Ruanda. Gerd Hankel

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Ruanda - Gerd Hankel


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diese nicht mit den aus anderen Gründen als der ethnischen Vernichtung begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichgestellt werden dürften.66 Wie um diese Stimmen zu besänftigen, boten die ruandischen Justizbehörden der Öffentlichkeit am 24. April 1998 ein besonderes Schauspiel: 21 Männer und eine Frau wurden auf Plätzen oder in Stadien im Norden, Süden, Osten und Westen des Landes erschossen. Sie waren von den Sonderkammern in Gerichtsverfahren, die in aller Kürze eine vorher feststehende Schuld bestätigten, zum Tode verurteilt worden.67 »Die Verabreichung einer schmerzhaften Medizin war nötig, um unsere kranke Gesellschaft zu heilen; es war eine Demonstration für alle, dass die Tage der Straflosigkeit vorüber waren und jeder sich seiner Verbrechen stellen musste«, lautete der entsprechende Kommentar in einer Zeitung,68 und schmerzhaft, wenn auch nicht in durchweg lebensverkürzender Finalität, war die Medizin allemal. Für die Hälfte der etwa 1200 Personen, die sich zwischen Dezember 1996 und Dezember 1998 vor Gericht zu verantworten hatten, lautete das Urteil auf Tod (18,21 %) oder lebenslange Inhaftierung (32,1 %). Fast ein Fünftel der Angeklagten (17,97 %) war immerhin freigesprochen worden,69 was als Beleg dafür angeführt wurde, dass die ruandische Justiz keinesfalls, wie von exilruandischen Kreisen in Europa und Nordamerika behauptet,70 eine Rachejustiz sei. Sie habe beachtliche Fortschritte gemacht und die Verfahren entsprächen internationalen Standards, hieß es in einem UN-Bericht.71

      Damit war das Thema abgeschlossen, zunächst zumindest, und das Augenmerk konnte auf ein anderes Problem gerichtet werden, das täglich größer wurde. Nach Ruanda zurückkehrende Hutu-Flüchtlinge, die der Teilnahme am Völkermord beschuldigt wurden, ließen die Zahl der Gefängnisinsassen rasant steigen. Über 120 000 waren es um die Jahrtausendwende, zehnmal mehr, als Haftraum in den ohnehin desolaten ruandischen Gefängnissen vorhanden war.72 Weiterhin ausschließlich auf die Tätigkeit der Sonderkammern zu setzen, wäre einem Todesurteil für die allermeisten Häftlinge gleichgekommen. Selbst wenn die durchschnittliche Zahl von jährlich tatsächlich nur rund 600 Verfahren um ein Mehrfaches erhöht worden wäre, hätte es leicht länger als ein Menschenleben gedauert, bis alle Verfahren eröffnet worden wären. Eine Lösung für diese menschenunwürdige Situation musste gefunden werden und sie wurde in der ruandischen Geschichte gefunden. »Gacaca« lautete das Zauberwort, das nicht nur die schnelle Schaffung vieler tausend Gerichte garantieren, sondern auch den Prozess der Einigung und Versöhnung unter den Ruandern beschleunigen und zugleich festigen sollte. »Die Wahrheit über all das herauszufinden, was in Ruanda geschehen ist: wer 1994 in welcher Zelle73 lebte, wer dort nicht mehr lebt, wer getötet worden ist, wer getötet hat, was zerstört worden ist, usw.«, das sei, gefolgt von der Bestrafung der Hauptverantwortlichen und der Beschleunigung der Prozesse, das oberste Ziel der zu reaktivierenden Gacaca-Justiz, wie ein Minister Ende 1999 erklärte.74 Inhaltlich orientierte sich das Gacaca-Gesetz vom 26. Januar 2001 an den Kompetenzen der Sonderkammern, das heißt, wie diese sollten die Gacaca-Gerichte die mutmaßlichen Täter von Völkermordverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit kategorisieren, bestrafen und dabei die Einsicht in das begangene Unrecht mit weitreichenden Strafnachlässen belohnen. Zwei gewichtige Unterschiede gab es allerdings: Die Richter und – erstmals in der Geschichte der Gacaca-Justiz – Richterinnen waren keine Berufs-, sondern Laienrichter, und einen Staatsanwalt bzw. Verteidiger gab es nicht. Die lokale Bevölkerung, mit Tat und Tatort vertraut, sollte be- oder entlastende Informationen liefern, die von ihr gewählten Richterinnen und Richter sollten das Urteil sprechen.75

