Die Niederlage der politischen Vernunft. Egon Flaig

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Die Niederlage der politischen Vernunft - Egon Flaig


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eine besondere Relevanz anzumelden. Für die bescheidenen Ziele dieses Buches mögen sie genügen. Es sei eingestanden: Da die politische Vernunft in historischen Situationen und Gegebenheiten agieren muß, wird sie verschiedenartige Imperative formulieren, je nachdem, wo und wann man sie gebraucht. Die Verhältnisse in den USA oder in Argentinien unterscheiden sich von jenen in Mitteleuropa und stellen die politisch Handelnden und Denkenden vor andere Aufgaben. Von den Europäern verlangt sie, die demokratiewidrige Eurokratie der Brüsseler Union zu verabschieden. Von dieser EU führt keine Brücke hinüber zu einer Europäischen Republik. Aber eine solche säkulare Republik Europa ist vonnöten, damit die vereinigten Europäer die Imperative der politischen Vernunft befolgen können. Die europäische Republik verlangt einen Gründungsakt, der jenem der Vereinigten Staaten ähnelt. Sie ist zu gründen auf Volksentscheide, in denen die Völker sich zu einem einzigen Souverän zusammenschließen unter einer gemeinsamen Verfassung.

      Wer das Wort ›Vernunft‹ in den Mund nimmt, setzt sich etlichen Vorwürfen aus. Zweien unter diesen sei vorab begegnet. Erstens ist zu erläutern, in welchem Verhältnis die so definierte Vernunft zur Utopie steht, zweitens inwiefern sie einen Anspruch auf überlegenes Wissen erhebt gegenüber der bloßen ›Ideologie‹.

      Zunächst zur Utopie. Die anzustrebende Weltrepublik ist keine Utopie in dem Sinne wie etwa die klassenlose Gesellschaft. Eine solche wird es niemals geben; ebensowenig wie es jemals zufriedenstellende Gerechtigkeit im Irdischen geben kann. In seiner »Kritik der politischen Vernunft« läßt Régis Debray die verzweifelte Hoffnung sagen:

      »Das Zoon politikon wartet auf Godot. Aber wenn man die Vermutung fallenließe, daß die Schlüssel zum Reich verloren gegangen seien, wonach sollte man dann noch suchen?«6

      Die utopische Hoffnung muß immer verzweifeln. Dem tragischen Denken der Griechen ist sie vollkommen fremd. Es dürfte lohnen, nach Geringerem zu suchen. Wenn bereits das Geringere die Chancen der Menschheit erhöht, einigermaßen katastrophenfrei zusammenzuleben, warum nicht darüber nachdenken? Sogar Platon begnügte sich nicht mit dem Entwurf eines einzigen Idealstaates; er ersann noch einen zweiten, von welchem er sicher war, daß er sich leichter verwirklichen lasse. Die Ziele niedriger zu stecken erlaubt, viel eschatologische Klangfarbe aus der Stimme zu nehmen, die man erhebt, um andere Theorien und Diskurse abzulehnen.

      Nun zum Anspruch auf überlegene Wahrheit. Der Begriff der Aufklärung enthält eine gewisse Skepsis gegen seine eigenen Grenzen. Daher wird in diesem Buch das Wort ›Ideologie‹ nur sparsam verwendet. Marxens These, Ideologie sei notwendig falsches Bewußtsein, ist grausam lächerlich. Denn jedwedes menschliche Bewußtsein ist notwendig fehlerhaft, weil es ein menschliches ist; und weil uns Menschen die letzten Gründe und Zusammenhänge immer verschlossen sein werden. Alle Aufklärung hat notwendigerweise Grenzen. Damit ist der wissenschaftliche Fortschritt nicht geleugnet. Es gibt ihn; und die postmodernen Einwürfe, alle Diskurse seien gleich weit vom Realen entfernt, folglich Voodoo genauso wahr wie Atomphysik, werden außerhalb der Cultural Studies an westlichen Universitäten mit Hohn quittiert. Selbstverständlich gibt es Fortschritt in der Erkenntnis der Welt. Aber die Menschheit bleibt immer in der platonischen Höhle gefangen. Es gelingt lediglich, uns in der Höhle von Fesseln zu befreien, umherzugehen und die Körper von ihren Schatten zu unterscheiden. Und mit viel Mühe gelingt es, einzelne Winkel der Höhle besser auszuleuchten. Mehr ist dem irdischen Leben nicht gegeben. Das sind die Grenzen der Aufklärung. Deutlicher: Die Aufklärung benötigt Wissenssysteme; sie versucht nach Kräften, ohne Glaubenssysteme auszukommen. Doch alle Wissenssysteme müssen mit Axiomen arbeiten, die sie unbewiesen voraussetzen; und sie unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht von Glaubenssystemen, obwohl sie in funktionalen Hinsichten solchen weit überlegen sind. Das einzige, was die Aufklärung zuverlässig leisten kann, ist, die Wissenssysteme unablässig aufs Forum zu rufen und sie gegeneinander antreten zu lassen, damit die Öffentlichkeit sie prüfen kann, um zu überprüfen, welche Wissenssysteme die Wirklichkeit besser erklären als andere und wie konsistent ihre innere Logik jeweils ist. Doch vollständige Kohärenz ist für kein menschliches Wissenssystem erreichbar; immer zeigen sich Lücken. Die Unvollständigkeit garantiert für alle Zeiten eine kreative Unruhe, selbst wenn diese mal heftiger und mal träger wirkt. Aufklärung befreit nicht aus der Höhle, sie findet keine Schlüssel zum Reich. Sie befindet sich auf dem schwankenden Boden der historischen Situativität.

