Misstrauen. Florian Mühlfried

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Misstrauen - Florian Mühlfried


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      Diese Bemerkungen sind jedoch weitgehend folgenlos geblieben; Misstrauen konnte sich weder als Mittel der Wissensgewinnung noch als vollwertiger Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung durchsetzen. Die mangelnde Reflexion von sozialen Praktiken, die wir mit Misstrauen assoziieren, reduziert Misstrauen auf das Gegenteil von Vertrauen, auf das, was ist, wo kein Vertrauen herrscht – also auf Abwesenheit von etwas und deshalb als Problem.

      Als Abwesenheit wird Misstrauen dort lokalisiert, wo Attribute von Vertrauen fehlen. Einen Grund hierfür bietet die Bedeutung des Wortes selbst. Die Vorsilbe »miss« bringt, ähnlich wie das englische »mis« in »mistrust« oder »dis« in »distrust« einen Kontrast, einen Gegensatz, einen Mangel zum Ausdruck. Das Fehlen von Vertrauen führt aber eher zu Angst oder Indifferenz und damit zu passiven Haltungen, die nicht mit Misstrauen zu verwechseln sind. Misstrauen hingegen ist eine Haltung des Engagements, die ihren Ausdruck in »defensiven Vorkehrungen« (Luhmann) findet. Im Gegensatz zu Vertrauen wird nicht mit einem glücklichen Ausgang gerechnet, sondern das Scheitern ins Kalkül gezogen. Um die Folgen eines möglichen Scheiterns abzumildern, werden alternative Handlungsoptionen in Stellung gebracht und Vorkehrungen für den Ernstfall getroffen. Misstrauen verhindert Handlungen also nicht, sondern ist Arbeit. Das Verständnis von Misstrauen als Abwesenheit ist mithin ein Missverständnis.

      Verständlich wird dieses Missverständnis nur dann, wenn es in seiner negativen Setzung als Problem gesehen wird. Im Gegensatz zu dem eng verwandten Zweifel, der von dem Philosophen René Descartes (1596–1650) als höchster Wert bei der systematischen Gewinnung wahrer Erkenntnisse angesehen wurde, wird Misstrauen kein erkenntnisfördernder, kein heuristischer Wert zugesprochen (mit Ausnahme von Nietzsche). In therapeutischen Mediationen wird daran gearbeitet, Misstrauen zu überwinden, um Kooperation und Zusammenhalt bzw. Kohäsion zu ermöglichen. »Wo Es war, soll Ich werden«, heißt es in der Psychoanalyse, hier könnte es dementsprechend heißen: »Wo Misstrauen war, soll Vertrauen werden.« Im Wirtschaftsleben gilt das Misstrauen der Belegschaft als ernsthafte Funktionsstörung. Etliche Ratgeber zeigen den Weg zum »Vertrauen als Schlüssel zum Führungserfolg«.

      Nicht nur für den Politikwissenschaftler Fukuyama, auch für Soziologen wie Piotr Sztompka (* 1944) und Barbara Misztal (* 1951) stellt ein »tiefsitzendes Syndrom des Misstrauens« das zentrale Hindernis für den Übergang von Gesellschaften zur Demokratie dar. Um dennoch eine politische Transformation zum Besseren zu ermöglichen, sind vertrauensbildende Maßnahmen notwendig. Besonders in anwendungsbezogenen Kontexten wird Misstrauen als Indikator für ein substantielles Problem operationalisiert. Einmal erkannt, werden so schnell wie möglich Mechanismen zu dessen Überwindung in Gang gesetzt. Bleiben diese (oder deren Erfolg) aus, kann Misstrauen systemisch und zur prägenden Eigenschaft einer Person oder Gruppe werden.

      Misstrauen als das Verhalten grundsätzlich prägende, als habituelle Eigenschaft zu unterstellen, bedeutet also zugleich, die betreffende Person oder Gruppe problematisch erscheinen zu lassen. Die Unterstellung von Misstrauen dient damit zur Abgrenzung und ist Teil einer Problematisierungsstrategie. Wem unterstellt wird, misstrauisch zu sein, dem muss geholfen werden – oder dem ist nicht mehr zu helfen.

      Umwertung

      Die diskursive Rahmung von Misstrauen als Abwesenheit und Problem sowie dessen Instrumentalisierung in einer Problematisierungsstrategie dominieren das allgemeine Verständnis des Phänomens auf eine Art und Weise, die wenig andere Deutungen zulässt. Im Dunkeln bleibt allerdings, wie Misstrauen in der Praxis aussieht. Um diese Praxis soll es in diesem Buch gehen. Um sie erfassen und beschreiben zu können, bedarf es zunächst einer Umwertung des Wertes. Anstatt Misstrauen als Problem zu brandmarken, soll es hier als Potential und als Grundlage für Engagement verstanden werden. Denn Misstrauen löst Handlungen aus, führt keineswegs in Lähmung und lethargische Verzweiflung. Solche Handlungen können ganz unterschiedlich aussehen. Sie können nach innen bzw. zentripetal in die Gesellschaft hineinwirken oder nach außen bzw. zentrifugal darauf ausgerichtet sein, aus ihr auszusteigen. Sie können offensichtlich sein oder im Verborgenen wirken.