      Die Haltung zur Vergangenheit, die sich bis zum Jahr 2002 in Ruanda entwickelt hatte, stellte sich damit wie folgt dar: Nachdem Krieg und Völkermord beendet und das alte Regime besiegt worden waren, fiel bald die Entscheidung, die Vergangenheit strafrechtlich aufzuarbeiten, und zwar auf internationaler und nationaler Ebene. Art und Dimension der Verbrechen erheischten eine einmütige Verurteilung, sie gaben die Wahrheit vor, die konsensuell benannt und solidarisch unter Rechtsnormen subsumiert werden sollte. Begriffe wie »Sieger« oder »Besiegte« waren diesem Vorgang fremd, Gegensätzliches musste, wie es schien, nicht in einen Ausgleich gebracht werden. Zum spanischen Modell der Vergangenheitsaufarbeitung könnte der Unterschied größer nicht sein, obwohl wie dort Täter und Opfer in einem Land zusammenleben mussten. Im Vergleich zu Frankreich fällt wegen der 22 öffentlichen Exekutionen allenfalls die Parallele zum Säuberungsfuror der Post-Kollaboration auf. In Südafrika, wo die Verbrechen der Vergangenheit auch öffentlich verhandelt wurden, hatte die Wahrheits- und Versöhnungskommission keine Bestrafungskompetenz. Außerdem waren es die Verbrechen beider Seiten, die dort zur Verhandlung standen. Und mit Deutschland hatte Ruanda zwar die Verbrechensbezeichnung gemein und auch der jeweiligen Einsetzung einer internationalen Strafinstanz können ähnliche Hoffnungen und Ziele unterstellt werden, ansonsten aber war die Ausgangslage völlig verschieden, vor allem darum, weil in Ruanda Täter und Opfer weiterhin zusammenleben mussten.

      Kurzum, trotz einiger Übereinstimmungen mit historischen Vorläufern war und ist der ruandische Weg der Vergangenheitsaufarbeitung in weiten Teilen neu und originär. Die Überzeugungsfestigkeit, ja Inbrunst, mit der er präsentiert und vertreten wurde (und bis heute vertreten wird), ließen auch die Wahrheit über das vergangene Geschehen als klar und zwingend erscheinen.

      Gerichtsverhandlungen, die sich mit Völkermordverbrechen befassten, waren in Ruanda grundsätzlich öffentlich. Verfahren vor den Sonderkammern konnten auch ausländische Prozessbeobachter, soweit sie keine journalistische Akkreditierung benötigten, ohne Erlaubnis besuchen. Dennoch war das Interesse gering. Kinyarwanda, die Sprache Ruandas und auch die Gerichtssprache, verstanden die wenigsten. Dolmetschen in den meist kleinen Gerichtsräumen wirkte störend, zumal wenn mehrere Beobachter dem Prozess folgen wollten. Diese Gefahr bestand bei Gacaca nicht. Wie das Wort, das dem deutschen »Gras« oder »Rasen« entspricht, nahe legt, fanden die Prozesse im Freien statt, an zentraler Stelle eines Dorfes oder Stadtteils. Selbst ein halbes Dutzend oder mehr Beobachter konnten sich jetzt mit ihren Dolmetschern einfinden, ohne dass daraus für das Gericht und die Öffentlichkeit eine Störung entstanden wäre. Und das Interesse war groß nach dem 18. Juni 2002, als offiziell der Beginn der neuen Gacaca-Justiz verkündet worden war und in allen zwölf Provinzen des Landes die Durchführung von Pilotverfahren zur Informationssammlung einsetzte. Dass ein Volk über sich selbst zu Gericht sitzt, sich einem Läuterungsprozess unterzieht, schien ein einzigartiges Experiment zu sein, das zudem durch die zu erwartenden Einblicke in die Abgründe menschlichen Verhaltens noch an Attraktivität gewann. Doch anders als bei den Verfahren vor den Sonderkammern musste für die Beobachtung von Gacaca-Prozessen von allen Nicht-Ruandern ausnahmslos eine Erlaubnis beantragt werden. Der Antrag war zu richten an den Obersten Gerichtshof (Cour Suprême), der die Gacaca-Aktivitäten beaufsichtigte und koordinierte, und sollte eine Begründung enthalten. In meinem Fall ergab sich die Begründung aus einem Schreiben des Justizministers Mucyo, in dem ich, nach einem Besuch in dessen Büro und einem langen Gespräch über den Holocaust, Deutschlands Verantwortung und Aufarbeitungsversuche, ausdrücklich dazu ermuntert wurde, »wahrheitsgetreu von allen Bemühungen zu berichten, die unternommen würden, um der Folgen des in Ruanda begangenen Verbrechen des Völkermords und der dort ebenfalls begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit Herr zu werden«.

      Die Erlaubnis, die ich daraufhin erhielt, gestattete mir, Gacaca-Verhandlungen im ganzen Land zu besuchen. Versehen war sie mit der Maßgabe, mich getreu den ruandischen Gesetzen zu verhalten, die ruandischen Sitten und Gebräuche und das ruandische Volk im Allgemeinen zu achten und strikte Neutralität zu wahren. Besonders hervorgehoben wurde noch, dass es mir untersagt war, Fotoaufnahmen oder Tonaufzeichnungen von den Verhandlungen zu machen.

      Man tat gut daran, sich an diese Ge- und Verbote zu halten. Die Hautfarbe sorgte bereits für Aufmerksamkeit, der Sitzplatz – auf einer Bank im Schatten, während die Dorfbevölkerung, oft nicht einmal durch einen Sonnenschirm geschützt, auf dem Boden hockte – ebenfalls. Und die dauernd anwesenden Sicherheitsbeamten, sogenannte Local Defence Forces, waren ohnehin sehr kontrollfreudig. Allerdings wurde das Fotografieren auch manchmal erlaubt, je nach Laune, so hatte es den Anschein, der oder des Vorsitzenden des Gacaca-Gerichts. In der Region um die südruandische Stadt Butare jedenfalls schien sie oft so zu sein, dass Fotos nicht als Sicherheitsbedrohung eingeschätzt wurden. Auch 2002 lief die Zeit dort offensichtlich noch anders als in anderen Teilen des Landes.


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