Ein herrliches Vergessen. Petra Häußer

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Ein herrliches Vergessen - Petra Häußer


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      Für meinen Mann

       und für meine Töchter

      Petra Hauser wurde 1950 in Karlsruhe geboren. Sie studierte Germanistik und Anglistik in Heidelberg und war über 30 Jahre lang als Lehrerin vor allem in der Erwachsenenbildung tätig. Ihren ersten Roman „Das Glück ist aus Glas“ veröffentlichte sie 2009 (6. Auflage, 2015). Es folgte die Novelle „Falsche Wimpern“ (2011), der Roman „Die Tage vor uns“ (2012), der Krimi „Binokelrunde“ (2014), der Roman „Heimatstadt“ (2016, 2. Auflage) sowie 2018 „Das Geheimnis vom Weihnachtsgebäck“.

       Petra Hauser

      Ein herrliches

       Vergessen

      Roman

      Lindemanns

      Sie liebten es, Pläne zu schmieden, und sie konnten dabei leicht ihren Horizont beliebig dehnen über das augenblicklich Sichtbare hinaus.

      1

      Am Tag seiner Geburt hätte keiner gedacht, dass er sich eines Tages für ein Glückskind halten würde. Sein Start war schwierig. Seine Mutter stieg in Eile aus einem Zug, noch weit außerhalb des Bahnhofs. Sie sah in der Dunkelheit nicht genau, wohin ihr nächster Schritt sie führen würde und fiel vornüber auf ihren Bauch, auf das Kind, das sie eigentlich noch zwei Monate dort bewahren sollte.

      Sie war eine energische Frau, rappelte sich auf und schüttelte die Hände ab, die sich an ihre Ellbogen hefteten, um zu helfen. Aber dann, ein bisschen später, als sie angekommen war mitten in Straßburg, wo sie ihren Mann besuchte, der dort derzeit arbeitete, wurde aus dem Druck in ihrem Bauch ein schmerzhaftes Reißen, das ihr fast den Atem nahm.

      Sie lag oben unterm Dach des Hotels in der Kammer, die man ihrem Mann zugewiesen hatte, wartete darauf, dass er käme, und biss die Zähne aufeinander. Zwischen den Krämpfen in ihrem Bauch gab es Ruhepausen. In einer solchen stand sie auf und lugte vorsichtig aus der Kammer hinaus, sah am Ende des Ganges eine junge Frau in einem Wandschrank hantieren. Gerade als diese sich umdrehte und ihr in die Augen blickte, begann das Stechen und Krampfen wieder und Käthe musste einen kleinen Schrei ausstoßen, bevor sie in die Knie ging.

      Die andere Frau kam herbei, half ihr auf, zog sie hinein ins Zimmer, hinüber zum Bett, das unter der Dachgaube stand. Sie erkannte die Lage richtig, ahnte auch schon, wen sie vor sich hatte. Das musste wohl die Frau des Chefkellners Georg sein, er hatte viel von ihr gesprochen, hatte ihr Bild herumgezeigt und ihre schönen Augen gelobt. Nicht dass sie selbst eine Gesprächspartnerin für Georg gewesen wäre. Sie huschelte nur immer möglichst im Hintergrund von einer Tätigkeit, die man ihr auftrug, zur anderen, war eine jener Personen, die unsichtbar und effektiv die Maschinerie des großen Hotels am Laufen hielten. Sie war eine Art Mädchen für alles, aber doch kein Mädchen mehr, deshalb erkannte sie sofort die ungewöhnliche Situation.

      „Ich hole Hilfe“, versprach sie, rannte mit klappernden Absätzen zur Treppe am Ende des Ganges. Wenige Minuten später kam Georg mit ängstlich aufgerissenen Augen in die Stube geplatzt und kniete sich neben Käthe. Mit der steifen Serviette, die sonst über seinem Unterarm hing oder schnell mal unter die Achsel geklemmt wurde – in der Eile hatte er sie nämlich mitgenommen –, tupfte er Käthes Stirn ab. Er hielt ihre Hand und presste ihre Finger heftig, als ob er ihr damit helfen könnte, den Schmerz zu ertragen, der aus ihren Augen schrie.

      „Die Wilhelmine holt die Sage-femme, die hier gleich um die Ecke wohnt. Es ist eine Freundin von ihr ...“, stieß er aufgeregt hervor, ganz außer Atem vom Heraufrennen und auch vom Schreck, der sich seiner zu bemächtigen begann.

      „Die was?“, stammelte Käthe.

      „Die Hebamme, Käthe.“

      Und die wurde gebraucht, denn das Kind, der kleine Sohn von Käthe und Georg, wollte jetzt geboren werden. Jetzt sofort.