      Misstrauensinduzierte Handlungen sind also nicht durchweg negativ – auch wenn dies landläufig so gesehen wird. Tatsächlich spielt Misstrauen eine konstruktive Rolle in der politischen Kultur westlich geprägter Staaten. Besonders die US-amerikanische Verfassung ist stark von Misstrauen gegen die Tendenz des Staates geprägt, sich in alle menschlichen Lebensbereiche einzumischen, und schränkt die Befugnisse des Staates entsprechend ein. Auch Gewaltenteilung, Pressefreiheit und zivilgesellschaftliche checks and balances (›Überprüfung und Ausgleich‹) dienen dazu, den Staat misstrauisch zu beäugen. Misstrauen schließt also zivilgesellschaftliches Engagement nicht aus, sondern geht diesem meist voraus. Nicht nur ohne Vertrauen, auch ohne Misstrauen kann Demokratie nicht bestehen.

      Spektrum

      Die Praxis des Misstrauens ist also wesentlich vielfältiger, als dessen problematisierendes Verständnis dies anzunehmen erlaubt. Um das gesamte Spektrum des Misstrauens erfassen zu können, sollen deshalb im Folgenden einige Eckpunkte gesetzt werden. Solche Eckpunkte bestehen in dem nach außen wirkenden (zentrifugalen) und nach innen wirkenden (zentripetalen) Potential des Misstrauens. Zentripetales Misstrauen zeigt sich in gesellschaftlichem Engagement zur Kontrolle staatlicher oder wirtschaftlicher Tätigkeiten, etwa durch Vereinigungen wie den Bund der Steuerzahler oder Greenpeace. Zentrifugales Misstrauen hingegen will die Gesellschaft nicht verbessern, sondern sich von dieser lösen. Beispiele dafür sind dschihadistische und andere sektiererische Gruppierungen, die die Alltagswelt als grundsätzlich vertrauensunwürdig betrachten und auf eine vollständige Vertrauensverlagerung in die eigenen Netzwerke drängen.

      Diese beiden Extremformen von Misstrauen begrenzen die Skala des Misstrauens auf folgende Weise:

      Die allermeisten Formen von Misstrauen liegen zwischen diesen beiden Extrem- bzw. Eckpunkten, zielen also weder auf eine Verbesserung des Systems (zentripetal) noch auf dessen vollständige Abschaffung (zentrifugal) ab. Sie beruhen auf der Anerkennung eines Systems, das als unüberwindbar, zugleich aber als nicht vollständig vertrauenswürdig wahrgenommen wird. Vorwiegend äußert sich Misstrauen hier in dem Versuch, mit dieser Konstellation ein Auskommen zu finden.

      Eine weitere Möglichkeit, Misstrauen zu skalieren, besteht darin, offene und verdeckte Formen von Misstrauensäußerungen zu unterscheiden. Im Alltagsleben manifestiert sich Misstrauen ganz überwiegend verdeckt, da es tabuisiert wird: Misstrauen zu zeigen macht angreifbar; es gilt als destruktiv, als Zeichen eines falschen Bewusstseins. Allerdings steht das offene Zeigen von Misstrauen mit dessen beiden Extremen in Beziehung: Es ist sowohl dort offensichtlich, wo es als zivilgesellschaftliches Anliegen demonstrativ zur Schau gestellt wird, als auch in der radikalen Ablehnung der misstrauten Welt am anderen Ende der Skala.

      Durch die negative Bewertung bzw. die Stigmatisierung von Misstrauen äußert es sich meist verdeckt. Aus diesem Grunde sind viele Formen von Misstrauen – besonders die alltäglichen – zwischen diesen beiden Polen zu verorten.

      Innerhalb des Spektrums des verdeckten Misstrauens können ein aktiver, ein passiver und ein neutraler Modus voneinander unterschieden werden. Im aktiven Modus erscheint Misstrauen in der Figur der Verdoppelung. Während auf der Ebene der Oberfläche Vertrauenswürdigkeit suggeriert wird, wird Misstrauen auf einer verborgenen Ebene Raum zu ungehinderter Entfaltung gegeben. Dazu kann sich der Misstrauische bestimmter Konventionen bedienen, die es ihm erlauben, seine Gedanken und Gefühle von seinen Worten und Gesten zu entkoppeln.

      Sowohl die Trennung der Ebenen als auch die Investition in das Verbergen von Misstrauen erfordert Anstrengung. Deshalb ist Misstrauen, wie auch von den Anhängern der Theorie der rationalen Entscheidung (aber aus anderen Gründen) behauptet, kostenintensiver als Vertrauen. Für manche gehören diese Anstrengungen zum Beruf. Ein Diplomat beispielsweise muss sich in der Fähigkeit schulen, mit doppelter Zunge zu sprechen und hinter


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