Faulfleisch. Vincent Voss
Читать онлайн книгу.hier gibt. Erstaunlich.« Liam zeigte sich ernsthaft interessiert. In diesem Moment war er es auch. Wahrscheinlich führte dieser Umstand zu einem Brechen des Eises, wie man sagt, denn Frau Schäfer entspannte sich und lächelte.
»Hundertdreiundsechzig«, sagte sie und nickte stolz und anerkennend zugleich. Liam verstand nicht. »Es gibt hier in diesem Moor«, sie deutete um sich herum, »… hundertdreiundsechzig Vogelarten. Und seit vier Jahren lassen sich hier Kraniche nieder.« Ihre Augen strahlten euphorisch unter der Kapuze und Liam hätte sie niemals für eine Lehrerin gehalten, die sich über den ständigen Stress in der Schule beklagte und vor allem über unmotivierte Schüler. Aber Ornithologie war ihr Hobby und kein Unterrichtsfach und wahrscheinlich unterrichtete sie in ihren Fächern, weniger begeisternd. Liam ließ sich von ihrer Begeisterung anstecken.
»Hundertdreiundsechzig!«, er pfiff als Zeichen des Respekts. »Ich hätte Schwierigkeiten, sie alle auseinander zu halten. Na ja, ich hätte wahrscheinlich schon Schwierigkeiten überhaupt ein paar zu erkennen«, gestand er. »Kann man denn jetzt welche beobachten?«
»Klar.« Sie drehte sich zum Horizont. »Dort hinten im Schilf«, sie deutete auf einen entfernten Schilfgürtel, »sind mehrere große Brachvögel.« Umgehend fixierte sie die erwähnte Stelle mit ihrem Fernglas und justierte mit dem rechten Mittelfinger ein kleines Rädchen.
»Ja …«, murmelte sie, »ja, da ward ihr doch eben.« Sie schwenkte nach links, dann wieder nach rechts. »Ah ja. Da sind sie. Wenn der Frühling kommt, kann man sie hier sehr gut hören«, erklärte sie ihm und konzentrierte sich dabei.
»Nehmen Sie mal«, sagte sie, drehte ihr Gesicht zu ihm und hielt das Fernglas unverändert in die Richtung.
»Na los, schauen Sie mal.« Liam zuckte kurz mit der Schulter und nahm die Einladung an. Behutsam nahm er ihr das Fernglas ab und brachte es auf seine Augenhöhe. Er sah unscharf, doch bevor er etwas sagen konnte, forderte sie ihn auf, die Einstellung zu verstellen. Das Bild wurde schärfer und er konnte drei beigebraune Vogelköpfe mit langen gekrümmten Schnäbeln zwischen den dichten Halmen ausmachen. Sehr groß, sehr nah. Die Vögel guckten dümmlich, so, als wäre ihnen gewahr geworden, dass sie beim Kacken beobachtet wurden und Liam kam sich voyeuristisch vor. Andererseits belustigte ihn die Vorstellung.
»Ich hab’ sie. Sie sehen irgendwie lustig aus. Großer Brachvogel, ja?«
»Mmh«, bestätigte sie neben ihm. »Im Frühling ruft er immer ›kuri–wi‹.«
»Ah, das hab ich schon mal gehört«, erinnerte sich Liam an diese Melodie. Er fragte sich, wo das gewesen sein könnte, aber die kackenden, großen Brachvögel interessierten ihn mehr. Sie huschten hysterisch und aufgeregt durch das hohe Gras.
»Toll, wirklich. Vor allem, wie nah man sie damit ran bekommt.« Er drehte sich zu ihr und bemerkte, dass sie die letzte Äußerung verstimmt hatte.
»Ja, es ist schon ein sehr hochwertiges Fernglas. Zeiss Victory 8x56«, antwortete sie sachlich. Liam mutmaßte, sie kannte das von ihren Schülern. Anstatt sich für die Sache an sich zu begeistern, war das Interesse an der technischen Umsetzbarkeit größer.
»Nein, das meine ich nicht«, widersprach Liam. »Ich meine, es wirkt fast so, als würden sie sich beobachtet fühlen. Als würden sie spüren, dass ich hier stehe. Könnte das sein?«
Sie überlegte und jonglierte den Gedanken hin und her. »Ja, ich glaube, ich weiß, was sie meinen. Vögel scheinen über eine Art siebten Sinn zu verfügen. Kurz vor dem Tsunami damals wurde aus ganz vielen Gegenden von ausziehenden Vogelschwärmen berichtet. Ungefähr sechs Stunden vor dem Seebeben sind die küstennahen Arten auf erhabene Gebiete ausgewichen. Stämme, also so einheimische Gruppen, sind ihnen gefolgt und haben den Tsunami so auch überlebt. Von einigen Vögeln spricht der Volksmund sogar, dass sie den nahenden Tod spüren können. Vor allem der Kauz gilt als Totenvogel.«
»O.K«, Liam stellte fest, dass Frau Schäfer nicht nur über akademisches Wissen zu dem Thema verfügte.
