Die Phantome des Hutmachers. Georges Simenon
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Georges Simenon
Die Phantome des Hutmachers
Roman
Aus dem Französischen von Juliette Aubert und Mirko Bonné
Kampa
Die Phantome des Hutmachers
1
Es war der 3. Dezember, und immer noch regnete es. Riesig, tiefschwarz, mit einer Art dickem Bauch, hob die Ziffer 3 sich vom grellen Weiß des Kalenders ab, der rechts der Kasse an der dunklen Eichenholztrennwand zwischen Laden und Schaufenster hing. Genau zwanzig Tage waren vergangen – am 13. November nämlich war es passiert, auch da so eine fettleibige 3 auf dem Kalender –, seit bei der Saint-Sauveur-Kirche, nur ein paar Schritte vom Kanal entfernt, die erste alte Frau ermordet worden war.
Ja, es regnete seit dem 13. November. Ohne Unterbrechung regnete es seit zwanzig Tagen, konnte man sagen.
Ein lang anhaltender, platternder Regen war es meistens, und wenn man durch die Stadt rannte, dicht an den Häusern entlang, hörte man in den Dachrinnen das Wasser. Man nahm die Straßen mit Arkadengängen, um wenigstens kurz geschützt zu sein, man zog andere Schuhe an, sobald man zu Hause war. In sämtlichen Hausfluren trockneten nahe dem Ofen Regenmäntel und Hüte, und wer über keine Wechselkleidung verfügte, lebte in einer beständigen klammen Feuchtigkeit.
Schon weit vor vier wurde es dunkel, und in manchen Fenstern war von früh bis spät das Licht an.
Es war vier, als wie jeden Nachmittag Monsieur Labbé aus dem Hinterzimmer seines Geschäfts getreten war, wo hölzerne Köpfe in allen Größen in den Regalen standen. Er war die Wendeltreppe hinaufgestiegen, die ganz hinten in der Hutmacherei nach oben führte. Auf dem Treppenabsatz hatte er kurz innegehalten, einen Schlüssel aus der Tasche gezogen und die Tür des Schlafzimmers aufgeschlossen, um sogleich Licht darin anzumachen.
Ehe er den Schalter umgedreht hatte, war er da bis zum Fenster gegangen, an dem die dicken, verstaubten Spitzenvorhänge immer zugezogen waren? Wahrscheinlich, denn bevor er Licht machte, ließ er für gewöhnlich das Rollo herunter. In diesem Moment hatte er drüben, nur ein paar Meter weiter, Kachoudas, den Schneider, in dessen Atelier sehen können. Es war so nah, zwischen ihnen der Straßengraben so schmal, dass es einem vorkam, als wohnte man im selben Haus.
Kachoudas’ Atelier lag im ersten Stock über seinem Laden und hatte keine Vorhänge. Die kleinsten Details des Zimmers zeichneten sich ab wie auf einem Kupferstich – die Blumen der Tapete, der Fliegendreck auf dem Spiegel, das flache und fettige Kreidestück, das an einer Schnur hing, die an einer Wand befestigten Schnittmuster aus braunem Papier, und Kachoudas, der auf seinem Tisch saß, im Schneidersitz, in Reichweite eine schirmlose Glühbirne, die er mithilfe eines Stücks Draht zu sich heranzog. Die Tür im Hintergrund, die in die Küche führte, stand immer etwas offen, wenn auch meistens nicht so weit, dass man das Innere des Zimmers hätte sehen können. Die Anwesenheit von Madame Kachoudas erriet man trotzdem, denn ab und zu bewegten sich die Lippen ihres Ehemannes. Während der Arbeit redeten sie miteinander, von Zimmer zu Zimmer.
Geredet hatte Monsieur Labbé auch. Valentin, sein Gehilfe, der sich im Laden aufhielt, hatte über seinem Kopf Schritte und Stimmengemurmel gehört. Daraufhin hatte er den Hutmacher wieder nach unten kommen sehen, erst die elegant beschuhten Füße, die Hose, das Jackett, schließlich das ein bisschen schlaffe, stets ernste, nie aber übertrieben strenge Gesicht, das Gesicht eines Mannes, der sich selbst genügt, der nicht das Bedürfnis empfindet, sein Innenleben nach außen zu kehren.
Bevor er an diesem Tag aus dem Haus ging, hatte Monsieur Labbé noch zwei Hüte über Dampf in Form gezogen, darunter den grauen Hut des Bürgermeisters, und in dieser Zeit war auf der Straße der Regen zu hören gewesen, das Wasser, wie es das Fallrohr hinunterbrauste, und im Laden das sachte Gezischel des Gasofens.
