Herbarium, giftgrün. Gert Ueding
Читать онлайн книгу.Vaters, der hinzusetzte: »Ungerecht bleibt es aber für die, die sich gestellt haben.«
»Die bessere Note zählt, wenn man ein zweites Mal teilnimmt«, wurde er belehrt.
Solche Momentaufnahmen interessierten Kersting, weil sich der Studienbetrieb seit seiner Zeit doch stark verändert hatte. Man sammelte jetzt sogenannte Credit-Points statt der Scheine, wie er sie noch in seinem Studienbuch abgeheftet hatte, stolz über die Unterschriften seiner renommierten Lehrer. Statt der Referate gab es jetzt Power-Point-Präsentationen, mit animierten Graphiken und Illustrationen, die manchmal passten, aber meist nicht. Die Substanz dünn, das Design dafür glänzend, Argumente ersparte man sich. Oftmals wiederholte der Vortrag bloß den an die Wand projizierten Text, und zwar Wort für Wort. Sogar die Schlussformel mit dem obligatorischen »Danke für die Aufmerksamkeit« leuchtete von der Projektionswand und wurde getreulich ebenfalls nachgebetet. Selbst in öffentlichen Vorträgen fand sich die Leerformel. Als Kersting einmal den Redner fragte, wieso er schon beim Formulieren und Einrichten seines Vortrages wissen konnte, »ob wir später wirklich aufmerksam folgten«, erntete er bloß Unverständnis. Die Leerformel war das Signum der Zeit, und sie beherrschte Podium und Katheder ebenso wie die Rednertribünen der Politik.
Er hatte sich auch beim Espresso Zeit gelassen, konnte nun langsam die Wilhelmstraße Richtung Bahnhof hinunter gehen und im Café »Ludwigs« auf Jana Olivier warten.
Ihren Anblick, als sie auf den Tisch zukam, an dem er saß, würde er nicht vergessen. Es war ihm wie nach einem neuen Filmschnitt, plötzlich klärte der Raum sich auf und wich mit Gästen und Personal zugleich in den Hintergrund, um ihr Platz zu machen. Alles an ihr war hell und strahlte aus, dabei trug sie dunkle Jeans wie am Vormittag; weißes Tshirt und blaue Weste waren darauf abgestimmt, der Eindruck von Licht und Leichtigkeit nahm mit jedem Schritt zu. Kersting war wie geblendet und sah doch alles an ihr überscharf, die sanften Augenbrauen, die klare Stirn und, als sie näher kam, den schmalen braunen Ring um die blaugraue Iris ihrer großen Augen. Sie ging mit entschlossenem Schritt, sobald sie ihn entdeckt hatte, machte aber einen gelassenen Eindruck und als sie ihn anlächelte, war nichts Künstliches oder Konventionelles darin.
Sie musste seinen Augen, seiner Miene angesehen haben, wie hingerissen er war, denn ihr freundliches Lächeln vertiefte sich.
»Wunder … Wunderbar! Ich meine … dass Sie Zeit für mich haben«, fasste er sich gerade noch rechtzeitig im Aufstehen, rückte ihr den Stuhl zurecht und kam sich im selben Moment furchtbar altmodisch und steif vor.
»Wie war der Ausritt?«
»Es gab keinen Ausritt. Wir blieben in der Halle, wie leider meist, trotz des immer noch so schönen und warmen Wetters.«
Verlegenes Schweigen, das durch die Kellnerin zum Glück unterbrochen wurde. Das Gespräch kam allmählich in Gang. Landete schnell bei Verena Roeder. Dass die zwei befreundet gewesen waren, wusste Kersting bereits.
»Aber nicht sehr eng«, erfuhr er nun. Ja, sie habe sich seit einem Jahr vor ihrem Tode sogar noch weiter von allen anderen entfernt.