      Aus diesem Grunde gibt es keine Möglichkeit, Ideologien prinzipiell zu unterscheiden von Nicht-Ideologien. Folglich reserviere ich das Wort ›Ideologie‹ für einen besonderen Modus des Diskursgebrauchs: Wenn Diskurse darauf zielen, politisch zu mobilisieren, dann werden sie ›ideologisch‹. Denn als mobilisierende Diskurse simplifizieren sie; sie reduzieren ihre konzeptuelle Dimension und ihre analytische Leistungskraft, folglich ihre Tauglichkeit, Wirkliches zu begreifen. Gebraucht man sie mobilisierend, dann werden sie in unterschiedlichen Graden ›taub‹ für Einwände. Mobilisierende Diskurse entheben sich selbst der Regeln der Kontroverse. Kein Denksystem ist dagegen gefeit, egal ob utopisch oder reaktionär. Jedes kann ideologisch werden. Ideologisch ist die sogenannte Kritik am Bestehenden nicht minder als dessen Rechtfertigung. Ideologisch ist nicht der Diskurs selber, sondern seine Gebrauchsweise. Sogar im ›ideologischen‹ Modus beanspruchen Diskurse immer noch, welterschließende Funktion zu haben und insofern der Welterkennung zu dienen. Ohne solche Funktion könnten sie überhaupt nicht orientieren; und noch der schlimmste Fanatiker benötigt Orientierung in der Wirklichkeit. Solcher Modifikation in die ›ideologische‹ Gangart unterliegen selbstverständlich auch die aufklärerischen Diskurse. Gegen diese Modifikation vermag sich kein Diskurs zu wehren, denn Diskurse sind keine Subjekte. Sie können nicht darüber bestimmen, wie sie gebraucht sein wollen. Darüber befinden einzig und allein die Akteure in ihren sozialen und kulturellen Konstellationen.

      Zwei Bedingungen:

      Öffentlichkeit und Urteilskraft

      Welche apriorischen und welche empirischen Bedingungen müssen gegeben sein, damit die politische Vernunft agieren kann? Es sind zwei Bedingungen, beide liegen auf unterschiedlichen Ebenen. Erstens die Öffentlichkeit, zweitens die Urteilskraft.

      Die politische Vernunft bedarf der Öffentlichkeit. Unter den großen Philosophen hat keiner der Öffentlichkeit eine solche aufklärerische Funktion zugeschrieben, wie Kant das tat. Er nannte es »die transzendentale Formel des öffentlichen Rechts«, daß alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen unrecht seien, falls die Handlungsmaxime sich »nicht mit der Publizität verträgt«.7 Nur was das Licht der Öffentlichkeit nicht zu scheuen braucht, kann überhaupt rechtmäßig sein. Alle Maximen, alle Gründe für das Handeln, sind in der Öffentlichkeit darzulegen und haben sich der Prüfung auszusetzen. Ein solches Prüfen kann deswegen gelingen, weil diese Öffentlichkeit den Charakter eines republikanischen Forums hat: Der Widerstreit von Meinungen läßt sich schlichten, indem auf jedwede Gewalt verzichtet wird, und indem die Gegner den Konflikt in eine Kontroverse transformieren, die sie auf diesem Forum austragen. Die Kontrahenten sowie alle Teilnehmer sind antwortpflichtig und haben Rechenschaft über ihre Gründe zu geben – was die Griechen logon didonai nannten. Das Abwägen der Gründe und Gegengründe geschieht vor einem ›Gerichtshof der Vernunft‹. In und durch Kontroversen bilden Teilnehmer und Zuschauer ihre auf Gründen gebaute Meinungen; hier erweist sich, was rechtlich und was zumutbar ist. Kant scheut nicht davor zurück, der so definierten Öffentlichkeit eine konstitutive Funktion für die Zivilisation selber zuzuschreiben: Es sei eine Leistung der Öffentlichkeit, daß die Menschen ihre Konflikte nicht mit kriegerischen Mitteln lösten, sondern in gerichtsförmigen Verfahren; damit habe sie rechtmäßige und friedliche Siege ermöglicht und den Menschen zivilisiert und moralisiert.8

      Die Öffentlichkeit ist kein geistiges Vermögen des Menschen, sondern ein sozialer Zusammenhang von institutionellem Charakter, und als solcher eine historische Errungenschaft, die nur in wenigen Kulturen sich findet. Dennoch verleiht Kant ihr den Status einer absolut notwendigen Instanz für die Diskussionen um Recht und Politik, ja für das vernünftige Denken überhaupt:

      »Zwar sagt man: die Freiheit zu sprechen oder zu schreiben, könne uns zwar durch obere Gewalt, aber die Freiheit zu denken durch sie gar nicht genommen werden. Allein, wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit andern, denen wir unsere Gedanken mitteilen,


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