, von der er glaubte, dass sie über seinem Vater, über ihm selbst und der ganzen Familie liege. Diese Geliebte zu heiraten, das hieß für ihn, sie in den Abgrund einer verfluchten Familiengeschichte und einer Schwermut hineinzuziehen, von der Kierkegaard später in sein Tagebuch schreibt, dass sie gleichsam seine Schwester geworden sei. Entweder heiratet er Regine und macht sich schuldig an ihr, oder er heiratet sie nicht und macht sich schuldig an ihr, weil Verlobung in seinen Augen, aber auch vor den Augen der Gesellschaft Kopenhagens im 19. Jahrhundert, eine unbedingte Verpflichtung zur Heirat war. Regine spürte, dass mit ihrem Verlobten irgendetwas vor sich ging, was sie nicht einordnen konnte. Doch je mehr sie ihn mit Liebeserweisen überhäufte, desto ablehnender wurde er und gab ihr schließlich am 11.10.1841 den Verlobungsring zurück. Unter unsäglichen Schmerzen musste Kierkegaard lernen, dass ein Mensch entweder so oder so schuldig werden kann und dann unweigerlich mit Schuld leben muss. Das war sein Konflikt, den er nun, kaum dass er vierzehn Tage nach der Entlobung gen Berlin abgereist war, als einen grundsätzlichen Existenzkonflikt des Menschen wieder und wieder in seinen pseudonymen Schriften, in seinen erbaulichen Reden und natürlich auch in seinen Tagebüchern psychologisch, philosophisch und vor allem theologisch reflektierte.

      |27| Ich breche an dieser Stelle mit meinen Annäherungen an Kierkegaards Leben ab, denn es ist erst einmal genug, um den biografischen Hintergrund eines Großteils seines Werks zu verstehen. Anderes folgt, wenn eine Reihe seiner erbaulichen Reden zumindest in Ausschnitten gelesen, mit Glauben und Denken Kierkegaards zusammengebracht und auf ihre möglichen Bezüge zur Gegenwart befragt worden sind.

      Christian Möller

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      Sören Kierkegaard hat in wenigen Jahren ein umfangreiches literarisches Werk geschaffen. Die dritte Auflage seiner Samlede Vaerker, der dänischen Ausgabe der Gesammelten Werke, umfasst 20 Bände (Kopenhagen 1962–1964), die Papirer, die Tagebücher, liegen in 16 Bänden vor (2. Aufl. Kopenhagen 1968–1978). Die einzige bisher vorliegende deutsche Gesamtausgabe der Werke Kierkegaards in der Übersetzung von Emanuel Hirsch und seinem Schüler Hayo Gerdes (Düsseldorf-Köln 1950–1969) zählt 24 Bände, zu denen noch 5 Bände mit einer Auswahl aus den Tagebüchern (Düsseldorf-Köln 1962–1974) hinzukommen.

      |30| Die neue dänische Gesamtausgabe (Skrifter), die seit 1994 in Kopenhagen von verschiedenen Forschern herausgegeben wird, ist auf 55 Bände veranschlagt. Auf dieser historisch-kritischen Ausgabe beruht die Deutsche Sören Kierkegaard Edition (DSKE), die in Berlin seit 2005 im Erscheinen begriffen ist. Wer Kierkegaard im dänischen Originaltext lesen kann, findet auch eine online-Version seiner Werke (unter sks.dk).

      Von den deutschen Übersetzungen ist diejenige von Emanuel Hirsch und seinem Schüler Hayo Gerdes leider nur mit Vorbehalt benutzbar, weil vor allem Hirsch dazu neigt, Kierkegaards wohlklingendes Dänisch in ein altertümliches und zuweilen umständliches Deutsch zu übertragen. In seiner Manie, Fremdwörter zu vermeiden, hat er immer wieder zu seltsamen Wortbildungen gegriffen (wie z. B. »Fragmal« für »Problem« oder »sintemal« für »weil« oder »da«).23 Deshalb ziehen wir in diesem Buch, wo immer das möglich ist, andere Übersetzungen heran.

      Wer Kierkegaard kennenlernen will, muss sich zunächst einen Überblick verschaffen, was zu seinem Gesamtwerk gehört. Dabei wird eine innere Gliederung, eine in rascher Folge entfaltete Konzeption und Komposition erkennbar. Je nachdem, welches Werk wir als Ausgangspunkt wählen und wie wir das Verhältnis zwischen den Teilen und dem Ganzen bestimmen, wird die Perspektive sein, aus der wir an Kierkegaards Texte herangehen. Insofern hängt es vom Zugang des Lesers ab, welcher geisteswissenschaftlichen Disziplin man diesen Autor zuordnet. Und diese Zuordnung beeinflusst wiederum die Art und Weise, wie Kierkegaard gelesen und rezipiert wird.

      Nun mag der Eindruck entstanden sein, als ob wir ohne Vorbedingung wählen könnten, wie wir uns Kierkegaards Werk nähern. Das ist jedoch nicht der Fall, weil wir nicht die Ersten sind, die seine Texte lesen. Unser Zugang zu ihnen erfolgt auf dem Hintergrund einer verzweigten Rezeptionsgeschichte, in der sich im Wesentlichen zwei Ansätze der Interpretation |31| herausgebildet haben. Beide wirken bei der Lektüre gewissermaßen wie Lesebrillen, und je nachdem, welche Brille wir aufsetzen, werden wir Kierkegaard in einem bestimmten Licht sehen und ihn als Autor so oder so auffassen. Deshalb kann die Übersicht über das Gesamtwerk nicht ohne einen kurzen Rückblick auf seine philosophische und theologische Rezeption in den vergangenen Jahrzehnten auskommen.24

      Nach dem ersten Ansatz liest man seine Texte als Dokumente eines subjektiven Denkens oder einer subjektiven Wahrnehmung des Menschen. Diese bis heute weit verbreitete Lesart wird von Sozialphilosophen und liberalen Theologen vertreten. Sie fasst Kierkegaard als Exponenten einer »weltlosen Innerlichkeit« (Th. W. Adorno) und einer monadischen Subjektivität (E. Levinas) bzw. als Fürsprecher eines radikal religiösen Individualismus und eines persönlichen Christentums, das sich von der Kirche als sozialer Institution und Organisation abgelöst hat (H. L. Martensen, E. Troeltsch, E. Hirsch).

      Für den zweiten Interpretationsansatz sind Kierkegaards Texte als Mitteilungen eines intersubjektiven Denkens oder einer intersubjektiven Wahrnehmung des Menschen zu lesen. Diese Lesart hat sich inzwischen bei maßgebenden Kierkegaard-Interpreten sowohl in der Philosophie (M. Theunissen) wie in der Theologie (G. Pattison, A. Grøn, H. Deuser) durchgesetzt; sie wurde aber in Deutschland bisher nur unzureichend zur Kenntnis genommen. So erscheint Kierkegaard hierzulande immer noch oft als weltfremder eigensinniger Individualist, der für ein Christwerden des Einzelnen ohne Kirche


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