Der taube Himmel. Herbjørg Wassmo
Читать онлайн книгу.zu seinem Zweig flog, zurückkam und noch ein paar Bissen holte.
Mehrmals wiederholte sich das. Dann blieb er ruhig in der Luft stehen und bewegte nur die Flügel. Eine Art Gruß. Tora hob die Hand. Dann war er fort.
Die Bröckchen lagen wie Brandmale auf dem Fensterbrett.
Rakels Schultern fielen herunter. Tora war wieder im Zimmer.
Sie wandte sich um und sah Rakel an. Nickte stumm. Dann schloss sie sorgfältig das Fenster.
»Er wird’s jetzt allein schaffen! Hast du’s gesehn?«
Rakel versuchte, in Toras Welt hineinzukommen. Sie nickte nur ein wenig mit dem Kopf.
Sie aßen Wurstbrote, die Rakel mitgebracht hatte. Dazu tranken sie Kaffee. Saßen an dem runden Tisch mit der Plüschdecke, die Arme ziemlich hoch, weil die Armlehnen der Sessel so hoch waren.
Rakel wartete. Etwas musste ja geschehen. Sie wusste, dass sie nicht in der Lage war, Tora ohne weiteres zu verstehen. Spürte trotzdem intuitiv, dass sie auf dem richtigen Weg war.
»Frau Karlsen ist Witwe geworden«, sagte Tora schließlich und kaute nachdenklich. Ihr Gesicht hatte etwas Farbe bekommen.
»Ja, ich hab’s gehört. Nimmt sie’s schwer?«
»Er war im Altersheim. Ich glaub nicht, dass sie’s versteht. Dass er tot ist, mein ich.«
»Das ist oft so. Als deine Großmutter starb …«
»Ich glaub nicht, dass wir sterben«, unterbrach Tora. Es war deutlich, dass sie nicht zuhörte.
»Das müssen wir alle, Tora.«
»Nein, ich glaub, das ist nur eine Lüge! Ich glaub, dass wir die ganze Zeit da sind, auch wenn wir uns nicht zeigen. Deswegen macht sich auch Elisifs Gott nicht die Mühe, den Henrik sterben zu lassen. Er ist ja doch da. Die ganze Zeit.«
Rakel setzte den einen Fuß, den sie auf den anderen gestellt hatte, auf den Boden, als ob er eine Sache wäre. Er stand einen Augenblick in der Luft. Die Hand, die eigentlich die Kaffeetasse zum Mund führen wollte, sank in den Schoß.
»Warum soll der Henrik nicht sterben?«, fragte sie mit steifen Lippen.
»Nein, er kann nicht sterben. Menschen wie er können nicht sterben … Aber das macht nichts – denn ich komm ja nicht nach Haus!«
»Weil du den Henrik nicht magst?«
»Niemand mag den Henrik.«
»Hör mal zu! Du brauchst den Henrik nicht zu mögen, auch wenn er mit deiner Mutter verheiratet ist. Du kannst deswegen ruhig nach Haus fahren. Du brauchst mit dem Henrik nicht mal zu reden. War er Weihnachten hässlich zu dir?«
»Nein. Ich war gemein.«
»Wie denn?«
»Ich hab die Kaffeetasse so weit weggestellt, dass er nicht drankam, denn er hatte ja den Fuß in Gips. Ich hab ihn nicht gestützt, wenn er Hilfe brauchte, um aufs Klo zu kommen.«
Tora grinste. Die Augen glänzten wie im Fieber.
»Warum, Tora?«
»Jemand muss das machen. Damit er versteht, dass er nicht sterben kann.«
Etwas Unheimliches kroch aus den Wänden, so dass es Rakel nasskalt über den Rücken lief.
»Sag endlich, warum du den Henrik nicht leiden kannst. Was hat er dir getan? Hat er dich geschlagen? Dir gedroht?«
»Alle wissen, dass er schlägt. Ich will nicht dahin. Ich muss den Vogel füttern.«
Tora vergrub ihre Finger in Rakels Windjacke, beugte sich vor und sah ihr in die Augen. Jemand hatte mehrere Kerzen tief drinnen hinter der Netzhaut angezündet. Nun flackerten sie im Wind. Wind woher?
Wie ein Kind. Ein kleines Kind, dachte Rakel. Tora ließ Rakels Jacke los. Lachte. Es hörte sich an, als ob Heftzwecken in einer Tabakbüchse klapperten.
»Alle wissen, was der Henrik tut, außer einer Sache.«
Tora schloss den Mund. Ganz fest. Schürzte die Lippen und wiegte sich hin und her.
