Luise und Leopold. Michael van Orsouw
Читать онлайн книгу.dieser Zeit für den vermögenden Wiener Physiologen und Naturforscher Prof. Theodor Beer die Villa Karma («La Maladaire») in Clarens bei Montreux plant und baut. In Forschung und Literatur hat bisher keine Beachtung gefunden, dass Loos und Beer Kindern sexuell zugetan waren. Beer wurde zwar vom Vorwurf der Schändung freigesprochen, aber 1905 wegen Homophilie verurteilt; Loos wurde der «Verführung zur Unzucht» schuldig gesprochen, nachdem er sich mit Mädchen unsittlich vergnügt hatte.
So wie Loos und Beer mit ihrer Sexualität und in ihren Berufen nicht stromlinienförmig durchs Leben gehen, suchen auch Leopold und Wilhelmine ihren eigenen Weg. Sie befassen sich mit den neuen Möglichkeiten und ihrer offenen Zukunft.
Dagegen fühlt sich Luise seit der Abreise ihres Bruders und seiner Geliebten in Genf einsam und etwas allein gelassen, trotz der Anwesenheit Girons. Luise und ihr André räumen eines der vier Hotelzimmer und wohnen nun in drei Räumen; sie vermisst den Luxus einer Kronprinzessin am königlichen Hofe und hat Sehnsucht nach ihren fünf Kindern, zudem macht sich das sechste Kind in ihrem Bauch immer mehr bemerkbar.
Das «Continental» in Montreux: Hier kommt Leopold mit Wilhelmine unter.
Deshalb tut es ihr gut, dass sie zwei Mal Besuch bekommt: Am 28. Dezember reist die ehemalige Kammerdienerin Hanny Grissmann aus Freiburg im Breisgau an; die befreundete Frau hat derart Mitleid mit Luise, dass sie ihr Geld und Hilfe anbietet – die Kammerfrau will ihrer ehemaligen Dame helfen; so sehr haben die letzten Ereignisse die Verhältnisse auf den Kopf gestellt. An Silvester bekommt Luise Besuch von einer «Frau Müller», die in Wahrheit ihre Freundin Anna Bamberger ist, eine Pianistin aus Mainz. Doch auch diese Zerstreuung vermag Luises traurige Stimmung nur wenig aufzuhellen, sie fühlt sich gemäss eigenem Bekunden «elend und traurig».
In der Zwischenzeit haben ihre Rechtsanwälte weiterverhandelt. Sie haben erwirkt, dass sie jährlich eine Rente von 30 000 Mark erhält. Luise freut sich über die ansehnliche Summe. Etwas vorschnell anerkennt sie deshalb am 9. Januar 1903 die Klage ihres Ehegatten Friedrich August: Mit ihrer Unterschrift beeidet sie schriftlich, «daher hiermit dem Stande, dem Titel und dem Wappen einer Kronprinzessin von Sachsen» zu entsagen; zudem verzichtet sie auf weitere Ansprüche finanzieller Art, beispielsweise auch auf die in die Ehe eingebrachten Güter, also ihre Mitgift. Als Zeugen des verhängnisvollen Zugeständnisses fungieren um 14.35 Uhr der Besitzer des Hotel d’Angleterre, August Reichert, sowie Kriminalinspektor Arthur Schwarz, der sie in den letzten Wochen auf Schritt und Tritt begleitet hat. Was genau diese eidesstattliche Erklärung bedeutet, zum Beispiel in Bezug auf das Sorgerecht für ihre Kinder, ahnt sie nicht – oder sie verdrängt es. Später wird sie es bereuen.
Der Chemnitzer Zeitung legt sie die Beweggründe für ihre Unterschrift dar: «Was ich getan habe, das musste ich tun!» Sie meint damit den Ehebruch und fährt weiter: «Ich weiss, dass ich den Sachsen eine herbe Enttäuschung bereitet habe. Ich weiss, dass mich das Volk dort, wie ich bin, geliebt hätte. Ich weiss, dass ich viel Gutes hätte stiften können, und die Sachsen wissen auch, was sie von mir als Königin zu erwarten hatten. Aber es sollte nicht sein! […] Ich will nichts als meine Liebe leben und mein Glück in aller Stille, in aller Verborgenheit und in aller Einfachheit geniessen.»
Luise agiert geschickt: Mit solchen Aussagen nimmt sie sich zurück und schmeichelt der sächsischen Bevölkerung, bei der sie nach wie vor beliebt ist. Dagegen hat es ihr Schwiegervater, König Georg, in der Öffentlichkeit schwer: Er sitzt erst seit dem 19. Juni 1902 auf dem Thron, den er von seinem verstorbenen und beliebten Bruder Albert übernommen hat. In Dresden hatte man damals erwartet, dass der 70-jährige Georg zugunsten seines Sohnes Friedrich August auf den Thron verzichten würde, so wie es frühere Könige Sachsens auch schon getan hatten. Doch Georg hat auf der Thronbesteigung beharrt und gilt in der Folge als sehr unpopulär; bei seinen Auftritten wirkt er militärisch steif und schroff, er bietet keine Visionen ausser strenge Kirchenregeln. Er selbst sagt zu seiner Regierungszeit, dass er «zu spät» an die Macht gekommen sei. Luise mochte ihren Schwiegervater nie, sie nennt ihn in ihren Memoiren «intolerant wie bigott, geistig beschränkt und engherzig».
