Andre Zeiten, andre Drachen. Wolfgang Schwerdt

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Andre Zeiten, andre Drachen - Wolfgang  Schwerdt


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oder psychologischen Ursprung des Ungeheuers zumindest für den vorderasiatischen Kulturkreis völlig überflüssig macht.

      Wenn im Enûma elîsch von Tiâmat als Verkörperung der Salzfluten und Apsu, der für das Süßwasser steht, die Rede ist, dann beschreiben diese recht treffend die vorbabylonische südmesopotamische Welt der Sumerer im Spannungsfeld zwischen den mächtigen Flüssen Euphrat und Tigris und dem Persischen Golf. Hier waren die fruchtbaren Schwemmlandniederungen, in denen sich die Sumerer im 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung niederließen, um schließlich mit Ur, Uruk, Lagasch oder Kisch die ersten städtischen Zivilisationen zu entwickeln. In sumerischer Zeit reichte das Mündungsgebiet von Euphrat und Tigris weiter als heute in das Landesinnere hinein. Und so spielte das Meer auch als Handelsweg zwischen Städten wie Ur, Uruk, Lagasch oder Kisch und der Indus-Kultur eine große Rolle. Süß- und Salzwasser waren also die natürliche aber auch unberechenbare Lebensgrundlage der frühgeschichtlichen Gesellschaften dieser Region.

      Hatten die Menschen Vorderasiens zuvor bereits Jahrtausende als nomadisierende Jäger, Sammler, Viehzüchter oder auch sesshafte Ackerbauern im Einklang mit der Natur gelebt, war mit den städtischen Zivilisationen ein erbitterter Gegensatz zwischen Mensch und Natur entstanden. Leben im Einklang mit der Natur beschreibt eine gesellschaftliche Lebensweise, die sich an den natürlichen Gesetzmäßigkeiten orientiert und sich als Bestandteil des natürlichen Kreislaufs von Werden, Leben und Sterben begreift. Kennzeichnend hierfür sind beispielsweise die Vorstellung von einer beseelten Natur (Animismus) und das mythische, als verwandtschaftlich begriffene Verhältnis von menschlichen Individuen oder Gemeinschaften zu Tieren, Pflanzen oder anderen Teilen der Natur (Totemismus). Diese mythisch-geistige Verbundenheit mit der natürlichen, beseelten Umwelt beinhaltet ebenfalls ein ganz spezifisches Verhältnis zu den Verstorbenen (Ahnenkult). Das 1950 entdeckte und erst seit 1995 systematisch ausgegrabene steinzeitliche Çatal Höyük 7 aus dem 8. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung ist ein Beispiel für den gesellschaftlich-chaotischen ›Urzustand‹, auf den sich das Enûma elîsch beziehen könnte.

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      Diese Zeichnung auf einem babylonischen Rollsiegel zeigt den Gott Marduk. Unter seinen Füßen Marduks Attribut, der Drache. Das Wellenmuster, auf dem Gott und Drache ruhen, symbolisiert das Meer, das Element der Urgottheit Tiâmat.

      Die Eingriffe in die Natur, die die Entwicklung der städtischen Zivilisationen etwa im 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung erforderte, würde man heute wohl als Terraforming bezeichnen. Mit Bewässerungssystemen, Kanalisierungen, gewaltigen Palast-, Tempel- und Festungsbauten und sogar der Umleitung von Flüssen griffen die Menschen bereits im 3. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung massiv in die natürlichen Kreisläufe ein und forderten damit Naturkatastrophen geradezu heraus. 8

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      Askili Höyük in Zentralanatolien. Eine mit Çatal Höyük vergleichbare Anlage einer steinzeitlichen Siedlung um 8500 bis 7400 vor Chr.

      Die Babylonier verstanden die Folgen ihrer massiven Umgestaltung der Natur wie Erosion, Versumpfung, Überschwemmungen oder Dürren als Reaktionen der ursprünglichen Naturgottheiten, die sich mit den Emanzipationsbestrebungen ihrer Schöpfung nicht abfinden wollten.

      Gewaltige organisatorische und technologische, also soziokulturelle Entwicklungssprünge haben in der Zeit zwischen dem anatolischen Çatal Höyük im 8., den sumerischen Siedlungen des 4. und dem Babylon zum Ende des 2. Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung stattgefunden. Und als der Text des Enûma elîsch irgendwann um das 1. Jahrtausend vor Chr. mit Holzkeilen in die sieben babylonischen Tontafeln gedrückt wurde, lagen die entscheidenden Auseinandersetzungen zwischen menschlicher Kultur und natürlicher Urmutter bereits in ferner Vergangenheit.