Immer war es dort zu warm. Kaum dass Valentin, der Gehilfe, morgens kam, stieg ihm das Blut in den Kopf, und nachmittags, da wurde ihm der Kopf schwer; mitunter sah er dann seine wie vor Fieber blitzenden Augen in den zwischen den Regalen befestigten Spiegeln.
Monsieur Labbé redete nicht mehr als an den anderen Tagen. Er konnte Stunden mit seinem Angestellten verbringen, ohne etwas zu sagen.
Sonst hörte man rings um sie her nur das Geräusch des Uhrpendels und jede Viertelstunde ein Klicken. Zu vollen und halben Stunden wurde der Mechanismus zwar ausgelöst, blieb jedoch nach einer vergeblichen Anstrengung abrupt stehen – die Uhr hatte vermutlich noch immer ein Schlagwerk, das aber kaputtgegangen war.
Wenn der kleine Schneider auch nicht in das Zimmer im ersten Stock sehen konnte – am Tag wegen der Vorhänge, am Abend wegen des Rollos –, so brauchte er sich doch nur vorzubeugen, um einen Blick in das Hutgeschäft zu werfen.
Natürlich lugte er herüber. Monsieur Labbé gab sich zwar keine Mühe, es nachzuprüfen, trotzdem wusste er es. Darum änderte er auch nichts an seinem Zeitplan. Seine Bewegungen blieben bedächtig, akribisch. Er hatte sehr schöne, etwas speckige Hände, die ganz erstaunlich weiß waren.
Fünf Minuten vor fünf war er aus dem Zimmer hinter dem Laden gekommen, das man »die Werkstatt« nannte, wo er erst die Lampe ausgemacht und daraufhin eine seiner ritualisierten Phrasen von sich gegeben hatte:
»Werde mal nachsehen, ob Madame Labbé nicht etwas braucht.«
Von Neuem war er die Wendeltreppe hinaufgestiegen. Valentin hatte seine Schritte über sich gehört, ein gedämpftes Stimmengemurmel, dann wieder die Füße gesehen, die Beine, den ganzen Körper.
Hinten hatte Monsieur Labbé die Tür zur Küche aufgemacht und zu Louise gesagt:
»Werde früh nach Haus kommen. Valentin schließt den Laden ab.«
Dieselben Worte sagte er jeden Tag, und das Hausmädchen antwortete:
»Ist gut, Monsieur.«
Während er seinen dicken schwarzen Mantel überzog, sagte er noch einmal, jetzt zu Valentin, auch wenn der es sehr wohl gehört hatte:
»Sie schließen den Laden ab.«
»Ja, Monsieur. Guten Abend, Monsieur.«
»Guten Abend, Valentin.«
Er nahm das Geld aus der Kassenschublade und wartete noch etwas ab, indem er die Fenster gegenüber nicht aus den Augen ließ. Kein Zweifel, Kachoudas war erst vor Kurzem von seinem Tisch geklettert, in dem Moment nämlich, als er Labbés Schatten über das Rollo im ersten Stock hatte huschen sehen.
Was sagte er zu seiner Frau? Denn er sagte etwas zu ihr. Er brauchte eine Ausrede. Sie fragte ihn nichts. Nie hätte sie sich erlaubt, ihm gegenüber eine Bemerkung zu machen. Schon seit Jahren, ungefähr seit er sich selbstständig gemacht hatte, ging er nachmittags gegen fünf im Café des Colonnes ein oder zwei Gläser Weißwein trinken. Auch Monsieur Labbé ging dorthin, und noch andere, die sich nicht mit Weißwein und auch nicht mit nur zwei Gläsern zufriedengaben. Für die meisten ging dort der Tag zu Ende. Kachoudas dagegen aß, sobald er heimgekommen war, rasch einen Happen inmitten seiner Rasselbande und kletterte daraufhin von Neuem auf seinen Tisch, auf dem er oft bis elf oder Mitternacht saß und arbeitete.
»Ich werd ein bissel an die frische Luft gehen.«
Er hatte große Angst, Monsieur Labbé zu verpassen. Der hatte das begriffen. So war es zwar nicht schon seit der ersten ermordeten alten Frau, aber seit der dritten, also seit die Stadt ernstlich durchzudrehen begann.
Die Rue du Minage war zu dieser Stunde fast immer menschenleer, zumal wenn es so in Strömen regnete. Ja sie war sogar noch leerer, seit es jede Menge Leute vermieden, nach Einbruch der Dunkelheit noch aus dem Haus zu gehen. Die Geschäftsleute, die als Erste unter der Panik zu leiden gehabt hatten, waren auch die Ersten gewesen, die Patrouillen organisierten. War es diesen jedoch gelungen, Madame Geoffroy-Lamberts Tod zu verhindern oder den von Madame Léonide Proux, der Hebamme aus Fétilly?
Der kleine Schneider hatte Angst, Monsieur Labbé aber bereitete es