Das Erwachen der Gletscherleiche. Roland Weis

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Das Erwachen der Gletscherleiche - Roland Weis


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lief rot an, weil Aschendorffer ihn als blöden Wichser bezeichnet hatte, der gefälligst Frau Dr. Bliesthal nicht ständig in den Ausschnitt schielen solle. Volltreffer! Was sein Trick dabei war, das verriet Aschendorffer nicht. Aber es sah so aus, als könne er binnen weniger Tage eine völlig neue Sprache in sein Gehirn hämmern und dann auch anwenden. Aschendorffer sprach und verstand auf diese Weise leidlich unter anderem auch Russisch, Chinesisch, Portugiesisch, Finnisch und so etwas Exotisches wie Rätoromanisch. Letzteres könnte ihm vielleicht in dieser Region eine Hilfe sein, sollten sie je auf einen Ureinwohner treffen.

      Der Professor inspizierte die Stelle, wo die Leiche im Eis steckte. Die Hand drohte einzuschneien. Aschendorffer blies sorgfältig die dicken Schneeflocken beiseite. Er nahm eine Lupe zu Hilfe, um die Hand Millimeter für Millimeter abzusuchen. Dabei kniete er im Schnee und wackelte mit dem Kopf. Ungerührt von Schneefall und Kälte und als hätte er alle Zeit der Welt, kramte Aschendorffer ein kleines Etui hervor, in dem er medizinisches Besteck verwahrte. Die beiden Türken schlotterten wie frisch geschorene Hunde. Meslut Kaymal schlug sich die Arme um den Oberkörper, um sich warm zu halten. Trotzdem klapperte er mit seinen gelben Riesenzähnen wie ein aus dem Eismeer geborgener Schiffbrüchiger. Sein schweigsamer „Bruder“ hüpfte von einem Bein auf das andere. Seine pelzig behaarten Füße steckten in speckigen Sandalen. Die türkischen Krummsäbelbeine zitterten in den kurzen Hosen und die üppige Behaarung stand in der Kälte ab wie kleine, spitze Stacheln.

      Seltsamerweise schien der Professor überhaupt nicht zu frieren. Er widmete sich in aller Seelenruhe seinen Untersuchungen. Jetzt setzte er eine feine Kanüle an und nahm eine Biopsie vor. „Kleine Gewebeprobe“, erläuterte er, mehr zu sich selbst als zu den Türken. Dann trat er einen Schritt zurück und nahm die gesamte Situation in Augenschein. Bis auf die Hand steckte die komplette Leiche im Gletschereis. „Wie kriegen wir den Kerl da nur heraus?“ Der Professor kratzte sich am Kopf. Das Schneekäppchen rutschte ihm in den Kragen. Er reagierte nicht darauf.

      „Habbe schon überlegt“, meldete sich Kaymal. Er wies seinen Landsmann an, die mitgeführte Blechkiste zu öffnen. Dort kamen zwei Kettensägen zum Vorschein. Aschendorffer begriff. Die beiden Türken wollten einen kompletten Eisklotz heraussägen. Sie wollten den Leichnam als mobile Tiefkühltruhe bergen. Hervorragend!

      Der Professor nickte anerkennend. „Wo hast du die Sägen her?“

      „Hab ich Onkel. Isse Holzefaller! In St. Märge!“

      Aschendorffer markierte die Umrisse des Leichnams, so wie er ihn hinter der Eiswand vermutete. „Wir müssen sicher gehen, dass wir die Leiche nicht beschädigen. Also machen wir den Eisklotz lieber großzügig. Hier, und hier, und hier!“, eifrig zeigte er die Stellen, wo die Türken sägen sollten.

      Nach mehreren Fehlversuchen warfen Kaymal und sein Gehilfe mit vor Kälte klammen Fingern die mächtigen Motorsägen an. Sie knatterten gierig und stießen gewaltige Abgaswolken aus.

      Die beiden Türken frästen sich von zwei Seiten ins Eis. Es ließ sich schneiden wie Butter, dennoch war es Schwerstarbeit. Kaymal schwitzte trotz der Kälte nach wenigen Minuten. Zwischendurch hielten die beiden inne, damit Aschendorffer den Fortschritt der Arbeiten überprüfen konnte. Aschendorffers Helfer ackerten wie echte Holzfäller. Beide Männer waren, anders als Aschendorffer, keine halben Portionen. Kaymal besaß den Brustkasten eines olympischen Ringers. Sein angeblicher Bruder sah aus wie Ben Hur mit dem Gesicht von Omar Sharif. Beide schufteten schweigend. Nur gelegentlich stießen sie pfeifend den Atem aus. Sie mussten den Eisklotz von allen Seiten in mehreren Etappen schräg ansägen, so lösten sie das Eismaterial rund um den frostigen Sarg. Schließlich mussten sie auf dessen Rückseite gelangen, um den Fund gänzlich frei zu sägen. Sie bohrten ihn mehr oder weniger aus dem Gletscher heraus.

      Aschendorffer erkundete unterdessen das Gelände. Wegen des Schneefalls sah er keine zwei Meter weit. Über dem Morteratsch-Gletscher hing milchiger Bühnennebel. Fette Schneeflocken verdeckten alle Spuren.