»Dort hinten in den Vogelbeeren leben Birkenzeisige«, deutete sie in die andere Richtung und Liam folgte ihrem Finger.
»Nein, eher dort.« Sie korrigierte etwas und Liam sah eine Ansammlung struppigen Dickichts, in dem eine Schar von kleinen, graubraunen Vögeln herumhüpfte. Das voyeuristische Gefühl in ihm nahm ab, vielleicht weil es so viele Zeisige waren. Er fand es spannend, sie so beobachten zu können und schwieg fasziniert. Frau Schäfer genoss, ebenfalls schweigend, diesen Zustand.
Im Hintergrund konnte Liam unscharf eine kleine Straße erkennen. Die beiden Autos, die sich entgegen kamen, hatten Licht an.
Drei Zeisige stritten um etwas. Was es war, konnte Liam nicht erkennen, mal hatte es der eine, dann wieder der andere im Schnabel.
Das dunkle Auto war eckig.
Der eine Zeisig flog mit dem Teil im Schnabel zu einem anderen Gebüsch, die beiden anderen folgten ihm.
Das dunkle Auto war ein Volvo und fuhr zum alten Königshof. Liams Atmung setzte aus und er wechselte unauffällig sein Ziel. Den Fahrer konnte er nicht erkennen, aber es war der Wagen des Gerichtsmediziners. »Toll, oder?«, wollte Frau Schäfer wissen.
»Mmh.« Der Wagen hielt auf dem Hof, dort wo Liam ihn schon einmal hat stehen sehen. Der Gerichtsmediziner stieg aus und lief zur Haustür, schloss diese auf und lief zum Auto zurück. Einer der beiden Hunde schoss durch die Tür und wollte den Arzt springend begrüßen. Er drückte den Hund unwirsch weg. Aus dem Auto holte er einen dunkelgrauen Plastiksack, den er mit Schwung schulterte. Offenbar war der Inhalt schwer, es musste ein reißfester Plastiksack sein. Vielleicht einer, den Gerichtsmediziner in ihrem Berufsalltag benutzten. Der Hund erschnüffelte etwas für ihn Interessantes in dem Sack und scharrte mit einer Pfote. Der Arzt trat kräftig zu und der Hund hielt Abstand. Angestrengt trug er den Sack ins Haus und eilte zurück, um einen weiteren Sack zu holen. Liam wurde angestupst, nicht zum ersten Mal.
»… so Spannendes?«, hörte er das Ende von Frau Schäfers Frage. Seine Verwirrung schüttelte er ab.
»Ähm, dort hinten, der da schleppt so komische Säcke in sein Haus.« Frau Schäfer nickte und nahm ihm sanft das Fernglas aus den Händen.
»Erster ethischer Grundsatz von mir: Ich beobachte Vögel und keine Menschen.«
»Äh ja, es ist nur …«, er schüttelte verzweifelt den Kopf und beließ es bei dieser Reaktion. »Sie haben Recht, wahrscheinlich kann man nur mit dieser Einstellung sinnvoll arbeiten«, nickte er ihr zu.
»Genau so ist es, auch wenn es manchmal schwer fällt, zu widerstehen. Aber anders geht es nicht«, bestätigte sie ihn. Liam hatte den Eindruck, sie würde sich gerne wieder der Sumpfohreule widmen. Er verabschiedete sich und ging den Weg weiter, der seiner Orientierung nach wieder auf den Hauptweg stoßen musste. Den gesamten Rückweg über musste Liam die gesehenen Bilder verarbeiten und er fragte sich, ob der Berufsstand Gerichtsmediziner im allgemeinen Arbeit mit nach Hause nahm.
Tod reimt sich auf Abendbrot
Sandra war nur flüchtig da. Er konnte kurz mit Lina schmusen und merkte an ihrem Verhalten, dass sie sich entfremdeten. Sandra war ihm auch fremd vorgekommen. Derzeit konnte er an dem Zustand nichts ändern. Jack freute sich auf ihn. Jack und er spielten mit Playmobil ein Ritter-Wikinger-Cowboy-Szenario nach. Jacks Freude an der Aufbauphase hatte nachgelassen, er wollte frei spielen, wobei das freie Spielen aus erbitterten Kämpfen unter den Figuren bestand. Jack hatte wie immer drei Lieblingsfiguren, die allen anderen an Kampfgeschick überlegen waren. Und sie konnten zaubern. Jacks Kreativität beindruckte ihn. Jack ließ sich aus dem Stegreif einen Zauber einfallen, womit seine Figuren wie Licht fliegen konnten. Liam fragte sich, welche Vorlagen Jack für solche Ideen hatte, oder ob er sich das frei erdachte.
Später saßen sie im Pyjama am Küchentisch und aßen Abendbrot. Liam hatte großen Hunger, vor ihm standen zwei Scheiben Vollkornbrot, eine mit Käse und Tomaten, die andere mit Kassler und Senf belegt. Jack hatte in seiner »Winnie Puuh«Schüssel Honeyballs und das Essen war für ihn nebensächlich.