Seine Intoleranz stellt König Georg von Sachsen unter Beweis, als er sich weiterhin daran ergötzt, sich an der gefallenen Schwiegertochter zu rächen. Am 13. Januar 1903 verfügt er ganz offiziell den Ausschluss Luises aus dem sächsischen Königshaus. Sie darf sich fortan nicht mehr Kronprinzessin von Sachsen nennen. Sie ist also auf ihren Titel zurückgeworfen, den sie seit ihrer Geburt trägt: Erzherzogin von Österreich-Toskana.
Eine Adlige ohne Namen
Auch Kaiser Franz Joseph ist seit dem gescheiterten Vermittlungsversuch im Dezember mehr als nur verärgert; er will unter allen Umständen verhindern, dass seine Skandalverwandte wieder vermehrt mit dem Kaiserhaus in Verbindung gebracht wird. Er weist seinen Aussenminister, Agenor Graf Goluchowski, an, Luise das Führen von Habsburger Ehrentiteln zu verbieten und sie per sofort aus dem genealogischen Verzeichnis der Kaiserdynastie zu streichen; dieser Graf, des Kaisers Mann fürs Grobe, hatte zuvor schon Leopold eine schroffe Abfuhr erteilt.
Franz Josephs Wut auf Luise muss wirklich gross sein, denn ihr Ausschluss aus dem Hause Habsburg ist der erste in der jahrhundertelangen Geschichte. Noch nie wurde ein Mitglied des österreichischen Kaiserhauses einseitig ausgeschlossen. Die Wiener Montags-Post nennt es «die schärfste Strafe», die der Kaiser verhängen könne. Der Graf überbringt die schlechte Nachricht. Luise verliert damit ihren Familiennamen. Und alle ihre Titel. Sie ist keine Kronprinzessin von Sachsen mehr. Und auch keine Erzherzogin von Österreich.
Sie hat ihren Mädchennamen eingebüsst.
Und den Familiennamen.
Sie heisst einfach nur noch «Luise».
Die Zürcherische Freitagszeitung bringt es auf den Punkt: «Sie ist nichts mehr, nichts als ein armes, flüchtiges Weib.»
Nach diesem Rummel und der folgenreichen Abnabelung lechzt Luise nach einer Veränderung. Sie entscheidet sich, mit ihrem Geliebten André Giron die Stadt Genf heimlich zu verlassen. Luise und Giron packen am Samstag, den 18. Januar, ihre Koffer, die ein Genfer Camionneur im Morgengrauen abholt und der gleichzeitig die Fahrkarten für die Eisenbahn besorgt hat. Denn Luise und André wollen ohne Aufsehen nach Menton reisen, in diesen Kurort an der Côte d’Azur, der wie Montreux zu dieser Zeit bei der Hautevolee ganz Europas besonders beliebt ist. Sie flüchten, wie Zeitungen zu Recht titeln, bereits das zweite Mal in fünf Wochen.
Um unbemerkt den Reportern zu entkommen, verlassen Luise und Giron das Hotel d’Angleterre am Morgen um 6.55 Uhr durch eine Hintertür, nachdem sie mehr als einen Monat dort gewohnt haben. Zuvor hat Luise dem Hoteldirektor August Reichert zum Abschied eine prachtvolle Krawattennadel geschenkt, besetzt mit Perlen und Diamanten; der Maître d’Hôtel hat einen prächtigen Goldstift erhalten und das Personal grosszügiges Trinkgeld.
Auf Umwegen gehen Luise und ihr Geliebter zu Fuss zum Bahnhof und besteigen dort die Eisenbahn, die um 7.40 Uhr in Richtung Lyon losdampft. Damit sensationslüsterne Leute nichts mitkriegen, ziehen die beiden Reisenden sofort die Vorhänge ihres Coupéfensters.
Doch die Mühe ist vergebens, denn auf den Zugperrons in Genf, Lyon, Marseille und schliesslich in Menton stehen die Reporter bereits bereit, um die letzten Neuigkeiten über das Skandalpaar aufzuschnappen. Etwas enttäuscht kann der Reporter aus Lyon lediglich berichten, dass der Zug pünktlich um zehn Uhr eingetroffen sei: «Einige Agenten der Lyoner Sicherheitspolizei überwachten den Bahnhof. Das Publikum wurde indessen durch nichts aufmerksam auf die Persönlichkeiten der Reisenden gemacht.»
Das illustre Paar bleibt im Schlafwagen, den die Bahnleute in Lyon und Marseille umkoppeln. Am nächsten Morgen, um elf Uhr, treffen Luise und André in Menton ein und beziehen ein Zimmer im Hotel des Anglais. Mitgekommen ist auch die 26-jährige Luise Meyer, ein Kammermädchen aus dem Kanton Bern, das zuvor im Hotel d’Angleterre gearbeitet hat. Luise und Giron wollen bis Ende Februar bleiben.
Die welsche Zeitung La Liberté spricht von Luise und ihrem Geliebten als «Faulenzern»: «Wir können uns nur gratulieren, dass unser Land nicht mehr Schauplatz ihres Skandals