»Gab es einen persönlichen Anlass, ein Zerwürfnis vielleicht?«
»Mir ist nichts davon bewusst, höchstens der Zeitpunkt ihrer Veränderung könnte ein Hinweis sein. Sie war gerade aus ihren Ferien in der Provence zurück. Verena war mit einer Freundin gefahren, die tödlich verunglückte – beim Photographieren. In Bonnieux. Frau Decker war auf eine hohe Mauer gestiegen, hinter ihr ging’s 20 Meter in die Tiefe. Sie wollte dort oben photographiert werden, machte einen Fehltritt zurück und stürzte ab.«
»Solche Erlebnisse können Menschen verändern!«
»Ich weiß schon. Aber die Veränderung war irgendwie merkwürdig. Extreme Stimmungsschwankungen. Mal hochgestimmt und für jeden Scherz dankbar, dann wieder deprimiert. Reden wollte sie gar nicht über das schlimme Ereignis. Mit einer Ausnahme. Sie hatte immer wieder denselben Traum. Ein Krankenwagen, der nur im Schritttempo fahren konnte und immer zu spät kam, um noch helfen zu können. Sie war anscheinend recht ruppig von der Polizei verhört worden. Auch dem Ehemann hier in Tübingen gegenüberzutreten, war sicher nicht leicht. Dass sie das belastete, reimte ich mir aus einigen Bemerkungen zusammen. Sie verschloss sich.«
»Wer ist der Ehemann? Ich kenne einen Dr. Decker aus den Verhandlungen mit der Universität über den Ankauf meines Bildes: der Unikanzler heißt so …«
»Ja, das war seine Frau. Sie und Verena waren Freundinnen.«
»Trotz des sicher großen Altersunterschieds?«
»Ja, sicher zehn Jahre oder sogar mehr. Ihre Eltern kannten wohl die Deckers. Waren, glaube ich, entfernt verwandt.«
»Was ihr die Last nicht leichter gemacht haben wird. Von einem Freund wissen Sie nichts? Ich meine, der ihr vielleicht hätte beistehen können?«
»Sie hatte wohl zuletzt keinen. Aber unser Verhältnis war auch nicht mehr so, dass sie mir gleich erzählt hätte, wenn da ein neuer Mann aufgetaucht wäre.«
Gab es noch mehr zu fragen? Kersting hatte gehofft, dass Verena die Freundin ins Vertrauen gezogen hatte. Auch war sein Interesse für Verena abgekühlt, seit er auf Jana gestoßen war. Viel lieber hätte er ihr andere Fragen gestellt: welche Filme sie am liebsten sah, ob sie gerne las, was ihr wichtig war im Studium und wie weit fortgeschritten sie darin war, – und vor allem: ob es einen Freund gab. Er hatte das schöne Mädchen angesehen, so oft ihm das, ohne aufdringlich zu wirken, möglich war, und nur selten einmal den Blick schweifen lassen. Jetzt schaute er auf, als der Kaffee gebracht wurde und nahm erstmals seit dem Beginn ihrer Unterhaltung die Umgebung wieder wahr.
An den Tischen saßen meist Studenten. Redeten über ihre Professoren, sicher auch über Prüfungstermine oder was sie mal vorhatten im wirklichen Leben, jenseits der Schonfrist, die ihnen noch gestundet war. Nur wenige Schritte entfernt saß ein Pärchen, die beiden redeten leise aufeinander ein. Sie, eine Brünette mit kurzen Haaren, schirmte ihren Mund sogar mit der Hand ab, beugte sich weit zu ihrem Partner hinüber, einem lang aufgeschossenen jungen Mann, der sich schlecht hielt. Am Tisch unmittelbar neben ihnen zwei Männer um Ende fünfzig, doch leger in Jeans und Weste gekleidet, die sich lebhaft über ein geplantes Symposium unterhielten: »Aber Peter, das schaffen wir nicht«, zweifelte zögernd der eine.
»Aber sicher, da mach dir keine Sorgen, das krieg ich hin«, war die Antwort des anderen. »Du weißt doch, meine Beziehungen zum Universitätsbund …«
Sonst hätten Kersting solche Momente interessiert, er hätte sie in sein imaginäres Bildtagebuch aufgenommen, vielleicht schnell eine Karikatur auf einem Blatt Papier umrissen. Jetzt war seine Aufmerksamkeit sofort wieder bei Jana.
»Können Sie sich noch daran erinnern, ob Verena von ihrer Schule gesprochen hat?«
»Selten, und wenn, dann von einer Englischlehrerin, der sie viel zu verdanken hatte.«
»Von Schulfreundinnen?«
»Nicht viel. Mit den meisten hatte sie den Kontakt verloren.«
»Fielen irgendwelche Namen?«
»Das kann schon sein, aber behalten habe ich keine.«
»Neigte Verena denn insgesamt zur Heimlichtuerei? Dieser merkwürdige Zettel aus ihren Seminar-Papieren: irgend etwas muss er zu bedeuten haben.«
»Ganz bestimmt. Sie hatte ein Faible für geheimnisvolle Dinge, seit sie als Kind einmal von einem Blitz gestreift wurde.«
»Gestreift? Und hat dann doch überlebt?«
»Sie hat es so genannt. Auf einem Sportplatz, bei einem Gewitter, das sie überrascht hatte. Sie war nicht schnell genug in den Umkleideräumen verschwunden wie ihre Mitschüler, ihr war die Sportuhr vom Arm gerutscht, beim Suchen passierte es. Ein Blitz schlug neben ihr in eine Abzäunung und eine gleißend-helle und heiße Wand blendete sie. Bevor sie das Bewusstsein verlor, sah sie, wie darin sich ein Tor auftat und eine Hand sie heranwinkte. Sie erwachte im Krankenhaus, konnte zuerst weder sehen noch hören, das ging aber nach einiger Zeit vorüber.«
»Eine erstaunliche Geschichte.«