      Die zivilisatorischen Veränderungen des Zeitraumes, den das Enûma elîsch umfasst, waren auf allen kulturellen Gebieten geradezu revolutionär. In ihrer Komplexität war die Entstehung der städtischen Zivilisationen, der so konsequent und hierarchisch organisierten gesellschaftlichen Strukturen, von den Normalsterblichen kaum zu begreifen. Und so waren aus den Vorfahren nicht nur der Babylonier Götter und Kulturheroen, also mythologische Könige und Halbgötter, geworden, die den Menschen so zentrale Kulturtechniken wie beispielsweise Bewässerungssysteme oder Metallverarbeitung gebracht haben. Die inzwischen kontrollierte aber immer noch unberechenbare Natur war als Verlierer zum Ungeheuer, zum Drachen mutiert. Sie blieb eine ständige Bedrohung der neuen göttlichen Ordnung. Die mythologische Beschreibung der Entstehung der städtischen Zivilisation und der gesellschaftlichen Ordnung war gleichzeitig Legitimation der bestehenden Herrschaftsverhältnisse.

      Eine solche Legitimation war um so wichtiger, als die ›göttliche Ordnung‹ ständig mit teils völlig anders organisierten Kulturen konfrontiert war. In der vorderasiatischen Region, vom persischen Hochland mit seinen wilden Gebirgen über Mesopotamien, Anatolien und der Levante mit Syrien und Kanaan, wohnten immer verschiedene Kulturen gleichzeitig, die mal gegeneinander, mal miteinander Bündnisse schlossen, mal lediglich nebeneinander existierten. Da waren einerseits die städtischen Zivilisationen und Reiche mit ihren hochorganisierten Gesellschaften, weitreichenden Handelsbeziehungen, ausgeklügelter Bürokratie. Zum anderen durchwanderten noch relativ naturorientierte nomadische und halbnomadische Völkerschaften unterschiedlicher Herkunft wie Semiten oder Indoeuropäer die gesamte Region: Im persischen Sagrosgebirge lebten die gefürchteten Bergstämme, die mit ihrer ›Wildheit und ihren barbarischen Sitten‹ bereits den akkadischen Herrschern so viel Sorge bereitet hatten. Auch die Zeit der ›naturreligiösen‹ Jäger- und Sammlerkulturen war noch nicht völlig vorüber. Und die Menschen in den ländlichen Bereichen der städtischen Herrschaftsgebiete verließen sich lieber auf den vertrauten Kreislauf der Natur als auf städtisch-bürokratische Ordnungsvorstellungen.

      Am Ende des städtischen Zivilisationsprozesses stellte nicht mehr in erster Linie die Natur die Existenz der alten Reiche in Frage. Nun bedrohten vor allem die um die Vorherrschaft konkurrierenden Städte und Völker der kulturell so unglaublich dynamischen Großregion zwischen dem heutigen Anatolien und Persien, der Levante und natürlich Ägypten, die göttliche Ordnung des jeweils vorherrschenden himmlischen und weltlichen Kosmos. Der Drache verkörperte nun auch die gegnerischen Mächte und Götter. Er war nicht lediglich ein Bild, Symbol oder Synonym, sondern eine lebendige, greifbare Realität. Vergleichbar ist dies vielleicht mit nur vermeintlich modernen Begriffen wie ›Schurkenstaat‹, ›Achse des Bösen‹ oder ›al-Qaida‹. Diese Begriffe stellen letztendlich als Wirklichkeit verstandene Modelle hochkomplexer politischer, kultureller, militärischer und weltanschaulicher Strukturen dar. Die Modelle sollen gleichzeitig eine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem ›Andersartigen‹ verhindern. Gegen einen ›Schurkenstaat‹, der auch dann einer sein kann, wenn er lediglich die Legitimation der kulturellen und materiellen Vorherrschaft einer Großmacht in Frage stellt, lässt sich ohne moralische Hindernisse problemlos sogar ein Vernichtungskrieg führen. Die Verunglimpfung einer anderen Kultur, einer anderen Macht, einer anderen Lebensweise als chaotisches, mächtiges Ungeheuer, setzt diesen Gegner der eigenen Herrschaft, der eigenen Interessen, ungeprüft ins Unrecht. Der Gegner wird entpersonalisiert, entmenschlicht, seiner kulturellen Identität beraubt. Das Töten eines Ungeheuers, eines Drachen ist jederzeit moralisch geradezu zwingend, ist Notwehr. Die Unterdrückung eines fremden Volkes, das Vernichten einer anderen Kultur hingegen verlangt erhebliche Repressions- oder Legitimationsanstrengungen gegenüber dem eigenen Volk. Somit sind die Kontrahenten, der allmächtige, einzige und ordnende Gott, also ›das Gute‹, auf der einen Seite und der Drache, das Ungeheuer, mithin ›das Böse‹ auf der anderen sowie eine damit verbundene Ideologie unverzichtbare Bestandteile von Herrschaft, zumindest in der vorderasiatischen und westlichen Kultur.

      Damit die Herrschaftsausübung durch die Trennung in Gut und Böse oder eben Gott und Drache (oder Teufel) funktioniert, müssen diese übermächtigen Wesen als lebendige Wirklichkeit begriffen werden. Als Symbole oder lediglich Metaphern erlangen diese Figuren kaum Macht über die Menschen, sondern regen eher zur geistigen Auseinandersetzung an. Erst als lebendig begriffene, bewusst erfahrene Lebewesen können Gott und Drache ihre kulturelle Wirksamkeit entfalten. Würde man also den Menschen beispielsweise im alten Babylon die heute so beliebte Frage


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