      Die Blechkiste musste runter von der Pritsche des Motorschlittens. Meslut und sein Partner bohrten zwei Klettereisen in ihren herausgesägten Eisklotz, und zerrten ihn an mächtigen Abschleppseilen aus dem Gletscher heraus. Er glitt fließend in die bereitgestellte Schlittenpritsche, als hätte ein Dutzend Hochleistungsingenieure diesen Vorgang berechnet. Der Schlitten ging in die Knie.

      Kaymal grinste: „Steckt drinne wie Schneefittschel!“, kommentierte er.

      Der Professor zog tadelnd eine Augenbraue nach oben: „Schneewittchen“, korrigierte er.

      Kaymal grinste weiter: „Sagge ich doch: Schneefittschel.“

      Die Türken nestelten mit ihren blaugefrorenen Fingern durchnässte Zigaretten aus den Brusttaschen ihrer Hemden und beratschlagten beim Qualmen ihr weiteres Vorgehen. Dies hier war ihr Projekt. Sie zurrten den Eisklotz auf dem Schlitten fest. Der Professor stand zwar daneben, hatte aber nichts zu sagen. Er erfuhr das Ergebnis der Beratungen: „Zwei Mann musse laufe nebbe die Schlitte un abstütze! Ein Mann isse Fahrer! Geht Berge abwärts, isse einfach!“

      Das war ein großes Wort. Es war klar, dass Aschendorffer nicht der Fahrer sein konnte. „Ich tue mein Bestes“, versprach er. „Wenn nur der Schlitten nicht umkippt.“

      Bevor sie den Platz ihres Grabraubes verließen, deponierten die beiden Türken noch die Blechkiste mit den beiden Motorsägen in dem großen Eisloch, das sie ins Gletschereis gesägt hatten. „Schneit zu und isse weg!“, behauptete Kaymal.

      *

      Wie sie es schafften, Schlitten, Eis, Leichnam und Professor unversehrt bis zum Lieferwagen zu bringen, bleibt das Geheimnis der beiden anatolischen Hochgebirgsjäger. Es dämmerte bereits, als der Eisklotz mit der Gletscherleiche wohl verwahrt im Kühlregal des Lieferwagens lag. Während Aschendorffer noch immer behaglich warm und entspannt wirkte, zitterten die erschöpften Schwerarbeiter. Kaymal rotzte geräuschvoll in den Schnee, warf die Heckklappe des Lieferwagens zu und verriegelte sie. „Schnell abfahre!“, kommandierte er und kletterte selbst auf den Fahrersitz. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren. Der Scheibenwischer schob emsig Neuschnee von der Frontscheibe. „Und dein Bruder? Wieso steigt er nicht ein?“, fragte Aschendorffer.

      Kaymal, wieder eine Kippe im Mundwinkel, nickte zum Heck des Lieferwagens und erklärte trocken: „Musse Schlitte versorge.“

      Aschendorffer stierte skeptisch in den Seitenspiegel. Wie sollte das gehen? Wohin konnte der Mann an diesem Ort und um diese Uhrzeit mit dem Schlitten wollen? Über die Berge kroch die kalte Nacht herunter. Dicke Schneeflocken fielen vom Himmel wie sie nicht schöner an Weihnachten fallen können. Morteratsch lag vor ihnen im Schneegestöber, durfte von ihrer Anwesenheit aber möglichst nichts mitbekommen. Der arme Mann stand durchgefroren in Sandalen und kurzen Hosen im Neuschnee. Türken sind normalerweise nicht für Schweizer Gletscher gebaut. Es könnte sein Tod sein.

      „Wo will er hin?“

      Kaymal blies eine Qualmwolke aus und knurrte: „Musse zuruck auf die Feldberg!“ Dann legte er den ersten Gang ein und steuerte den Bofrost-Eiswagen vorsichtig den zugeschneiten Wanderweg hinunter. Aschendorffer fragte nicht weiter. Sein Vertrauen in Kaymal war grenzenlos. Und um das Wohlergehen des Bruders in Sandalen und kurzen Hosen machte der Professor sich auch keine Gedanken. Fremdes Schicksal. Aschendorffer völlig egal. Hier ging es um Größeres. Um Wissenschaft!

      Er nestelte sein Handy hervor und rief Mona an, die in ihrem Hotel in St. Moritz schon voller Ungeduld darauf gewartet hatte. Aschendorffer erklärte nicht viel. Sie solle ihnen auf ihren Namen ein Zimmer in St. Moritz reservieren. Am besten nicht im gleichen Hotel, in dem sie selbst wohnte. Es sprach einiges dafür, ihren Aufenthalt in St. Moritz zu verheimlichen. Hausmeister Kaymal wehrte sich nicht gegen die Übernachtung. Wenn Aschendorffer es verlangt hätte, wäre er auch noch in der gleichen Nacht nach Freiburg zurückgefahren. Aber die Nacht in einem warmen Hotelbett konnte auch der unzerstörbare Meslut Kaymal dringend gebrauchen. Wieso fror Aschendorffer nicht? Das war Kaymal ein Rätsel. Normalerweise war er es gewohnt, körperlich mehr auszuhalten als jeder andere. Aber dieser komische mickrige Professor, an dem nicht viel mehr dran war als an einem verhungerten Radrennfahrer, der zeigte keinerlei Schwäche, keine Anzeichen von Erschöpfung, er fror nicht, er kannte keine


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