      Winzig klein und verknautscht lag er drei Stunden später im Arm seiner erschöpften Mutter, es war inzwischen drei Uhr nachts und der Sonntag hatte begonnen. Im Haus herrschte Stille. Dort oben unterm Dach wusch sich Hélène Pannier die Hände, raffte die Tücher zusammen, die Wilhelmine ihr gebracht hatte, warf sie auf den Boden und schob sie mit einem leichten Drehen ihres Fußes in die Ecke. Dann griff sie nach den Geldscheinen, die Georg zusammengesucht hatte, und steckte sie in die Tasche ihres Mantels. Sie zog ihn an, tätschelte Georg zum wiederholten Mal nun die Schulter und flüsterte: „Ça va, ça va venir, il va vivre! Je le vois dans les étoiles, ne te fais pas de souci!”

      Sie lächelte, dabei zeigte sie ihre ungewöhnlich weißen Zähne.

      „Ein Sonntagskind isch er, wenn das nit ein Glück isch.“

      Hélène zwinkerte Georg noch ein letztes Mal zu. Befriedigt blickte sie hinüber zum Bett. Sowohl Käthe als auch Wilhelmine streichelten das kleine bläulich-graue knittrige Gesicht, griffen nach den winzigen Fingern und lächelten einander zu, als die sich um ihre Daumen rollten. Das braucht ein Menschlein, wenn es auf diese Welt kommt, dachte die Pannier, Aufmerksamkeit.

      Eine kleine rechte Hand und eine kleine linke Hand, beide hatten einen festen Griff. Die Augen hielt der Kleine geschlossen, die Lippen aufeinandergepresst. Er schien erschöpft, aber er war da, angekommen in dieser Welt. Der jungen Mutter ging es gut. Die Zeit der Schmerzen und des Stöhnens war vorerst vorbei für sie.

      2

      Georg, der frisch gebackene Vater, hatte die Stelle als Oberkellner im September des Vorjahres angenommen. Am 14. September 1914, genau an dem Tag, an dem Erich von Falckenhayn in Berlin die Oberste Heeresleitung übernahm. Für Georg war es eine Wintersaison, für den Kriegsminister begannen vier lange Jahre, an deren Ende er gescheitert und die ganze Welt eine andere sein würde.

      Ein Kellner verpflichtete sich oft nur für eine Saison, einen Sommer, einen Winter. Man konnte dieses Leben unstet nennen, wenn man nichts verstand vom Hotelgewerbe. Es war ein Wanderleben, dem der Artisten vergleichbar; der Beruf des Kellners hatte schließlich auch etwas vom Künstlerischen an sich. Wenn man an die Kleidung dachte: schon das eine Camouflage! Die Miene, die nichts von Emotionen verraten durfte. Nichts vom Ärger über unverschämtes Herrengehabe mancher Gäste, nichts von der Bewunderung für die schönen Damen, denen man den Teller vorlegte, sich dabei über sie beugte, über ihr Dekolleté und ihren Duft und den wunderbaren Glanz ihrer Haare, die künstlichen Blüten und Schleierchen, die es schmückten. Nichts von der Verachtung für die Herren deutschen Offiziere, die sich gerade hier in Straßburg so gebärdeten, dass man sich wirklich schämen musste, ein Deutscher zu sein. Das Wort „Wackes“, das allgemeine Schimpfwort für die alteingesessenen Elsässer, wurde nicht hinter vorgehaltener Hand, sondern laut und ungeniert ins Tischgespräch eingeflochten. Mit Herablassung. Das machte man dem Kaiser und seinen Beamten nach. Gerade ein Jahr war es her, dass ein Gericht hier in Straßburg in seinem Namen entschieden hatte gegen die Menschlichkeit und für die Macht des Militärs. Einem jungen schnöseligen Unteroffizier, der sein arrogantes Gehabe auf die Spitze getrieben und damit im Geschichtsbuch unter dem Titel Zabern-Affaire einen Platz gefunden hatte, wurde Recht gegeben: „Der Rock des Kaisers muss unter allen Umständen respektiert werden“, hatte sogar der Reichskanzler Bethmann-Hohlweg in Berlin verfügt. Und nun hatte man den Salat: Krieg! Einige Tage vor der Geburt des Kindes hatte die 16. Division bei Soissons ordentlich eins auf die Haube bekommen und noch bevor es laufen konnte, würden viele Soldaten auf schreckliche Weise hingemetzelt sein, erstickt am Giftgas, dem neuen Kampfmittel, das diesen Krieg eskalieren ließ.

      Die hoheitsvollen einstudierten Gesten der Kellner, ihr Auftritt! Das schnelle Dahingleiten auf glänzend gewichsten Schuhen, die einstudierten Gesten, das Jonglieren von Tabletts voller Teller, Tassen, Gläser, Gefäße mit Speisen, die den Mund wässrig machen, aber ja nicht den des Trägers. Ein Ober, der etwas auf sich hielt, musste so daherkommen, als ob er leere Teller trüge. Es sollte ihm nicht anzumerken sein, ob er die Zusammenstellung der Speisen billigte, ob er daraus Schlüsse zog auf den Speisenden oder sich heimlich ins Fäustchen lachte, weil er dessen Ignoranz durchschaute. Einen Nouveau-riche konnte er durchaus schon an der Wahl seiner Speisen, besonders an der Wahl der dazu gehörigen Getränke erkennen, wie dick auch immer der Brillant seiner Krawattennadel sein mochte.

      Georg


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