»Was für eine Sache?«
»Er weiß nicht, dass er ein Vogeljunges hat. Er weiß nicht, dass die Vogelmutter um Brot an meinem Fenster bettelt. Er weiß nichts von sich selber.«
»Dass er ein Vogeljunges hat …?«
»Du hast doch den Vogel gesehn, nicht wahr? Er kam, obwohl du hier warst! Nicht wahr?«
»Ja, Tora, ich hab den Vogel gesehn. Kannste mir erklären, was der Henrik mit dem Vogel zu tun hat?«
»Er ist der Vater von dem Vogeljungen, verstehste das nich … Er ist zu groß, um der Vater von einem Vogel zu sein …«
Rakel versuchte klar zu sehen. Irgendetwas stimmte nicht mit der Tapete. Über dem Bett waren die Bahnen nicht richtig nebeneinandergeklebt. Das Samtmuster passte nicht aufeinander. Die Augen wanderten von der einen Tapetenbahn zur anderen.
»Halt mich nicht zum Narren, Tora.«
Toras Augen schauten durch Rakel hindurch. Die Stimme wurde eindringlich leise. Als ob sie einen Traum erzählte, der Eindruck auf sie gemacht hatte. Als ob sie von einem Buch berichtete, das sie gelesen hatte.
»Er war klein, verstehste. Schon blau. Niemand wusste davon, deshalb starb er einfach. Aber die Mutter trauerte …«
Dann erstarrte sie plötzlich. Rang nach Atem. Die Fäuste hämmerten auf den Sessel. Staub wirbelte auf. Ein alter, trockener Geruch ließ Rakel übel werden. Toras Augen waren voller Tränen, und aus der Kehle kamen irgendwelche Laute.
Rakel erhob sich und zog sie von dem Sessel hoch. Sie landeten alle beide auf dem Fußboden. Der Flickenteppich verrutschte unter ihnen. Das Nachmittagslicht war sparsam hier unten. Machte den Raum flach. Schob die Wände auseinander. Die Decke mit dem abscheulichen mehrarmigen Kronleuchter wurde drohend. Die vergilbten Bakelitschirme hatten von zu starken Birnen Risse bekommen. Rakel zählte die Schirme. Sechs.
Tora schlürfte ihr Weinen in sich hinein. Fuhr mit dem Ärmel übers Gesicht. Schluchzte noch ein wenig. Sie war zwei Jahre alt. Lag im Schoß der Tante. Hatte sich das Knie fürchterlich aufgeschlagen, so dass sie weinen musste. Aber es gab Abhilfe für alles. Rakel legte einen Lappen auf. Die Tante legte immer einen Lappen auf. Sie blies auf die Wunde, bis der Schmerz weg war. So war es immer gewesen.
»Hier! Hier kam das Vögelchen raus. Und dann starb es einfach! Aber ich hab das Blut aufgewischt. Alles verbrannt, Tante. Nicht wahr, es ist jetzt schön hier?«
Zuerst zeigte sie mit einem zitternden Finger auf den Teppich unter ihnen. Dann machte sie eine weit ausholende Bewegung mit der Hand und schickte ein zerbrochenes Lächeln in den Raum.
»Niemand hat’s gesehn, Tante Rakel.«
7
Es ruhte ein blasser Feiertagsfriede über Været. In der Woche vor Ostern war es ihnen gegangen wie einer Henne, die ein Ei legen will. Aber sie gackerte nicht viel. Stakste nur hierhin und dahin, während die Zeit verging. Und das Nest blieb leer.
Die Fischer sahen verhärmter aus als sonst. Einige sagten ganz offen und sehr verbittert, dass das Zugnetz der Fischerei mehr schade als das Grundnetz. Sie blieben bei Laune, indem sie sich gegenseitig herausforderten, wie Tigerjunge in einem ernsthaften Spiel um eine Beute, die sie nicht zu töten schafften.
Normalerweise fischten sie bis Mitte April. Aber nicht in diesem Jahr. Die Zugnetzfischer leugneten, dass sie daran schuld seien, obwohl es sogar in der Zeitung stand, dass der Fischfang bis zum »Zugnetz-Tag« gut gewesen sei. Zusätzlich fischten die verdammten Krabbenkutter alle kleinen Fische in der Barentssee bis hinunter zur norwegischen Territorialgrenze weg. Piratenpack! Man musste es nach Ostern in Finnmark probieren. Über eines waren sie sich einig in den Fischerhütten, bei Tabaksrauch und Schwarzgebranntem: die Zwölfmeilenzone! Das